Besser leben an der Strasse

19.06.2019
2/2019

Die Stadtzentren entlang der Verkehrsachsen wurden in der Städteplanung lange Zeit vernachlässigt. Ein Forschungsprojekt der ZHAW stellt sich der Frage, wie diese Gebiete verdichtet und die öffentlichen Räume lebenswerter gestaltet werden können.

Pizzakurier, Hörzentrum, Zoohandlung reihen sich entlang der Hauptstrasse. Dazwischen ein paar Rabatten, Pflastersteine, Strassenlaternen. Das moderne Stadtzentrum von Bülach sieht aus wie das von vielen weiteren Kleinstädten im Schweizer Mittelland. Dreistöckige Gebäude aus den siebziger Jahren dominieren das Strassenbild, in den Erdgeschossen behaupten sich ein paar Detailhändler und Dienstleister. Der Verkehr rauscht vorbei. Es ist kein Ort, um sich wohlzufühlen.

Explosionsartig gewachsen

Bülach liegt im unteren Glatttal. Die ältesten Siedlungsspuren stammen aus dem 6. Jahrhundert. Seither hat sich viel verändert. An einer überregionalen Handelsstrasse gelegen, blieb der Ort lange ländlich geprägt. Die Menschen lebten vom Ackerbau und der Weinproduktion. Industrie siedelte sich nur zögerlich an. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts zählte die Stadt noch 4600 Einwohner, dann nahmen die Einwohnerzahlen und Bautätigkeiten explosionsartig zu. 1963 zählte die Stadt 10'000 Einwohner, seither hat sich deren Zahl nochmals verdoppelt. Bülach und viele weitere Städte stellt das anhaltende Wachstum vor Herausforderungen. Es bedeutet vor allem eines: Die Städte müssen verdichten.

Städtebaulich vernachlässigt

Peter Jenni ist Architekt und Dozent am Institut Urban Landscape der ZHAW. Er beschäftigt sich bereits seit mehreren Jahren mit Fragen der Planung und Gestaltung von städtischen Räumen. «Dabei habe ich immer wieder festgestellt, dass die Räume rund um die Hauptverkehrsachsen städtebaulich vernachlässigt werden.» Dabei bestehe rund um die Verkehrsachsen ein grosses Potenzial für eine Verdichtung. Die Räume sind in der Regel sehr gut erschlossen und oft nur unzusammenhängend bebaut. Dort wohnen möchten jedoch nur wenige. «Dabei gäbe es Möglichkeiten, wie diese Gebiete lebenswert gestaltet werden können.»

«Wir wollen zusammen mit Studierenden herausfinden, wie sich Wohn- und Lebensqualität entlang von Hauptstrassen auszeichnen und wie diese verbessert werden können.» 

Peter Jenni, ZHAW-Dozent

Wie diese wenig attraktiven Räume aufgewertet werden können? Das will Peter Jenni in einem aktuellen Forschungsprojekt untersuchen. Titel: «Städtebauliche Entwicklung entlang von Hauptstrassen.» Er leitet es gemeinsam mit seiner Kollegin Regula Iseli, Leiterin des Instituts Urban Landscape. «Wir wollen zusammen mit Studierenden herausfinden, wie sich Wohn- und Lebensqualität entlang von Hauptstrassen auszeichnen und wie diese verbessert werden können», sagt Peter Jenni. Dazu arbeitet das Forschungsteam eng mit verschiedenen Gemeinden zusammen, die das Forschungsprojekt auch finanziell unterstützen. Allen voran mit Bülach.

Studierende entwarfen Plätze

In einer ersten Phase haben Architekturstudierende der ZHAW während mehrerer Monate die Situation entlang den viel befahrenen Strassen Zürcher- und Schaffhauserstrasse in Bülach untersucht. Auf ihren Analysen aufbauend, projektierten sie neue Wohn- und Gewerbebauten, die einen Bezug zum öffentlichen Stadtraum herstellen. Sie entwarfen öffentliche Plätze, verbreiterten Trottoirs, setzten Bäume, schufen Freiräume für die Bevölkerung.

«Es gibt keine absoluten Grössen und keine einfachen Rezepte», sagt Peter Jenni. Am Beispiel von Bülach konnten die Studierenden jedoch klar aufzeigen, in welche Richtung die Planung gehen könnte: die Aussenbereiche von Gebäuden als Begegnungszonen gestalten, Erdgeschosse so bauen, dass sie für Dienstleister, Geschäfte und Kunden gleichermassen attraktiv sind. Öffentliche Räume werden in einem Zusammenspiel von Alt- und Neubauten räumlich gefasst. Kleinere Wege und Strassen erschliessen das Quartier in der Tiefe und schaffen Zugänge zu Grünflächen und Erholungsräumen.

Lärm – die grosse Herausforderung

Auch mit der eigentlich grössten Herausforderung im Bereich von Hauptstrassen haben sich die Studierenden auseinandergesetzt: mit dem Verkehrslärm. «Eine mögliche Massnahme besteht darin, dass Schlafzimmer auf den Rückseiten der Gebäude angeordnet werden», sagt Peter Jenni. Auch gezielte Bepflanzungen können zu einer Reduktion des Verkehrslärms beitragen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, direkt bei der Quelle anzusetzen. «Geschwindigkeitsreduzierungen haben einen sehr positiven Einfluss auf den Lärm», sagt Jenni. Auch schallschluckende Beläge und Verbesserungen bei den Fahrzeugen können zu leiseren Strassen beitragen. «Das ist am Ende auch eine politische Aufgabe.» Ganz verschwinden wird der Lärm nicht. Die Frage sei vielmehr, wie er reduziert und ein besserer Umgang damit gefunden werden kann.

«Für uns ist das Projekt eine Chance. Die ZHAW hat uns bereits spannende Denkansätze geliefert.»

Hanspeter Lienhart, Stadtrat

Aufseiten der Gemeinde Bülach stösst die Zusammenarbeit mit der ZHAW auf grosses Interesse. Hanspeter Lienhart ist als Stadtrat verantwortlich für das Ressort Planung und Bau. Er koordiniert die Zusammenarbeit mit der Hochschule. «Für uns ist das Forschungsprojekt eine Chance», sagt Lienhart. Die Stadt müsse in den kommenden Jahren weiteren Wohnraum schaffen. Bauen auf der grünen Wiese sei politisch nicht gewollt und mit dem neuen Raumplanungsgesetz auch gesetzlich kaum noch möglich. «Was bleibt, ist die innere Verdichtung.» Am meisten Potenzial bestehe entlang den Achsen des öffentlichen Verkehrs. «Die ZHAW hat uns bereits spannende Denkansätze geliefert, und wir sind gespannt auf die weiteren Vorschläge.»

Weitere Gemeinden einbeziehen

In den nächsten zwei Jahren wollen Peter Jenni und Regula Iseli das Forschungsprojekt auf zusätzliche Gemeinden ausweiten und mit Studierenden weitere Untersuchungen durchführen. Winterthur hat bereits eine Zusammenarbeit zugesagt. Aufbauend auf diesen Fallstudien, möchte Peter Jenni gemeinsam mit einer Baujuristin und den Partnern innovative Planungsinstrumente und -prozesse entwickeln, mit deren Hilfe die Innenstädte aufgewertet werden können. «Möglicherweise werden dafür auch Anpassungen der Planungsgesetze nötig sein.» Die Erkenntnisse des Projektes wollen die Verantwortlichen nach Abschluss mit Unterstützung von Verbänden in Fachpublikationen öffentlich zugänglich machen. Denn die Frage, wie Strassenräume im Zuge einer baulichen Verdichtung zu Stadt- und Lebensräumen umgestaltet werden können, stellt sich nicht nur in Bülach, sondern in vielen weiteren Kleinstädten und Gemeinden der Schweiz.


Neue Ideen für alte Stadt- und Ortszentren

Immer mehr Menschen ziehen in die Städte. Wohnungen sind ein gefragtes Gut, während der Einzelhandel in den Zentren zunehmend an Bedeutung verliert. Diese Entwicklung sorgt für Herausforderungen. Immer öfter bleiben etwa Erdgeschossflächen ungenutzt, weil die Besitzer keine Mieter finden. Sonja Kubat und Anke Kaschlik wollen das ändern. Beide arbeiten am Departement für Soziale Arbeit und an einem Projektantrag mit dem Titel «Neue Ideen für Stadt- und Ortszentren in der Agglomeration» (NIZA). In Zusammenarbeit mit verschiedenen Gemeinden der Region Zürich möchten sie ausloten, wie diese ihre Stadt- und Ortszentren nachhaltig und bedarfsgerecht gestalten können. «Die Nutzung von Erdgeschossen interessiert uns im Zusammenhang mit den angrenzenden öffentlichen Räumen, also den Strassen und Plätzen.» Diese Flächen bieten für die Quartiere ein grosses Potenzial. «Dort könnten Co-Workingspaces entstehen, Hobbyräume, Gemeinschaftsküchen oder Quartiertreffpunkte. Wir wollen mit den Gemeinden Wege suchen, wie sie die Erdgeschossnutzungen gemeinsam mit den Immobilienbesitzern und der lokalen Bevölkerung entwickeln können.» Die Gemeinde Kloten hat ihre Partnerschaft bereits zugesagt, mit weiteren Städten werden aktuell Gespräche geführt. Das Projekt ist auf drei Jahre angelegt.

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