Freilager Zürich: Vorbildlich – in vieler Hinsicht

19.06.2019
2/2019

Das zweite Leben der Lagerhallen: Wo neunzig Jahre zollfrei Waren lagerten, leben heute über 2000 Menschen sechsmal dichter als im städtischen Durchschnitt. Doch mit der Transformation des Freilagers ist ein stimmiges Stück Stadt entstanden.

Gegen Norden, zur Rauti­strasse hin, zeigt uns das Freilagerareal in Zürich die kalte Schulter. Hier stehen die drei Rautitürme. Ihre 40 Meter hohen Fassaden orientieren sich an berühmten Vorbildern in Le Havre, doch die Lage, Proportionierung und Gestaltung der Türme ist problematisch. Das zeigt sich unten, im Sockelgeschoss. Statt ein Scharnier hin zur Stadt zu bilden und Passanten willkommen zu heis­sen, rücken die Türme vom Strassenraum ab. Meterdicke Buchen­hecken schirmen die Erdgeschosse gegen das Trottoir ab.

Zusätzlich dominiert der motorisierte Verkehr den Vorbereich, der beim zweiten Turm in eine Tiefgarage saust. Auto­welt Schweiz heisst denn auch – völlig ironiefrei – einer der Mieter. Noch nicht alle Gewerbeflächen im Sockelgeschoss sind besetzt, obwohl das Freilager 2016 fertiggestellt worden ist. Der fehlende Bezug zum Strassenraum ist für Peter Jenni, Dozent am ZHAW-Institut Urban Landscape, ein Wermutstropfen. «Da hat das Freilager eine Chance vergeben», findet der Architekt und Städteplaner.

Viele andere Punkte seien hingegen vorbildlich umgesetzt worden: «Das Freilager zeigt, wie ein geschickter Umgang mit den historischen Wurzeln des Orts einem neuen Stadtquartier Lebendigkeit und Identität verleiht.» Geschichte weiterbauen ist hier kein leeres Schlagwort. Das Gebiet ist geprägt vom 1925 eröffneten Lager für Waren, die offiziell noch nicht in die Schweiz eingeführt wurden. Nach aussen war es hermetisch abgeschlossen, zolltechnisch galt das Areal ja als Ausland. Wir schlendern entlang der drei lang gezogenen Holzhäuser zur Ostseite. Hier zeugen gut genutzte, über­deckte ­Veloständer davon, dass wir ein ökologisches 2000-Watt-Areal mit reduzierter Parkplatzzahl vor uns haben. Jenni zeigt zum ehemaligen Portierhaus. «Dort sassen die Zöllner – und hier führten die Zufahrtsstrasse und die Bahngleise durch.» Heute wirkt der Zugang offen. Zum Verweilen lädt ein Anbau mit Restaurant ein, das sich auf Rindfleisch aus den argentinischen Freilandfarmen von Yello-Sänger Dieter Meier spezialisiert hat. Zwischen den beiden lang gezogenen ehemaligen Lagerhallen liegt die Marktgasse.

«In den Aussen­raum zu investieren, zahlt sich aus. Trotz dichter Bauweise fühlen sich die Leute dann wohl.»

Peter Jenni  

Quartierladen, Bistro, Kindergarten, Velogeschäft, Weinkontor und Grafikatelier mischen sich bunt mit Yogastudio, Bankomat oder Utensilien für urbanes Gärtnern. Das breite Angebot zeigt, dass die Vermietungs­praxis ein vielfältiges Angebot für die 800 Wohnungen im neuen Quartier höher gewichtet als die Rendite­maximierung auf diesen Ladenflächen. Drei Geschosse kamen durch eine Aufstockung auf die Backsteinlagerhallen drauf – ein stimmiger, sorgfältig proportionierter Mix.

Eine zweite Stärke ist der bewusste Umgang mit öffentlichen und privaten Räumen. Dazu gehört auch eine gewisse Unerschrockenheit: Die 135 Meter langen Lagerhallen wurden in der Mitte aufgeschnitten, um eine Querbeziehung zu schaffen. Dieser Durchgang führt weiter zum Südhof. Hier gibts keinen Gewerbesockel, gewohnt wird ab dem Erdgeschoss. Dennoch sind nirgendwo Schilfmatten oder Kübel­pflanzenhecken zu entdecken, die notdürftig etwas Sichtschutz bieten. Sie sind unnötig, weil die Architekten ihre Hausaufgaben gemacht haben: Die privaten Bereiche vor den Gartenwohnungen sind mit Backsteinmäuerchen mit Gartentor eingefasst. Wer hier wohnt, fühlt sich nicht ausgestellt, wer hier durchgeht, nicht als Voyeur. «Solche gut überlegten Lösungen sieht man leider viel zu selten», sagt Jenni.

Ein Durchgang quer durchs Haus Südhof führt in den Innenhof. Es grünt und blüht in einem Farbenspiel, das sich übers ganze Jahr erstreckt. Hier spielt der Garten die Hauptrolle, das Gebäude nimmt sich mit grauem Backstein zurück. Mit ihren leicht ausgedrehten Balkonen orientieren sich die Wohnungen Richtung Üetliberg und in die Landschaft statt auf­einander. Engegefühle kommen keine auf, obwohl das Freilager­areal mit rund 290 Personen pro Hektar recht vollgepackt ist. Das ist etwa sechs mal mehr als im städtischen Durchschnitt, der bei 48 Personen liegt. Damit ist das Freilager gleich dicht bewohnt wie die Blockrandgebiete Sihlfeld oder Gewerbeschule in den Stadtkreisen 4 und 5, die auf 300 Personen pro Hektar kommen. In den Aussenraum zu investieren, zahle sich aus, so Jenni: «Trotz dichter Bauweise fühlen sich die Leute dann nämlich wohl.»

Der angrenzende Bachwiesenpark steigert die Attraktivität für Familien mit Kindern, sofern sie dem oberen Mittelstand angehören. Denn das Stadtparlament lehnte 2008 einen Vorstoss ab, der ein Drittel gemeinnützigen Wohnungsbau forderte. Immerhin liegen auf der Westseite des Areals auch 200 güns­tige Studentenzimmer, die mit ­Gemeinschaftsküche vermietet werden. Überbordende Renditeerwartungen stutzte im Übrigen auch der Markt zurecht. Die «NZZ» berichtete 2017 unter dem Titel «Die Leere nach dem Boom», dass manche Mieten mangels Nachfrage bis zu 28 Prozent gesenkt werden mussten. So reduzierte sich der Netto­mietzins einer Maisonettewohnung zu­oberst in den Rauti­türmen von 5100 auf 4300 Franken pro Monat. Seither sind alle Wohnungen vermietet. Und wenn eine frei wird, ist sie rasch wieder besetzt.

Weitere Impressionen aus dem Freilager

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