Geburtshilfe: Eine ganz normale Ausnahmesituation

23.03.2021
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«Ist das normal?», fragen Frauen häufig, wenn die Geburt lange dauert oder besonders schmerzhaft ist. War die «normale Geburt» bis vor wenigen Jahren ein Fachbegriff und von der WHO definiert, ist die Bedeutung in der Praxis im Wandel.

Ende November hat Sarah Mohi ihr drittes Kind bekommen. Wie schon seine beiden Geschwister kam Tibor nach einer komplikationsarmen Schwangerschaft auf natürlichem Weg, und ziemlich schnell, auf die Welt. «Es war eine sehr schöne Geburt», sagt die 36-Jährige aus dem thurgauischen Bottighofen. «Ich bin sehr dankbar, dass ich drei Kindern das Leben schenken durfte.»

Das nennt die WHO normal

Sarah Mohis Erfahrung entspricht ziemlich genau der Definition der WHO einer normalen Geburt: «Das Baby liegt kopfabwärts im Mutterbauch, die Geburt beginnt spontan zwischen der 37. und 42. vollendeten Schwangerschaftswoche bei niedrigem Ausgangsrisiko und verläuft mit wenig Auffälligkeiten. Danach befinden sich Mutter und Kind in gutem Allgemeinzustand.» Trotzdem würde die dreifache Mutter den Begriff Normalität in diesem Zusammenhang nicht verwenden. «Für die werdenden Eltern, und vor allem für die Frau, ist eine Geburt grundsätzlich das Gegenteil von normal», findet Mohi. «Es handelt sich um eine absolute Extremsituation.»

Sie ist zwar sehr froh, dass der Geburtsvorgang bei allen drei Kindern natürlich verlaufen ist und sie keine grösseren medizinischen Interventionen benötigte. Wäre die Ausgangssituation jedoch riskant gewesen, hätte sie keinesfalls auf Biegen und Brechen an einer vaginalen Geburt festgehalten. «In gewissen Fällen ist auch ein Kaiserschnitt normal», findet sie.

Weniger Interventionen mit Beleghebamme

Sarah Mohi hat im Spital geboren, damit im Notfall schnell hätte eingegriffen werden können. Unterstützt wurde sie von der Beleghebamme Valentine Gschwend, die sie bereits während der Schwangerschaft begleitet hatte und die Familie nach der Niederkunft zu Hause betreute. Die freipraktizierende Hebamme aus Romanshorn ist zudem an der ZHAW als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bachelorstudiengang Hebamme tätig. Sie gehörte zu den ersten Absolventinnen des neuen Hebammen-Masterstudienganges und schrieb ihre Masterarbeit zum Thema «Geburtserfahrung der Mütter nach Beleghebammenbetreuung».

In einer Befragung von gegen 700 Frauen, die in verschiedenen Settings geboren hatten, konnte sie nachweisen, dass es mit einer Beleghebamme deutlich seltener zu medizinischen Interventionen wie etwa Geburts-Einleitungen, Periduralanästhesien und Kaiserschnitten kommt – also gemäss WHO-Definition vermehrt zu sogenannt normalen Geburten. Gleichzeitig zeigt Gschwend in ihrer Arbeit, dass die Mütter generell zufriedener sind und eine stärkere Bindung zum Neugeborenen erleben.

Das Gesunde stärken

«Die Geburt in den Händen der Hebamme bedeutet per se eine Rückbesinnung zum Normalen, Natürlichen und Gesunden», sagt Valentine Gschwend. Den Begriff Normalität würde sie aber niemals auf körperliche Parameter beschränken. «Am wichtigsten ist, dass Mutter und Kind gesund sind und dass die Frau gestärkt aus der Situation hervorgeht.» Dies könne auch bei einem Kaiserschnitt der Fall sein. Und auch Schmerzmedikamente oder eine Periduralanästhesie hätten manchmal ihre Berechtigung, stellt Gschwend klar. Zudem will sie nicht generell Kritik an den Ärzten üben. Ihr ist bewusst, dass diese von Berufs wegen stärker auf Komplikationen fokussiert sind als Hebammen.

Gut auf die Geburt vorbereitet

«Der Schlüssel zum Erfolg liegt bereits in der Schwangerschaft», sagt Gschwend. Eine kontinuierliche Betreuung durch dieselbe Fachperson könne die Frauen stärken, damit sie mit Selbstvertrauen in die Situation hineingehen. Wichtig sei auch, verständlich aufzuzeigen, wie der Körper beim Gebären arbeitet sowie welche verschiedenen Betreuungsarten und Geburtsorte möglich sind.

«Normalität ist für alle etwas anderes. Was eine Mutter als normal empfindet, muss noch lange nicht das Gleiche sein wie das, was die Hebamme darunter versteht.»

Astrid Krahl, Leiterin des Masterstudiengangs Hebamme

Weil eine Hebamme die Frauen bei Geburtsbeginn bereits kennt, kann sie ihren Zustand besser einschätzen. Günstig sei auch, wenn sich die werdende Mutter beim Beginn der Wehen in einem Umfeld bewegen kann, in dem sie sich wohlfühlt, also in den meisten Fällen daheim, erklärt Valentine Gschwend. «Mit dem Eintritt ins Spital entsteht die Erwartung, es müsse jetzt etwas passieren, obwohl die Geburt vielleicht noch gar nicht richtig begonnen hat. So kann es zu vorschnellen Eingriffen kommen.»

Gefühl der Normalität geben

Auch Hebammen-Studierende setzen sich mit dem Begriff «normale Geburt» auseinander. Besonders im Masterstudiengang analysieren sie, was er auf physiologischer, soziologischer und psychischer Ebene bedeutet. Normen gebe es zum Beispiel bei den im Blut und Urin gemessenen Werten, sagt Studiengangleiterin Astrid Krahl. Doch ansonsten sei die fixe Definition der WHO nur begrenzt hilfreich. «Normalität ist für alle etwas anderes. Was eine Mutter als normal empfindet, muss noch lange nicht das Gleiche sein wie das, was die Hebamme darunter versteht.»

Im geburtshilflichen Alltag werde die Bezeichnung vor allem von den Frauen selber verwendet, weiss Krahl. Wenn der Bauch während der Schwangerschaft öfters hart wird, die Geburt langsam vorangeht oder das Kind häufig schreit, fragen Frauen oft, ob das normal sei. «Unsere Aufgabe ist es dann, ihnen durch Informationen und Bestätigung die Unsicherheit zu nehmen», erklärt Krahl. «Die Frauen müssen einordnen können, ob alles gut läuft und wo sie stehen.» Somit mache der Begriff Sinn, obwohl er fachbegrifflich nicht exakt sei.

Zuversicht vermittelt

Auch Sarah Mohi erlebte bei ihren drei Schwangerschaften und Geburten Momente, in denen sie besorgt war. Etwa, als sie schon ab der 30. Woche wiederholt Wehen verspürte, als der Herzton- und Wehenschreiber (CTG) verlangsamte Herztöne registrierte oder als ihr kleiner Sohn eine leichte Gelbsucht entwickelte. Dennoch hätten sich die meisten dieser Probleme von selber wieder gelöst, blickt Mohi zurück. Sie schätzte es, dass sich ihre Beleghebamme Valentine Gschwend während der Geburt im Hintergrund hielt und ihr Ruhe und Zuversicht vermittelte. Die 32-jährige Hebamme ist  zurzeit übrigens selber schwanger. Und trotz ihrer Berufserfahrung fragt sie sich nun hin und wieder: «Ist das normal?»

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