Daten sammeln für das Kindeswohl

01.12.2020
4/2020

Bei Entscheidungen im Kindesschutz spielt oft viel Intuition mit. David Lätsch vom Institut für Kindheit, Jugend und Familie möchte herausfinden, ob und wie algorithmische Codes die Wahl einer Intervention verlässlicher machen können.

Geht es um Kinder, wird die Diskussion schnell emotional. Erst recht, wenn traurige Ereignisse wie Missbrauch oder Vernachlässigung publik werden. Haben die Behörden zu spät gehandelt und das Wohl des Kindes damit gefährdet? Griffen sie zu früh oder zu rigoros ein und trieben Eltern und Kind in die Verzweiflung oder gar zu fatalen Aktionen?

Solche Fragen beschäftigen nicht nur die breite Öffentlichkeit, sondern genauso jene Menschen, die beruflich im Bereich des Kindesschutzes tätig sind. Ihre Aufgabe ist es, die körperliche und seelische Integrität von Kindern und Jugendlichen zu sichern. Dazu müssen sie in komplexen und oftmals auch widersprüchlichen Situationen Abklärungen treffen und Entscheidungen fällen, die nicht nur mit hohen Risiken, sondern auch mit Unsicherheit verbunden sind.

Evidenzbasiert und Intuition

«In der Schweiz basierte die Arbeit im Kindesschutz lange Zeit auf einer Kombination von persönlicher Erfahrung und spezifischer Weiterbildung, dazu kam viel Intuition», sagt David Lätsch vom Institut für Kindheit, Jugend und Familie der ZHAW Soziale Arbeit. «Wir haben in den letzten Jahren daran gearbeitet, evidenzbasierte Instrumente in die Praxis einzuführen. Nicht um Intuition und menschliches Ermessen überflüssig zu machen, sondern um es zu unterstützen.»

Ein Problem bei diesem Ansatz bleibt jedoch, dass es immer noch zu wenig empirische Forschung im Kindesschutz gibt, speziell in der Schweiz. Das betrifft alle Stufen eines Kindesschutzverfahrens, von der Erkennung einer Gefährdung bis hin zur Entscheidung über die Intervention, im äussersten Fall eine Fremdplatzierung des Kindes. Lätsch will deshalb herausfinden, ob und wie algorithmische Codes diesen Prozess verlässlicher machen könnten. Er bereitet ein Forschungsprojekt vor, mit dem es gelingen soll, verschiedene Interventionsmethoden auf ihre Wirksamkeit zu prüfen. Predictive Chance Modelling (PCM) nennt sich sein Ansatz.

Systematisch Daten sammeln

Zunächst müssen systematisch Angaben über die Familien gesammelt werden. Dazu gehören Administrativdaten, beispielsweise Alter, Bildungsgrad oder die familiäre Konstellation von Eltern und Kind, aber auch vorangehende Interventionen oder Sozialleistungen, die allenfalls bereits beansprucht worden sind. Genauso wichtig sind zusätzlich fein aufgelöste Daten zum Familiensystem wie etwa die subjektive Gesundheit und das psychische Befinden von Eltern und Kind oder die Qualität der Eltern-Kind-Interaktion, die im Kontakt mit der Familie erhoben werden, meist durch Sozialarbeitende. Anhand neuerer Ansätze der Datenmodellierung lässt sich dann ermitteln, welche Intervention in einem konkreten Fall die höchste Erfolgswahrscheinlichkeit hat. Das heisst im Regelfall: Wie man die Familie am besten darin unterstützen kann, für das Wohl der Kinder zu sorgen.

Um es mit der Medizin zu vergleichen: Werden Medikamente auf ihre Wirksamkeit getestet, erfolgt dies mit randomisierten, kontrollierten Studien, mit zufällig zugeordneten Testgruppen und Scheinbehandlungen mit Placebo. Diese Art von Forschung ist beim Kindesschutz jedoch nahezu inexistent. Einer der Gründe dafür sei der Anspruch auf Rechtsgleichheit, sagt David Lätsch: «Kaum jemand in der Praxis würde dafür plädieren, dass man bei der Wahl der Intervention einen Würfel einsetzt.»

«Interventionen finden immer in einem Zwangskontext statt, da möchten viele Familien nicht auch noch Fragebogen ausfüllen.»

David Lätsch, Institut für Kindheit, Jugend und Familie

Als weiteren Grund für die Probleme herkömmlicher Forschungsdesigns im Kindesschutz nennt der Forscher und Dozent die Hürden bei der Beteiligung der Familien: «Interventionen finden immer in einem gewissen Zwangskontext statt, da möchten viele Familien nicht auch noch alle vier Wochen einen Fragebogen ausfüllen oder für Interviews zur Verfügung stehen.»

Den entscheidenden Vorteil des Predictive Chance Modelling sieht Lätsch darin, dass man den «natürlichen Zufall, der im System bei der Entscheidung über Interventionen ohnehin drin ist, für Forschungszwecke nutzen kann. Hat man einen Datensatz von 7000 Familien, kumuliert das enorm viel praktische Erfahrung», sagt der Forscher. So werden in der Praxis für Familien in ähnlichen Situationen oft unterschiedliche Interventionen gewählt – unter anderem eben deshalb, weil es bisher keine unstreitigen Kriterien für die Entscheidung gibt. Bei sehr vielen Fällen lässt sich anhand dieser zufälligen Variation nun mit statistischen Mitteln rekonstruieren, welche Intervention in einer bestimmten Ausgangslage am verlässlichsten für positive Verläufe sorgt.

Mehr Fälle verhütet

Im angelsächsischen Raum, allen voran in den USA, arbeitet man schon länger mit statistischen Methoden im Kindesschutz. Allerdings ist man dort weitgehend auf Risiken fixiert, auf die Vorhersage von Gefährdungen, nicht von positiven Hilfeverläufen. Auswertungen des sogenannten Predictive Risk Modelling (PRM) zeigen, dass damit mehr Fälle verhütet werden können als unter Anwendung intuitiver Methoden. Allerdings ist dort auch der Ansatz ein anderer: In den USA wartet man eher lange mit Interventionen, reagiert dann aber entschlossen, während man in Europa und auch in der Schweiz eher ein Wohlfahrtssystem pflegen möchte, das möglichst vielen Familien möglichst früh Unterstützung bietet.

«Wir sind gut beraten, wenn wir beide Ansätze zusammenbringen», ist David Lätsch überzeugt, «das heisst, wenn wir die Stärken eines empirischen, evidenzbasierten Ansatzes verbinden mit einer Haltung, welche die Familie nicht als Objekt eines staatlichen Eingriffs anschaut, sondern als Partner mit grundsätzlich sehr hohem Interesse an der Entwicklung ihres Kindes.» Er zieht noch einmal den Vergleich zur Medizin, bei der sich weitgehend etabliert hat, den Patienten oder die Patientin in die Entscheidungsfindung miteinzubeziehen: «Im Kindesschutz ist es komplizierter, weil es drei Parteien sind, aber man kann trotzdem relativ weit gehen mit dem Einführen von empirischen Befunden und Evidenzen, soweit man die Autonomie der Eltern und Kinder respektiert.» Aber natürlich gebe es auch Grenzen des Dialogs, sagt David Lätsch: «Liegen schwerwiegende Fälle von Missbrauch oder Misshandlung vor, gibt es nichts mehr zu verhandeln.»

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