Gesellschaftliche Integration im öffentlichen Raum

22.06.2021
2/2021

Auf Plätzen, in Parks und anderen öffentlichen Räumen kommen Menschen auf vielfältige Weise miteinander in Kontakt. Das kann ihr Gefühl von Zusammengehörigkeit und Verbundenheit mit dem Ort stärken. Welchen Einfluss die Gestaltung des Raums auf die Benützung hat, wurde in einem Forschungsprojekt untersucht.

Die Menschen sitzen auf den Holzskulpturen, benützen diese als Tische oder als Liegeflächen. Sie setzen sich auf den Boden, beobachten das Treiben von Treppenstufen aus oder treffen sich in den Nischen des Platzes: Der Lagerplatz in Winterthur wird von der Bevölkerung in der unterschiedlichsten Weise genützt. In den Gebäuden rund um den Platz wird gearbeitet, es gibt Restaurants, Werkstätten, Läden sowie Kultur- und Freizeitanlagen. Ein besonderer Treffpunkt ist die ehemalige Pförtnerloge, die zu einem Café umfunktioniert wurde.

«Man weiss wenig darüber, wo sich Menschen heute wirklich aufhalten.»

Stefan Kurath, Leiter des ZHAW-Instituts Urban Landscape

An einem solchen Platz begegnen sich Menschen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten: Alt und Jung, Einheimische und Fremde, mit unterschiedlichen Interessen und Identitäten, mit unterschiedlichen Motiven, den Platz zu besuchen. Im Idealfall können solche Begegnungen und Kontakte im öffentlichen Raum deshalb auch das Gefühl von Zusammengehörigkeit unter den Bewohnerinnen und Bewohnern und der Zugehörigkeit zum Ort stärken.

Anders ausgedrückt: Der öffentliche Raum trägt zur gesellschaftlichen Integration bei. Das ist die Grundannahme eines Forschungsprojektes, das Stefan Kurath, Leiter des Instituts Urban Landscape, zusammen mit dem Dozenten Philippe Koch und dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Simon Mühlebach durchgeführt hat. Die Studie mit dem Titel «Figurationen von Öffentlichkeit und ihr Beitrag zur gesellschaftlichen Integration» wurde im Rahmen des Forschungsschwerpunktes Gesellschaftliche Integration von der ZHAW finanziert. «Gesellschaftliche Integration ist ohne Begegnung und Austausch im öffentlich gemachten Raum kaum vorstellbar», schreiben die Autoren im Buch zum Projekt, das im Juni 2021 erscheint (vgl. Buchhinweis am Ende).

Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum

Zwei Fragen standen bei der Untersuchung im Zentrum: Wie benützt der Mensch einen öffentlichen Raum? Und welchen Einfluss hat die Gestaltung des Raums auf die Benützung? Denn für die Forscher ist die Wechselwirkung zwischen Raum und Mensch entscheidend: «Der Mensch eignet an, der Raum lässt Aneignungen zu», umschreibt dies Kurath. Solche Räume sind nicht per se öffentlich, sondern werden erst durch den Menschen öffentlich gemacht. «Dieser Aspekt ist bisher in der Diskussion um den öffentlichen Raum zu kurz gekommen», so Kurath. Öffentliche Räume seien in den letzten hundert Jahren in der Raumplanung und Raumentwicklung empirisch vernachlässigt worden. «Man weiss wenig darüber, wo sich die Menschen heute wirklich aufhalten.»

«Zombie-Urbanismus»

Architekten und Architektinnen gehen bei der Gestaltung und der Form des Raums oft von einer konkreten Vorstellung davon aus, welche Leute sich wo aufhalten und wie sie sich verhalten, wo sie sitzen, wo sie gehen sollen. Solche überdeterminierten Räume, wie sie insbesondere in Innenstädten vorkommen, werden auch unter dem Begriff «Zombie-Urbanismus» versammelt. Sie richten sich ganz direkt an eine bürgerliche, konsumorientierte Klientel. Da geht es oft auch darum, Aneignungen durch unerwünschte Personen zu verhindern. «Man weiss fast besser, wie durch Gestaltung Öffentlichkeit verhindert denn befördert werden kann», so Kurath.

Untersuchungsgegenstand: drei Plätze und ein Park

Europaplatz in Bern ist ein Verkehrsknoten im Stadtteil Holligen. Auch wenn der Platz, über den die Autobahnbrücke führt, wenig einladend wirkt, so wird er doch vielfältig in Anspruch genommen.

Am Europaplatz  kreuzen sich Pendler, Skater treffen sich und im Schatten der Säulen sitzen Gruppen und Einzelpersonen.

Der Europaplatz ist ein Treffpunkt für Jugendliche, ein Ort, wo man wartet und sich über nonverbale Kommunikation integriert, und ein Ort für Manifestationen.

Um zu verstehen, wie Räume öffentlich werden, wurden vier Orte in der Deutschschweiz untersucht: der Lagerplatz in Winterthur, der Richtiplatz in Wallisellen, der Europaplatz in Bern und der Murg-Auen-Park in Frauenfeld. Der Richtiplatz liegt im Zentrum des mit Büros und Wohnungen neu bebauten Areals zwischen Bahnhof Wallisellen und dem Einkaufszentrum Glatt. Der Murg-Auen-Park ist ein eher am Rande von Frauenfeld gelegenes Naherholungsgebiet, und der Europaplatz in Bern ist ein Verkehrsknoten im Stadtteil Holligen. Alle wurden in den letzten Jahren umgestaltet und gelten bei Architekten und Stadtplanerinnen als gelungene öffentliche Räume.

Der Richtiplatz in Wallisellen liegt im Zentrum des mit Büros und Wohnungen neu bebauten Areals zwischen Bahnhof Wallisellen und dem Einkaufszentrum Glatt.

Der Richtiplatz ist vor allem von Berufstätigen am Mittag bevölkert.

Mit unterschiedlichen Methoden, darunter Personenflussmessungen, Messungen der Personendichte mit Telekommunikationsdaten, Fotografie, Social-Media- und Medienanalysen sowie Beobachtungen vor Ort, wurde gemessen, wie die Menschen die Orte benützen: Ob sie gehen oder sitzen, wie lange sie dies tun und zu welcher Tageszeit. Der interdisziplinäre Forschungsansatz vereint Raumtheorien aus Architektur und Soziologie und nimmt ethnografische und politologische Ansätze auf.

Der Murg-Auen-Park ist ein eher am Rande von Frauenfeld gelegenes Naherholungsgebiet.

Der Murg-Auen-Park wird mittags und abends besucht. Während des Lockdowns war er noch beliebter als sonst.

Während der Richtiplatz vor allem von Berufstätigen am Mittag bevölkert wird und der Murg-Auen-Park mittags und abends, haben der Lagerplatz und der Europaplatz in Bern eine durchgehendere Aneignung gezeigt: Die Plätze werden von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu unterschiedlichen Tageszeiten besucht. Am Europaplatz kreuzen sich Pendler, Skater treffen sich und im Schatten der Säulen sitzen Gruppen und Einzelpersonen. Auch wenn der Platz, über den die Autobahnbrücke führt, wenig einladend wirkt, so wird er doch vielfältig in Anspruch genommen. «Der Platz ist sehr offen gestaltet, er hat viele Spielräume für Aneignungen», sagt Kurath: «Er ist ein Treffpunkt für Jugendliche, ein Ort, wo man wartet und sich über nonverbale Kommunikation integriert, und ein Ort für Manifestationen.»  

Neue Aneignungen im Lockdown

Das Forschungsprojekt wurde vor einem Jahr auch während des Corona-bedingten Lockdowns durchgeführt. Öffentliche Plätze wie Bahnhöfe waren auf einen Schlag menschenleer. Die Menschen wichen in Parks und in Zürich an die Quaianlagen aus, worauf auch diese gesperrt wurden. Die Folge: Die Menschen eigneten sich neue Räume an, sie wichen zum Beispiel in landwirtschaftlich genutzte Gebiete aus.

Das erlaubte den Forschern neue Fragen: Welche Orte suchen Menschen auf, wenn die Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist und Arbeit und Konsum nicht möglich sind? Die grössten Unterschiede zeigten sich an den Wochenenden: Während der Richtiplatz, wie schon vorher, auch im Lockdown an den Wochenenden wenig besucht wurde, hielten sich im Murg-Auen-Park dagegen an den freien Tagen viel mehr Menschen auf als in der Vergleichsperiode im Jahr 2019. Der Europaplatz, der zu normalen Zeiten auch am Wochenende gut besucht ist, verlor ebenfalls an Bedeutung. Kontinuierlich belebt war hingegen der Lagerplatz. Was zeigt: Orte werden auch von ihren Funktionen bestimmt – fallen diese weg, fehlen auch die Menschen.

Die Vielfalt bestimmt das Integrationspotenzial

Das Fazit: Je mehr Möglichkeiten der Einzelne hat, sich in einem öffentlichen Raum aufzuhalten und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, desto mehr sorgt ein Raum auch für die Integration in die Gemeinschaft. Um die gesellschaftliche Integration zu fördern, sollte für Aneignungen und Begegnungen das ganze Potenzial vorhandener Räume wie zentral gelegene Plätze, Parks, Gärten, aber auch Brachen und Siedlungsränder genützt werden. Gerade die Corona-Krise habe klar gezeigt, wie wichtig öffentliche Räume seien: «Der Mensch hat ein Grundbedürfnis, sich ausserhalb seiner Wohnung auf neutralem Raum zu treffen und sich frei zu bewegen», sagt Kurath.

Das Projekt wird auch an der ZHAW-Tagung «Flüchtige Zugehörigkeiten – nachhaltige Teilhabe» im September präsentiert (siehe Veranstaltungshinweis Seite 57).

Philippe Koch, Stefan Kurath, Simon Mühlebach: Figurationen von Öffentlichkeit ‒ Herausforderungen im Denken und Gestalten von öffentlichen Räumen. Institut Urban Landscape (Hrsg.), Triest Verlag, 2021

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