Ingenieurstudium trotz Tetraplegie

03.12.2019
4/2019

Samuel* hatte mitten in seinem Ingenieurstudium einen Badeunfall und ist seither vom Hals abwärts gelähmt. Nun hat er seinen Bachelor trotzdem gemacht, und das unter gleichen Bedingungen wie seine Mitstudierenden.

Samuel hat etwas geschafft, das eigentlich unmöglich ist. Der vom Hals abwärts gelähmte junge Mann hat ein Studium abgeschlossen, das zu einem grossen Teil aus praktischer Laborarbeit besteht. Das Unmögliche möglich gemacht haben Samuels Wille, technische Hilfsmittel und der unermüdliche Einsatz seiner Dozierenden. Sie ersetzten praktische Arbeiten durch theoretische und organisierten schriftliche Prüfungen zu mündlichen um. Höchstes Gebot bei all diesen Anpassungen war, das Niveau des Studiums unter keinen Umständen zu senken. «Uns war wichtig, dass Samuels Studium die gleiche Qualität hat wie das seiner Mitstudierenden, dass er ein gleichwertiges Diplom erhält», erklärt Thomas Wenzler, Studienleiter Maschinentechnik an der ZHAW School of Engineering.

Auf dem Badi-Steg ausgerutscht

Der einschneidende Unfall geschah 2014 in der Limmat-Badeanstalt Oberer Letten in Zürich. Samuel rutschte auf dem Steg aus und fiel im Wasser auf ein Betonelement. Nach zwei Tagen erwachte er im Spital und war vom Hals abwärts gelähmt. Er stand damals im zweiten von drei Jahren seines Bachelors in Material- und Verfahrenstechnik. Für viele wäre das ein Grund gewesen, das Studium aufzugeben. Nicht aber für Samuel: «Ich habe immer versucht vorwärtszuschauen. Und das Studium hat mir auch etwas gegeben.» Es habe ihn dazu gezwungen, unter die Leute zu gehen und nicht zu Hause zu vereinsamen.

«Wir mussten umdenken und uns überlegen, wie wir Themen so umformulieren können, dass sie mehr auf der kognitiven Ebene lösbar sind.»

Studienleiter Thomas Wenzler

Die grössten Hürden, die Samuel für sein Ingenieurstudium überwinden musste, waren physischer Natur. «Labore sind für Menschen ohne Behinderung gebaut – von der Tischhöhe über die Bedienung der Maschinen bis zur Einhaltung der Sicherheitsvorschriften», erklärt Wenzler. Samuel sei durch seinen Unfall plötzlich von einem Grossteil der Experimente ausgeschlossen gewesen. «Wir mussten umdenken und uns überlegen, wie wir Themen so umformulieren können, dass sie mehr auf der kognitiven Ebene lösbar sind.» Samuels Dozenten legten dazu mehr Gewicht auf Dinge wie das Literaturstudium oder Modellierungsansätze statt auf Versuche. Dinge, bei denen der Student wirklich nur Kopf, Tastatur und Computer brauchte. Für diese Anpassungen habe es die Zusammenarbeit aller Beteiligter gebraucht, erklärt Wenzler.

Noch vor zehn Jahren undenkbar

Dank technischer Hilfsmittel kann Samuel über verschiedene Kanäle kommunizieren. Mithilfe einer Hand, die er teilweise bewegen kann, bedient er über den Rollstuhl einen Computer. Die Maustasten steuert er mit dem Kopf. Zum Schreiben verwendet Samuel eine Kombination aus klickbarer Tastatur auf dem Bildschirm und Spracherkennungsprogrammen. Klar bedeute das für ihn einen grösseren Aufwand, erklärt der angehende Ingenieur. Er hat zum Beispiel für das Schreiben einer Arbeit etwa eineinhalb- bis zweimal so lang wie seine Studienkolleginnen und -kollegen, schätzt er. Doch Samuel sieht das auch als Chance: «Auf der anderen Seite hat die Spracherkennung auch Vorteile, zum Beispiel wenn man beim Schreiben mit seinen Gedanken gerade im Flow ist.» Fakt ist, dass die technische Entwicklung Samuel in die Hände gespielt hat. Noch vor zehn Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass ein Tetraplegiker ein Ingenieurstudium abschliesst.

«Im Labor anwesend zu sein, war wichtig für mich. Ich sah, wie man mit den Geräten umgeht, konnte mitdenken und auch den Schlussbericht verfassen.»

Samuel

Abgesehen von den technischen Möglichkeiten waren es auch die Dozierenden, die das Unmögliche möglich gemacht haben. Einer von ihnen war quasi der Mann der Stunde, um schnell eine Lösung zu finden, damit Samuel weiterstudieren konnte: Arnd Jung. «Wir mussten aus jahre- und sogar jahrzehntelanger Tradition ausbrechen und völlig neue Wege beschreiten», erklärt der Dozent für Werkstofftechnik. Die grösste organisatorische Herausforderung war laut Jung die Umstellung der Prüfungen auf mündliche Formen. Erstens mussten alle Dozierenden einbezogen werden, weil alle Prüfungen betroffen waren. Zweitens mussten Fragen um- oder neuformuliert und jeweils ein zusätzlicher Dozierender einbezogen werden, der etwas von der Materie verstand.

Den ganzen Stoff vermittelt

«Uns war wichtig, dass wir den ganzen relevanten Stoff vermitteln konnten», erklärt Thomas Wenzler. «Auch die Bachelorarbeit hat Samuel verfasst.» Klar habe es gewisse Gebiete gegeben, die wir Samuel nicht eins zu eins vermitteln konnten, zum Beispiel die Durchführung von Versuchen. Das hielt Samuel aber nicht davon ab, meist auch im Labor anwesend zu sein: «Das war wichtig für mich. Ich sah, wie man mit den Geräten umgeht, konnte mitdenken und auch den Schlussbericht verfassen.»

Die ganze Klasse half mit

Aber nicht nur die Dozierenden halfen mit, sondern auch Samuels Studienkolleginnen und -kollegen. «Es hat zum Beispiel einen Whats-App-Klassenchat gegeben für den Fall, dass ich kurzfristig Hilfe brauchte», erklärt Samuel. «Doch die Hilfe, die ich während des Studiums benötigte, habe ich auf ein Minimum beschränkt: mal ein Glas zum Trinken geben, in der Mensa beim Essen helfen oder in den Vorlesungen Notizen nehmen lassen.» Eigentlich hätte Samuel für sein Studium Anspruch auf eine bezahlte studentische Assistenz gehabt. Doch weil seine Mitstudierenden ihn von Anfang an unterstützten und er so selbstständig wie möglich sein wollte, war das gar nicht nötig.

Beratungsangebote

Im Hintergrund haben verschiedene Stellen innerhalb und ausserhalb der ZHAW diese Sonderleistung möglich gemacht. Dazu setzten sich Spezialistinnen und Spezialisten aus der Rehabilitation, Ansprechpersonen der IV-Beratung, die Stabsstelle Diversity der ZHAW sowie Thomas Wenzler und Arnd Jung vom Studiengang an einen Tisch. Doch ohne Samuels Durchhaltewillen wäre das Ganze nicht möglich gewesen. Arnd Jung bezeichnet das, was Samuel geschafft hat, denn auch als «Metamorphose»: «Das Studium der Material- und Verfahrenstechnik ist sehr experimentierlastig. Der Wechsel, den Samuel vollzogen hat, ist extrem gravierend.»

Wie sieht Samuels Zukunft aus?

Doch eine Frage bleibt: Wird Samuel überhaupt jemals als Ingenieur arbeiten können? Um es gleich vorwegzunehmen: Die Antwort lautet Ja. «Ich habe mit der Bachelorarbeit die Chance bekommen, mit dem Programmieren einmal in einen anderen Bereich zu schauen», erklärt Samuel. Er könne sich gut vorstellen, in diesem auch für Ingenieure immer wichtigeren Umfeld später einmal tätig zu sein. Auch habe er während des Studiums ein Netzwerk aufbauen können, das ihm bei seiner Jobsuche helfen werde. Zudem ist er daran, sich weiterzubilden. Eines hat sich seit dem Unfall nicht verändert: Samuel beschreitet weiterhin neue Wege und unternimmt alles, um das Unmögliche möglich zu machen.

Lebenssituation von Studierenden mit Behinderungen an der ZHAW

Hochschulen sollen allen Studierenden einen chancengleichen und diskriminierungsfreien Zugang gewährleisten und eine lebenslange Fortbildung sichern. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), welche 2014 von der Schweiz ratifiziert wurde und am 15. Mai 2014 in Kraft gesetzt wurde, konkretisiert die Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen und formuliert im Artikel 24 einen Rechtsanspruch auf Inklusive Bildung. Das Ziel der Konvention ist es, durch die Achtung der unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen deren Lebensbedingungen so zu gestalten, dass ihnen eine gleichberechtigte Ausübung aller Menschenrechte ermöglicht wird. Dabei sollen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Menschen mit Behinderungen eine Partizipation am sozialen Leben ermöglichen.

Im Auftrag der Stabsstelle Diversity hat das ZHAW-Departement Angewandte Psychologie eine Studie zur Lebenssituation von Studierenden mit einer Behinderung an der ZHAW durchgeführt. Die Stabsstelle Diversity hat die Resultate der Umfrage in einen grösseren Zusammenhang gebettet und als Broschüre (PDF 1,3 MB) herausgegeben. Darin gibt sie Einblick in einen Teil ihrer fachlichen Arbeit. Themen wie hindernisfreie Didaktik oder Beratungsangebote kommen genauso zur Sprache wie Möglichkeiten zur Anpassung von Prüfungen oder Gruppenarbeiten für Menschen mit Behinderung (Nachteilsausgleich). Drei Porträts von Studierenden zeigen ganz unterschiedliche Herausforderungen und Karrieren von Menschen mit Behinderung an der ZHAW.

Das «Netzwerk Studium und Behinderung Schweiz» hat eine Webseite geschaffen, die Studierende mit Behinderung und Hochschulen dabei unterstützt, bauliche, technische und institutionelle Barrieren zu beseitigen.

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