Der Chef 4.0: kreativ, kooperativ und kommunikativ

24.09.2019
3/2019

Der Chef von heute ist Motivator und Gestalter der digitalen Transformation. Der allmächtige Chef ist nicht mehr gefragt. Schnelllebige Prozesse und technologische Entwicklungen wie auch die Vernetzung von Wissen und Kommunikation fordern Anpassungen in der Unternehmensführung.

Er sollte sich in Fragen der Digitalisierung auskennen und die Zügel locker lassen. Das war kurz zusammengefasst das Wunschprofil für den zukünftigen Konzernchef der ABB, wie es Verwaltungsratspräsident Peter Voser diesen Sommer skizzierte. Ein Konzernchef, der in der Geschäftsleitung eher als «Primus inter Pares» und Portfoliomanager fungiere und den Divisionen deutlich mehr Autonomie gebe, schrieb die «NZZ» im August dazu. Der Technologiekonzern wolle sich dem Trend nicht verschliessen, dem andere Firmen schon folgen, die sich stark mit der Digitalisierung befassen: Unternehmen, deren Mitarbeiter wenig Selbstständigkeit geniessen, hätten generell schlechte Karten in der Bewältigung der sich immer schneller wandelnden Marktbedürfnisse. Auserkoren wurde dann der Chef des schwedischen Maschinenherstellers Sandvik, Björn Rosengren. Er gilt als bekennender Anhänger der Dezentralisierung von Macht in Tochterunternehmen und Divisionen und gewährt offenbar seinen Untergebenen genau diesen Gestaltungsspielraum.

Hierarchische Organisationen sind schlecht aufgestellt

Die vierte industrielle Revolution, wie die derzeitige digitale Umwälzung genannt wird und der auch die ABB ausgesetzt ist, ist von hoher Dynamik, Komplexität und von der laufenden Anpassung von Geschäftsmodellen und -prozessen gekennzeichnet. «In den Unternehmen muss deshalb die Zusammenarbeit angepasst werden», sagt Christoph Negri, Leiter des IAP Institut für Angewandte Psychologie und Herausgeber des Sammelbandes «Führen in der Arbeitswelt 4.0» (vgl. Box am Textende). Ob ein Konzern mit 150 000 Beschäftigten wie die ABB oder ein kleineres Unternehmen: Hierarchisch aufgebaute Organisationen sind für diese Transformation schlecht aufgestellt. Die Führung in der digitalen Arbeitswelt muss neu gedacht werden, so Negri.

Offene Entwicklungen

Mit den digitalen Technologien verflechten sich Kommunikation wie auch Zusammenarbeit immer mehr: zwischen Beschäftigten, Kunden, aber auch zwischen Anlagen und Produkten. Diese neue Qualität der Vernetzung einer riesigen Menge an Informationen eröffnet völlig neue Nutzungsmöglichkeiten. Die Entwicklung dieser Vernetzung und die konkreten Anwendungen sind aber nicht ohne Weiteres vorhersehbar oder planbar.

Das Problem für die Führung: Es ist nicht mehr möglich, alle Fäden in der Hand zu halten. Die schnelle Abfolge von immer mehr Informationen, die an einen Chef gelangt, würde zu Überforderung führen. Negri verdeutlicht die Veränderungen am Beispiel des Informationsmanagements, einer wichtigen Führungsaufgabe. Früher habe sich der Informationsfluss als hierarchische Pyramidenform aufzeigen lassen: Einzelinformationen werden von unten nach oben an die Führungsperson an der Spitze hochgeleitet, welche in der Folge die Gesamtschau auf das Unternehmen hat und ausgewählte Informationen dann wieder an alle Abteilungen fliessen lässt. Das sei heute absolut unmöglich, betont der Psychologe: In manchen Fällen sei es so, dass die Mitarbeitenden besser informiert seien als die Vorgesetzten. Denn Wissen ist in der digitalen Welt, in Internet und den sozialen Medien, für jedermann schnell abrufbar. «Heute muss eine Führungskraft den Gedanken der Allmacht abgeben», so Negri.

Führung auf Augenhöhe

Ein Chef muss deshalb seine Führungsrolle neu definieren: Eigenverantwortung für die Mitarbeitenden statt umfassende Kontrolle, Führung auf Augenhöhe, Vertrauen bilden, Fehler zulassen sowie mehr Transparenz bei Arbeitsprozessen und mehr Effizienz beim Projektcontrolling – das sind gemäss Negri wichtige Punkte, um in der digitalen Transformation erfolgreich zu führen. Damit rückt die Selbstkompetenz einer Führungskraft ins Zentrum: im weitesten Sinn die Fähigkeit, die eigene Persönlichkeit in ihren verschiedenen Facetten zu überdenken, zu beurteilen und weiterzuentwickeln. «Das sind eigentlich altbekannte Themen, die immer schon wichtig waren. Doch heute sind sie erfolgsentscheidend», sagt Negri.

Neue Kompetenzen für Mitarbeitende gefragt

Doch auch von den Mitarbeitenden werden grundlegend neue Kompetenzen gefordert: nicht nur die Kenntnisse der neuen Technologien in den verschiedensten Anwendungsbereichen, sondern vor allem Eigenverantwortung, unternehmerisches Denken, Offenheit für die Veränderungen im Berufsalltag und die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen. Die Führung muss die Mitarbeitenden in diesem Wandel unterstützen, begleiten und ihnen Wege aufzeigen. Gleichzeitig sind die Angestellten verunsichert angesichts des digitalen Wandels, der Komplexität der Arbeitsprozesse, und sie zweifeln an der Sicherheit ihres Arbeitsplatzes, wie eine Befragung von Schweizer Führungskräften in der Studie des IAP zum Thema «Der Mensch in der Arbeitswelt 4.0» ergeben hat. Sie brauchen Orientierung. «Es ist wichtig, Verunsicherungen abzubauen», wird ein Kadermitglied zitiert: «Man muss Chancen, Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten für die Mitarbeiter aufzeigen.»

Eine Transformation mit Widersprüchen

Die neue Arbeitswelt ist von Widersprüchen und Gegensätzen gekennzeichnet. Auch damit müssen Mitarbeitende wie Führungskräfte umgehen können. Zum Beispiel werden Arbeits- und Produktionsprozesse automatisiert, der Mitarbeitende darin soll aber durch Eigenständigkeit und Eigeninitiative bestehen. Führungskräfte sollen individuelle Karrieren für die Mitarbeitenden aufzeigen und sie persönlich nach ihren Stärken fördern, doch die digitale Transformation bewirkt Vereinheitlichung in Organisationen. Der Chef soll Kontrolle abgeben und eben ein «Primus inter Pares» werden – auch wenn es letztlich immer noch er ist, welcher die massgeblichen Entscheidungen fällt und die Verantwortung trägt.

Macht abgeben

Und Unternehmenskulturen sind schwerfällig im Wandel: Oft herrscht Konkurrenzdruck innerhalb der Organisationen, und belohnt wird die individuelle Leistung, nicht interdisziplinäres Arbeiten, Kooperation oder der positive Umgang mit Fehlern. Unternehmenskulturen befördern oft noch macht- und statusbewusste Menschen an die Spitze. «Doch die digitale Welt ist durch eine Form der Machtlosigkeit gekennzeichnet, die speziell für machtorientierte Führungspersonen schwierig einzuordnen ist», sagt Negri. «Machtmenschen und Narzissten stossen an ihre Grenzen.» Diese Widersprüche sind eine zusätzliche Herausforderung für Mitarbeitende wie für den Chef: Offenheit, Neugierde und Veränderungsbereitschaft sind deshalb von allen gefordert.

Als «Primus inter Pares» wird sich auch Björn Rosengren bei der ABB mit seiner Führungsrolle auseinandersetzen müssen. Die ABB steht im Ruf, konstant im Umbau zu sein. Mit der von ihm anvisierten Delegation der Macht in die Divisionen und Tochterunternehmen wird eine weitere Reorganisation eingeleitet – zusätzlich zur Transformation zum Technologiekonzern 4.0.


Der ideale Chef in der digitalen Transformation

10 Aufgaben, die sich eine Führungskraft heute stellen sollte – auch wenn es ihr nicht gelingt, alle zu erfüllen:

1.      Sinn stiften: die Mitarbeitenden einen tieferen Sinn ihrer Arbeit fühlen lassen

 

2.      Die digitale Transformation aktiv gestalten

 

3.      Optimismus, Zuversicht und Begeisterung vermitteln und kreativ sein

 

4.      Kritisch sein: nicht auf Modetrends aufspringen

 

5.      Kommunikativ und ansprechbar sein: aktiv kommunizieren und informieren und auch physisch präsent sein. Nur virtuell führen reicht nicht.

 

6.      Widerstände und Konflikte austragen

 

7.      Nicht auf dem alleinigen Führungsanspruch bestehen

 

8.      Freiräume für Mitarbeitende schaffen und die Spannung zwischen Kontrolle und Nicht-Kontrolle aushalten

 

9.      Fehler zulassen und eingestehen

 

10.   Das Führungsrepertoire erweitern: zum Beispiel die Medienkompetenz steigern

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