Der einzigartige Blick in das Stromnetz

06.12.2022
4/2022

Strommangellage, Blackout – was erwartet uns diesen Winter? Petr Korba und sein Team simulieren das europäische Energienetz in Echtzeit und identifizieren Szenarien von Störungen oder Blackouts, die in Zukunft eintreten könnten.

«Niemand kann vorhersagen, was diesen Winter passieren wird», so Petr Korba. Der Dozent und Leiter der Forschungsgruppe Elektrische Energiesysteme und Smart-Grids bringt es auf den Punkt: «Der Grund für die Strommangellage ist einfach. Wir haben schneller konventionelle Kraftwerke abgeschaltet, als wir neue zugebaut haben.» Die Strommangellage führe nicht direkt zu vermehrten Blackouts. Doch Korba kann sich gut vorstellen, dass es diesen Winter zeitweise Gebiete ohne Strom geben könnte: «Wenn zu wenig Strom vorhanden ist, müssen Gebiete vom Netz getrennt werden. Dies ist kein Blackout, sondern eine Massnahme, um ein Blackout zu verhindern.»

Das Gleichgewicht im Stromnetz

Wenn Fachleute von einem Blackout sprechen, ist ein grossflächiger Stromausfall und Zusammenbruch des Stromnetzes gemeint. Auslöser ist oft ein einziger Fehler, gefolgt von weiteren Problemen, die zu einem Dominoeffekt führen. Ursache ist typischerweise ein Ungleichgewicht zwischen Produktion und Verbrauch.

Was alles passieren kann, zeigte sich zum Beispiel am 8. Januar 2021: In Kroatien fiel ein Unterwerk aus, über das ganz untypischerweise viel Strom von Südost- nach Westeuropa floss. Der Strom suchte sich in der Folge Wege über andere Leitungen, die eine nach der anderen überlastet wurden – ein Dominoeffekt, in dessen Folge zahlreiche Leitungen abgeschaltet wurden. Dies spaltete das europäische Energiesystem in Teile, in denen es logischerweise zum Ungleichgewicht zwischen Verbrauch und Produktion kam. Um das System vor einem Blackout zu schützen, mussten in einem Teil Verbraucher schnell vom Netz getrennt werden, während im anderen die Stromproduktion gedrosselt wurde.

«Wenn die Schutztechnik versagt, kann ein Dominoeffekt in Gang kommen, der im schlimmsten Fall zum Blackout führt.»

Petr Korba, Leiter der Forschungsgruppe Elektrische Energiesysteme und Smart-Grids

Ob sich Produktion und Verbrauch die Waage halten, wird deshalb laufend überwacht. Dazu wird im Stromnetz die Netzfrequenz gemessen. Kleinere Abweichungen werden ausgeregelt, indem die Leistung einzelner Kraftwerke erhöht oder gedrosselt wird. Bei grösserem Anstieg oder Abfall der Netzfrequenz schaltet die Schutztechnik ganze Bereiche des Stromnetzes kompromisslos und schnell ab. So wird verhindert, dass das Gesamtsystem in einem Blackout kollabiert.

Die Dynamik der erneuerbaren Stromerzeugung

Mit dem steigenden Anteil erneuerbarer Energien wird es immer schwieriger, das Gleichgewicht zwischen Produktion und Verbrauch zu halten. Grund ist nicht nur die fluktuierende Stromproduktion bei Sonne- oder Windkraftwerken, sondern auch deren dynamisches Verhalten: Fällt ein konventionelles Kraftwerk aus, dauert es einige Sekunden, bis die schwere rotierende Masse des grossen Generators sich verlangsamt. Das heisst, die Netzfrequenz fällt erst nach einigen Sekunden ab. Dies ist für den Betrieb ein entscheidender Vorteil, denn dies wirkt sich stabilisierend auf das ganze System aus.

Fallen hingegen auf einen Schlag mehrere Solarkraftwerke aus, kann die Situation augenblicklich kritisch werden. Diese Kraftwerke sind über Elektronik mit dem Netz verbunden. Diese reagiert unmittelbar, es gibt kaum Verzögerung und die Schutztechnik kann nicht rechtzeitig regeln. Korba erklärt: «Je mehr erneuerbare Energien in das Stromnetz eingebunden sind, umso weniger Zeit haben Schutzgeräte, um richtig zu reagieren, weil alles schneller abläuft. Wenn die Schutztechnik versagt, kann ein Dominoeffekt in Gang kommen, der im schlimmsten Fall zum Blackout führt.» Wie sich die Situation in solchen Fällen entschärfen lässt, untersuchen Korba und sein Team im internationalen Projekt IMPALA (Impact of aggregated electrical assets on the power system). 

«Wir wollen hier neue Regelstrategien entwickeln und Mess- und Steuergeräte testen, bevor sie im realen Stromnetz eingesetzt werden.»

Petr Korba, Leiter der Forschungsgruppe Elektrische Energiesysteme und Smart-Grids

Was es braucht, um solche Dominoeffekte auszulösen und wie sie ablaufen, sind ebenfalls Forschungsfragen, die sich Korba stellt. Dazu hat er mit seinem Team unter anderem im Labor ein elektrisches Energiesystem im Kleinmassstab aufgebaut. Es besteht aus realen Geräten, die in Kraftwerken in Betrieb sind, und integriert alle Komponenten eines realen Systems, von kleinen Synchrongeneratoren konventioneller Kraftwerke über Wechselrichter von Solar- und Windanlagen bis zur Schutztechnik und zum Energiemanagementsystem. Punkto Spannung ist es aus Sicherheitsgründen im Massstab 1:1000 gebaut. «Mit dieser Hardware können wir die Dynamik des Stromnetzes unter realitätsnahen Bedingungen untersuchen. Wir wollen hier neue Regelstrategien entwickeln und Mess- und Steuergeräte testen, bevor sie im realen Stromnetz eingesetzt werden», erklärt Korba. 

Auch im Bereich Monitoring ist das Team um Korba stark: Im Rahmen eines europäischen Forschungsprojekts wurden in Zusammenarbeit mit Universitäten verschiedener Länder rund 30 Messstationen in Europa aufgebaut. Diese liefern rund um die Uhr in Echtzeit Daten zur Netzfrequenz, die im Labor in Winterthur aufgezeichnet werden. «Anhand dieser Daten können wir kritische Situationen erkennen oder Vergangenes analysieren», so Korba. So konnte das Team zum Beispiel in Echtzeit beobachten und nachvollziehen, was am 8. Januar 2021 im europäischen Netz passierte.

Digitaler Zwilling des europäischen Energiesystems

Um grössere Dimensionen geht es beim digitalen Zwilling des europäischen Energiesystems. In diesem dynamischen Modell sind alle relevanten Kraftwerke und das ganze Übertragungsnetz Europas integriert. Das Modell ist allen Forschenden über den Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E in Brüssel zugänglich.

Korba und seinem Team ist es jedoch als Erste gelungen, es in Echtzeit zu betreiben. Dazu Korba: «Mit der Simulation können wir einen Blick in die Zukunft werfen, indem wir dieses Modell anhand von Szenarien wie der Energiestrategie des Bundes 2050 modifizieren. Wir können zwar nicht vorhersagen, wann ein konkretes Ereignis eintritt. Aber wir können zeigen, welche Szenarien sehr wahrscheinlich sind und welche Folgen sie haben könnten.» So hatte das Team von Korba das Ereignis vom 8. Januar 2021 bereits Monate zuvor als möglich identifiziert und seinen Ablauf untersucht.

Gefährliche Ereignisse werden häufiger

Aufgrund seiner Forschungsresultate ist Korba überzeugt, dass die im System ursprünglich eingebauten Reserven schwinden und gefährliche Ereignisse, die zu einem Blackout führen können, häufiger auftreten werden: «In den letzten 100 Jahren kam es typischerweise nur alle zehn Jahre einmal zu einem Ereignis wie der Spaltung des europäischen Energiesystems, die wir am 8. Januar 2021 beobachten konnten. Seit damals hat es ähnliche Ereignisse hingegen bereits zweimal gegeben.»

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