Die Dolmetscherin

01.12.2020
4/2020

Ob bei Gericht, bei der EU-Kommission oder beim Walliser Parlamentsdienst: ZHAW-Alumna Marina Bührer-Stoffel hat an vielen Orten ein Wörtchen mitzureden und trägt zur Verständigung bei.

Für viele Dolmetschstudierende ist es der grosse Traum – für Marina Bührer-Stoffel hat er sich erfüllt: Sie bestand die Zulassungsprüfung für das Dolmetschen bei den EU-Institutionen auf Anhieb in allen drei Arbeitssprachen. Eine Leistung, die nur wenige erbringen. Die ZHAW-Absolventin ist Übersetzerin und Dolmetscherin. Neben ihrer Muttersprache Deutsch sind Französisch, Italienisch und Englisch ihre Arbeitsinstrumente. Zudem spricht sie auch Spanisch und Portugiesisch und ein bisschen Gebärdensprache.

Eine Rede gleichzeitig in 15 Sprachen dolmetschen

Im Herbst 2019 wurde die ZHAW-Absolventin in das Newcomer-Programm aufgenommen. «Bei der EU arbeitet man in der Regel als Freelancer auf Mandatsbasis», erzählt Bührer-Stoffel. «Das Programm sichert einem 100 Arbeitstage innerhalb von eineinhalb Jahren zu, um Arbeitserfahrung zu sammeln.» Wie ist es, wenn man als frischgebackene Konferenzdolmetscherin in die EU kommt? «Sehr aufregend! Und sehr komplex.» Zu Beginn gebe es einiges zu lernen. Zum Beispiel, wie man es organisiert, eine Rede gleichzeitig in 15 Sprachen zu dolmetschen. Denn es gibt nicht für jede Sprachkombination eine eigene Dolmetscherin. Spricht etwa ein maltesischerer Abgeordneter, wird das in der Regel Maltesisch-Englisch verdolmetscht, und in die übrigen Sprachen wird aus dem Englischen gedolmetscht. Relais-Dolmetschen heisst das in der Fachsprache.

Man muss sich zu helfen wissen

Allgemein sei sie dankbar, dass sie gleich hilfsbereite Kolleginnen gefunden und auch eine Mentorin gestellt bekommen habe. «Aber grundsätzlich gilt: Il faut se débrouiller», sagt Bührer-Stoffel, und der Berner Dialekt weicht einem akzentfreien Französisch – man muss sich zu helfen wissen. Vielleicht die treffendste Umschreibung für das Dolmetschen überhaupt.

«Im besten Fall hat man einen Teilzeitjob, der Flexibilität lässt, um nebenbei als Freelancerin zu arbeiten.»

Auch neben der eigentlichen Tätigkeit sei bei der Arbeit in Brüssel immer für Aufregung gesorgt. Nach einem Einsatz in einem der grössten Gebäude im europäischen Viertel stand sie prompt allein vor verschlossenen Türen und konnte nicht mehr hinaus. «Ich hatte noch ein bisschen gearbeitet und die Zeit war wie im Flug vergangen. Plötzlich stand ich allein da. Ich befürchtete schon, ich müsste dort übernachten», erzählt sie lachend. Ein Anruf bei ihrer Mentorin half, und diese konnte sie durch das Labyrinth des Gebäudes zum zweiten Ausgang lotsen.

Mehrere Standbeine

35 Tage hat Bührer-Stoffel bereits bei der EU gearbeitet. Aufgrund der Covid-19-Krise hat sie ihr Newcomer-Programm unterbrochen. Zu unsicher sei ihr die Planung. Wohnhaft ist sie nach wie vor in Bern und sie arbeitet weiterhin 40 Prozent beim Kanton Wallis sowie als freischaffende Übersetzerin und Dolmetscherin. Für die Einsätze ist sie jeweils nach Brüssel gereist. «Die Arbeit bei der EU ist sehr spannend und für die Arbeitserfahrung Gold wert. Längerfristig sehe ich mich aber eher in der Schweiz», erklärt Bührer-Stoffel. Die Märkte seien unterschiedlich. In der EU sei zum Beispiel Italienisch sehr gefragt. In der Schweiz sei Französisch wichtiger. Aus diesem Grund absolviert sie seit diesem Herbst eine Weiterbildung am IUED Institut für Übersetzen und Dolmetschen, um auch vom Deutschen ins Französische dolmetschen zu können.

Dass sich mehrere Standbeine lohnen, weiss die Allrounderin nicht erst seit Corona. «Es ist nicht einfach, als Übersetzerin oder Dolmetscherin Fuss zu fassen. Festanstellungen gibt es kaum. Beim Übersetzen habe ich mittlerweile als Freelancerin einen Kundenstamm aufgebaut», erzählt Bührer-Stoffel. «Das hat aber einige Jahre gedauert. Im besten Fall hat man einen Teilzeitjob, der Flexibilität lässt, um nebenbei als Freelancerin zu arbeiten.»

Unterschiedliche Berufe

Nach der Matura beschloss die Stadtbernerin, an der Universität Genf Übersetzen und Dolmetschen zu studieren. «Dass dies zwei völlig unterschiedliche Berufe sind, musste mir erst mal klar werden», erzählt sie schmunzelnd. Beim Übersetzen wird schriftlich gearbeitet, beim Dolmetschen mündlich – so weit, so gut. Die Anforderungen, das Arbeitsumfeld und der Alltag sind jedoch völlig unterschiedlich. Im stillen Kämmerlein recherchieren, nachprüfen und stilistisch feilen sind typische Tätigkeiten beim Übersetzen. Dolmetschende hingegen sind live am Ort des Geschehens. Sie müssen stets ein breites Allgemeinwissen präsent haben und unter enormem Druck gleichzeitig zuhören und sprechen. «Übersetzen ist Handwerk, Dolmetschen ist Mundwerk», so lautet eine gern zitierte Berufsweisheit.

«Meine Erkenntnis ist, dass die besten Resultate entstehen, wenn die Texte in einem mehrsprachigen Team parallel verfasst werden.»

Bührer-Stoffel entschied sich vorerst für das Übersetzungsstudium. Nach dem Masterabschluss und ersten Arbeitserfahrungen als Freelancerin fand sie eine Teilzeitanstellung bei der Groupe Mutuel. Gleichzeitig absolvierte sie an der ZHAW den CAS Behörden- und Gerichtsdolmetschen. Beflügelt von dieser neuen Erfahrung des direkten Sprachmittelns, beschloss sie, auch noch das Dolmetsch-Masterstudium in Angriff zu nehmen, diesmal an der ZHAW. Besonders schätzte sie, dass dieses in einem Teilzeitmodus angeboten wird. So konnte sie weiterhin als Übersetzerin arbeiten, mittlerweile beim Parlamentsdienst des Kantons Wallis.

Preisgekrönte Masterarbeit

Die Tätigkeit beim Parlamentsdienst inspirierte sie auch dazu, ihre Masterarbeit dem Thema mehrsprachige Gesetzesredaktion zu widmen. Die Arbeit wurde mit dem Excellence Award der Dolmetscher- und Übersetzervereinigung ausgezeichnet, der jährlich für eine herausragende Arbeit im Bereich Angewandte Linguistik verliehen wird. «Es gibt unterschiedliche Methoden, mehrsprachige Gesetzestexte zu erarbeiten», erzählt Bührer-Stoffel. Oft würden Texte in einer Sprache verfasst und erst am Schluss übersetzt. So würden aber oftmals die Eigenheiten der anderen Sprache vernachlässigt. «Meine Erkenntnis ist, dass die besten Resultate entstehen, wenn die Texte in einem mehrsprachigen Team aus juristischen und sprachlichen Fachpersonen parallel verfasst werden, wie es etwa bei der letzten Verfassungsrevision des Kantons Freiburg der Fall war.»

Die Abwechslung machts

Wenn sie spricht, ahnt man schnell, dass genau dies ihr Metier ist. Sie spricht schnell, aber überlegt; sie versteht es, komplexe Sachverhalte einfach herunterzubrechen, und sie hört aufmerksam zu, bevor sie antwortet. Und was sie beruflich anpackt, meistert sie in der Regel mit Bravour. Ihr Traum wäre es, für das EU-Parlament in Strassburg zu dolmetschen. Sie möchte jedoch auch in Zukunft die Abwechslung zwischen Dolmetschen bei Konferenzen und bei Gericht und dem Übersetzen für verschiedene Kunden nicht missen.

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