Die (des)informierte Gesellschaft

01.12.2020
4/2020

Wir sind auf dem besten Weg vom Informations- zum Desinformationszeitalter.
 Auch die Bedeutung von Expertinnen und Experten geht verloren angesichts der Vielfalt an Erfahrungen im Netz.

Karl Steinbuch, ein Vordenker der Digitalisierung, zeichnete 1966 das Bild einer Gesellschaft, in welcher durch Nachrichtentechnik überall erhältliche Informationen Objektivität fördern und in der dadurch rationale Entscheidungen die Handlungen der Menschen bestimmen werden. 1989 sah er diese Vision alles andere als verwirklicht und trat für eine zweite Aufklärung ein. Auch derzeit scheint es so, als stehe das Konzept der informierten Gesellschaft erneut auf der Kippe. Weshalb Datenschutz und Ethik ganz nach oben auf der Agenda einer hypervernetzten Gesellschaft rücken.

Der Begriff der Digitalisierung wird kontextuell in verschiedenen Dimensionen strapaziert. Werden wir digitalisiert, digitalisiert es uns, oder führen wir seit Anbeginn der Entwicklung des Menschen Techniken ein, die das Zusammenleben auf dem Planeten und uns als Individuum aus dem Dazwischensein (Technik–Mensch, Online–Offline) verändern? Die Verfügbarkeit des Wissens durch Technik kann als einer der wesentlichen Treiber eines Aufklärungs- und Demokratisierungs-Prozesses gesehen werden, der es ermöglicht, dogmatische Fesseln institutioneller Deutungshoheit zu überwinden. Dies geschieht jedoch nicht ohne Nebenwirkungen und Kollateralschäden.

Deutungshoheiten verlagern sich

Nicht länger bestimmen wenige Menschen an besonderen Orten, was zu tun ist. Eine wachsende Zahl an Menschen kann sich am Prozess der Wissengenerierung und -analyse sowie der Beschreibung von Zusammenhängen beteiligen. Dieser Prozess bewirkt nicht nur eine Umwälzung bezüglich der Deutungshoheit in Religion, Staat, Wissenschaft und Bildung, sondern auch bezüglich der Gestaltung von Austauschbeziehungen und dem Zusammenleben in der Gesellschaft. Die Verfügbarkeit von Informationen und das Ablegen dogmatischer Fesseln ermöglichen eine zunehmende Individualisierung.

Die Bedeutung von Experten geht angesichts der vielfältigen im Netz verfügbaren Erfahrungen verloren. Der Mensch, der fähig ist, Informationspfade anzulegen, aufgefundenen Daten Bedeutung zuzuordnen und Entscheidungen zu treffen, denkt, alles unter Kontrolle zu haben. Begrenzt scheint diese Kontrollmöglichkeit nur durch die Verfügbarkeit seiner eigenen Ressourcen. Diese Verfügbarkeit bleibt vielleicht die einzige Konstante.

Wendezeit und Bedeutungskonstruktion

Nachdem sich zunächst das Weltbild der Zusammenhänge gewandelt hatte – Kopernikanische Wende –, gewann die Art und Weise, wie die Menschen über Zusammenhänge denken und sprechen – sprachliche Wende – an Bedeutung. Das automatisierte Denken mit der damit verbundenen Beschleunigung läutet die digitale Wende zur «Nächsten Gesellschaft» (Baecker 2018) ein, die mehr und mehr von der Auflösung der Informationsasymmetrien geprägt ist. Die zunehmende Verfügbarkeit von Information verändert insbesondere dort das Bewusstsein, wo ein gesichertes Lebensumfeld mit einem gewissen Wohlstand verbunden ist.

Vernetzung von Individuen

Die Erinnerung an das Erbe früherer Stammeskulturen Europas hinterlässt uns eine Besonderheit der Art Versammlungen, die meist an ausgewählten und besonderen Orten stattfanden und auf alle Teilnehmenden und Ausgeschlossenen eine besondere Wirkung hatten. Die private Kommunikation fand meistens am Kreis, um den besonderen Ort, peripher zwischen Einzelnen oder mehreren statt – also klar und überschaubar. Wenn jemand Informationen oder Entscheidungen mitteilen oder mit allen herbeiführen wollte, begab er sich ins Zentrum. Einer sprach zu vielen, die dem einen Gehör schenkten und Zustimmung oder Ablehnung signalisierten (Hénaff, 2017).

Furcht vor Austauschbarkeit

In der «Nächsten Gesellschaft» löst sich das Zentrum auf und die Kommunikation findet potenziell unter allen, dezentral statt. Das Netzwerk stellt in seiner Binnenkomplexität ein Ungewissheitskalkül bereit, innerhalb dessen Akteure permanent Entscheidungen treffen müssen. Beziehungs- und/oder Bedeutungsangebote werden angenommen, zurückgewiesen oder umgedeutet. Hierbei zählt nicht länger nur der Inhalt, sondern der Kontext, in dem interagiert wird.
Im Netzwerk wird die Identität eines Elements – etwa eines Individuums oder eines Bots – nicht substanziell, sondern durch die Beziehung mit anderen Elementen bestimmt, und zwar so stark wie kaum je zuvor. Je nach Grundhaltung der einzelnen Akteure entsteht so ein mehr oder weniger emotionaler/rationaler Relativismus. Diese Ungewissheit begründet sich darin, dass alle Akteure zu jeder Zeit damit rechnen müssen, Attraktivität und/oder Reputation zu verlieren und gegen andere Akteure ausgetauscht zu werden.

Internet der Horizonte

So veränderte sich die für die Umwelt des Einzelnen existenzielle Bestimmung des besonderen Ortes, der von einem Horizont begrenzt wird. Bewegt sich das Individuum auf den Horizont zu, verschiebt sich die Linie, an der zum Beispiel ein Oben und ein Unten definiert werden können. Durch den Einsatz digitaler Endgeräte, die den Datenaustausch verschiedener Loci und Zeiten überbrücken, entsteht ein Internet der verschiedenen Horizonte. Die Tribalgesellschaft setzt das Individuum durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe auf einem Territorium mit Grenzen in Raum- und Zeitdimensionen in Szene. Die moderne Gesellschaft entwickelt den Gedanken zur Selbsterkenntnis weiter, um begreifen zu können, was dem Individuum widerfährt und was um es herum passiert. Dies geschieht im Bewusstsein, dass seine Handlungen Spuren hinterlassen.

Privatheit verteidigen

In der «Nächsten Gesellschaft» wird das singuläre Verhalten eines Individuums in wiederkehrenden Mustern massenhaft reproduziert. Der Mensch versucht dies jedoch auszublenden, denn sie/er/es will wie andere auch den Unterschied machen. Privatheit kann als das Fehlen der Vorherbestimmtheit interpretiert werden. Diese von Selbstbestimmung sowie durch andere und gesellschaftliche Zwänge geprägte Unbestimmtheit schafft den Raum für eine aktive Entscheidung zwischen Absenz und Teilnahme. Jemand, der durch moderne Kommunikationsmittel und Vernetzung erreichbar ist, dadurch aber nicht gebunden wird, kann den Spielraum zwischen Absenz und aktiver Partizipation ausnutzen. Um eine Entscheidungsfähigkeit des Individuums aufrechterhalten zu können, muss diese zentrale Errungenschaft der modernen Gesellschaft in Form der Aufrechterhaltung der Privatheit verteidigt werden.

Überwachung-, Vorhersage-und Vorbestimmungskapitalismus

Durch die Kalkulierbarkeit potenzieller Handlungen und Wünsche der Individuen in Erlebnisgemeinschaften werden diese bereits offenbar, bevor sie dem Individuum selbst ins Bewusstsein treten. Dieses Konzept wird von Lecinski (2014) im «Zero Moment of Truth" definiert, in dem alle Vorerfahrungen in dem Moment zu wirken beginnen, wo eine potenzielle Entscheidung aktualisiert wird. Vorherige Erfahrungen und Handlungen beeinflussen so Anschlusshandlungen und soziale Kontakte. Die Frage, die hier aufgeworfen wird, ist, was vom Privaten bleibt. Durch jede Vernetzung entsteht das Risiko, die eigene Identität im Netz zu spiegeln oder eben nicht. Nach Baecker (2018) ist Privat in der neuen Gegenwart vielleicht nur noch das, was sich als unkalkulierbare Negation aus dem Erwarteten darstellen lässt.

Selbstinszenierung, -optimierung, -ausbeutung und Störung

Informationen werden zunehmend zur Ressource der Selbstoptimierung und Selbstausbeutung mit Suchtpotenzial, wo durch Algorithmen und automatisiertes Denken der nächste aufkeimende Wunsch schon kalkuliert und stimuliert werden kann, bevor er dem Individuum selbst bewusst wird. Dies führt fallweise niederschwellig zu einer intermittierenden positiven wie negativen Verstärkung, eröffnet die Möglichkeit zu einer schleichenden Verhaltensbeeinflussung und birgt die grosse Gefahr der individuellen Massenmanipulation. Wenn jeder seine eigene Wahrheit erhält, schrumpft gleichzeitig der Raum für Kompromisse. Automatisiertes, fremdkuratiertes Wohlbefinden und die Valorisierung von Aufmerksamkeit in den (a)sozialen Medien, führt immer mehr zu einem Wettbewerb um Selbstdarstellung zur persönlichen Optimierung, die nicht vor kosmetischen Operationen und Selbstzerstörung halt macht.

Soziale Medien kapitalisieren den biologischen imperativ der Stammesgesellschaft

Das ursprüngliche Geschäftsmodell der Technologieunternehmen in diesem Bereich hat sich vom Verkauf von Software zum Verkauf der Aufmerksamkeit der Benutzer gewandelt. So wird der Mensch selbst zur extrahierten Ressource. Ziele sind hier: Bildschirmzeit verlängern, Netzwerk vergrössern, Werbung konsumieren, Verhalten anpassen. Der damit zunehmende Kontrollüberschuss wird von der Plattformökonomie als eine Art Überwachungs- und Explorationskapitalismus (Zuboff, 2019) ausgebeutet, um Territorialstaaten in Form von Digitalstaaten zu überwinden. Durch das Betreiben von Plattformen entstehen Digitalstaaten, die physische Grenzen überwinden und die an Staaten und Territorien gebundene Gesellschaften mit ihren Regeln nicht nur in der Wertschöpfung in Frage stellen.

Zweifel, Reflexion und Ethik

Automation mit der Vision von vollständiger Transparenz und individualisierten Produkten verändert nicht nur die Arbeitswelt. Dort, wo automatisiertes Denken von Automaten ausgeführt wird, die Menschen programmiert und konstruiert haben, wird der menschliche Zweifel abgeschafft. In dem Moment, wo der Übergang zur «Nächsten Gesellschaft» für viele spürbar wird, entsteht eine Vorstellung davon, welche Chancen und Risiken die veränderten Geschäftsmodelle bieten und wie mit den Themen Datenschutz und digitale Ethik umgegangen werden könnte. Im Rückspiegel der Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen wird klar, dass etwas fortschreitet, was die Welt zunehmend verändert: die Selbstdefinition des Menschen in Gesellschaft durch die Technik und das Netz.

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Baecker, Dirk (2018). 4.0 oder Die Lücke, die der Rechner lässt. Merve Verlag, Leipzig


Hénaff, Marcel (2017). Europas genetischer Code. Lettre International, Nr. 117, S. 35–45


Lecinski, Jim (2014). Zero Moment Of Truth: Why It Matters Now More Than Ever, Micro-Moments. www.thinkwithgoogle.com/marketing-resources/micro-moments/zmot-why-it-matters-now-more-than-ever/ 30.07.2019


Steinbuch, Karl (1968). Die informierte Gesellschaft. Geschichte und Zukunft der Nachrichtentechnik. Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, rororo, Stuttgart


Zuboff, Shoshana (2019). The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power. Profile Books, London

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