Falsche Rollenbilder, anonyme Arbeitslose und Belebung eines Bergdorfes

01.12.2020
4/2020

Welche Vorstellungen haben Sozialarbeitende davon, wie Mädchen zu sein haben? Wie werden Sozialhilfebezüger und Arbeitslose wahrgenommen? Wie könnte eine touristische Unterkunft in einem kleinen Bergdorf aussehen? Drei Abschlussarbeiten geben Antworten.

Wer finanzielle Hilfe erhält, wird stigmatisiert

Menschen, die Gelder von der Sozialhilfe oder der Arbeitslosenversicherung beziehen, stehen immer wieder im Fokus der Medien. Sie werden durch bestimmte Zuschreibungen stigmatisiert, wie Rivana Bissegger und Isabelle Suremann in einer Diskursanalyse aufzeigen. 
Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger sind davon stärker betroffen. Sie werden oft als Migranten beschrieben, die zu viel oder ungerechtfertigt Unterstützung erhalten. Sie werden als renitent, frech und bei den Gemeinden unerwünscht dargestellt. «Es wird stark auf die Betroffenen und ihr Verhalten fokussiert», sagt Isabelle Suremann. Ausgeblendet würden hingegen strukturelle Gründe für ihre Situation und die rechtlichen Grundlagen. 
Wie die beiden Bachelorabsolventinnen darlegen, ist dies im Diskurs über Arbeitslose anders. In den untersuchten Artikeln dominieren statistische Zahlen. Die Medien geben vor allem die Sicht der Behörden wieder und setzen dabei häufig auf Passivkonstruktionen. «Die Betroffenen werden dadurch sprachlich zu einer Nummer im System ‒ zu einer Person in einer anonymen Masse, die selbst nicht zu Wort kommt.» In Leserkommentaren kommen allerdings auch Vorurteile und Stigmatisierungen vor. Erwerbslosen wird etwa vorgeworfen, nur Bewerbungen zu schreiben, um keine Kürzungen zu erfahren. Sie seien nicht ernsthaft an einer Stelle interessiert, lautet der Tenor. 
Die aktuelle Corona-Krise könnte die Wahrnehmung verändern. «Nun geraten breitere Teile der Gesellschaft in wirtschaftliche Not», sagt Isabelle Suremann. «Dies könnte der Schuldzuweisung entgegenwirken und das Bewusstsein für strukturelle Ursachen erhöhen.»

Rivana Bissegger (21) und Isabelle Suremann (29) haben ihre Bachelorarbeit dem medialen Diskurs über Arbeitslose und Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger gewidmet. «Wie die Gesellschaft diese Personengruppen wahrnimmt, ist in der Schweiz erst wenig erforscht», sagt Isabelle Suremann. Dies ist ihr während eines Auslandsemesters in Grossbritannien bewusst geworden. Die Autorinnen haben den Johann Jacob Rieter-Preis für die beste Bachelorarbeit ihres Jahrgangs im Studiengang Angewandte Sprachen erhalten. Ihre Arbeit wird in der Reihe der Graduate Papers in Applied Linguistics veröffentlicht. Rivana Bissegger macht zurzeit ein Praktikum bei Stadler Rail. Isabelle Suremann arbeitet bei Insieme Region Bern. Beide studieren weiter.

Selbst Sozialarbeitende haben Klischees im Kopf

Mädchen sollen feminin, fleissig und zurückhaltend sein. Gleichzeitig aber auch cool, stark und leistungsbereit. Sie werden mit älteren, konservativen Rollenbildern ebenso konfrontiert wie mit emanzipierten Vorstellungen davon, wie Frauen zu sein haben. Die Erwartungen sind teilweise widersprüchlich. «Damit umzugehen, ist eine Herausforderung», stellt Livia Suter fest, die am Departement Soziale Arbeit studiert hat. Das gelte insbesondere für die Phase der Pubertät, in der sich junge Frauen selbst erfahren möchten. 
Sozialarbeitende haben durch ihr fachliches Handeln, ihre Persönlichkeit und ihre Überzeugungen einen grossen Einfluss auf Jugendlichen. Sie sind daher gefordert, sich mit den gesellschaftlich geprägten Rollenbildern auseinanderzusetzen und Benachteiligungen entgegenzuwirken. «Im Kern wollen alle Gleichberechtigung und Gleichbehandlung», sagt die Bachelorabsolventin, die vier Mitarbeitende stationärer Einrichtungen befragt hat. Tatsächlich liessen sich jedoch auch bei den Interviewten Stereotypisierungen und Vorurteile ausmachen. «Rollenbilder werden in der Kindheit geprägt», sagt Livia Suter. «Sie aufzubrechen, ist schwierig.» 
Um starren Vorstellungen entgegenzuwirken, braucht es ihren Ausführungen nach Selbstreflexion und eine Arbeitskultur, in der Klischees angesprochen und hinterfragt werden. «Mädchen richten ihre Not oft nach innen und wirken nach aussen daher stark und resilient», gibt die Autorin zu bedenken. Sie erlernten dieses Verhalten früh und ernteten dafür Anerkennung. «Sozialarbeitende sollten junge Frauen hingegen ermutigen, sich mit ihrem Geschlecht, ihren Bedürfnissen und ihren Sorgen auseinanderzusetzen.»

Livia Suter (30) hat in ihrer Bachelorarbeit untersucht, welche Rollenbilder Sozialarbeitende von Mädchen und jungen Frauen haben. Sie ist durch ihre Tätigkeit im Mädchenhaus Zürich auf das Thema aufmerksam geworden. «Obwohl man in diesem Umfeld sehr sensibilisiert ist, kommen stereotype Aussagen vor», sagt sie. Mädchen würden etwa als anständig und angepasst beschrieben. Suter hat für ihre Analyse die Höchstnote erhalten. Sie arbeitet weiter im Mädchenhaus Zürich.

Eine verstreute Unterkunft soll wieder Leben ins Dorf bringen

Corippo ist in seiner Existenz bedroht. Junge wandern ab, Ältere sterben weg. Aktuell leben noch 12 Personen im Tessiner Bergdorf, das an einem Steilhang im Verzascatal liegt und nur über eine einspurige Strasse erreichbar ist. «Mit einer Seilbahn könnte man es besser an die Hauptstrasse anbinden», sagt Timon Schmid, der ein Reaktivierungskonzept erarbeitet hat. 
Er schlägt eine unbediente Pendelbahn mit zwei Kabinen vor. In der Talstation würde er zusätzlich die Verwaltung, die Wäscherei sowie die Lagerflächen des Hotelbetriebes unterbringen. Aber auch Seminar- und Ausstellungsräumlichkeiten kann er sich hier vorstellen. Rund um das Gebäude sieht er Parkmöglichkeiten für Einheimische, Touristen und Besucher vor. 
Die Talstation soll zum wichtigsten Knotenpunkt werden, die Bergstation den Auftakt zum Dorf bilden. «Die Neubauten sind in einem Stil gehalten, der sich ins geschützte Ortsbild einfügt», sagt der ZHAW-Absolvent. Zu den rustikalen, mit Granit aufgeschichteten Steinhäusern schafft er in seinen Entwürfen mit Beton eine Affinität. Den Ausdruck der Fassaden nimmt er mit einem hohen Anteil an Wandflächen auf, die über präzis gesetzte Öffnungen verfügen. «Das Neue darf sich aber auch differenzieren», findet Schmid. Den Giebel des Kulturraumes stellt er daher – als einzigen im Dorf – parallel zum Gelände. Er zeigt auf, wie Hotelzimmer für rund 70 Personen, die Réception und ein Infopoint in der vorhandenen Bausubstanz eingerichtet werden könnten. Um die Wertschöpfung voranzutreiben, rät er zudem, das Kulturland wieder zu bewirtschaften, die alten Mühlen wieder in Betrieb zu nehmen und vor Ort lokale Produkte zu verkaufen.

Timon Schmid (28) ist in seiner Masterarbeit der Frage nachgegangen, wie im Tessiner Bergdorf Corippo eine «albergo diffuso» realisiert werden könnte. Eine verstreute Unterkunft soll Touristen anlocken und den Ort, der stark von Abwanderung betroffen ist, wiederbeleben. Durch den Hotelbetrieb und die Bewirtschaftung der Äcker sollen neue Arbeitsplätze entstehen. «Die Dorfgemeinschaft soll gestärkt und die Interaktion mit Gästen gefördert werden», sagt Schmid, der den Studiengang Architektur abgeschlossen hat. Er ist im Architekturbüro Froelich & Hsu in Zürich tätig.

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