Mehr Lebensqualität in den Städten trotz Verdichtung

2/2019

Wie können Städte qualitativ wachsen, bezahlbare Wohnungen und Gewerberaum schaffen sowie Grünräume bewahren? Ein Interview mit dem Zürcher Stadtrat André Odermatt und dem ZHAW-Professor Stefan Kurath.

Weshalb zieht es so viele Menschen in die Städte?

Stefan Kurath: Die Stadt der kurzen Wege, also Alltagsversorgung, Kultur, Freizeit und Arbeit am selben Ort, ist heute wieder gefragt. Das war nicht immer so. Von den 1960ern bis 1990ern gab’s in der Schweiz eine regelrechte Stadtflucht. Die Stadt hatte keinen guten Ruf. Heute liegt die Stadt wieder im Trend, insbesondere bei Studierenden, jungen, gut gebildeten Personen, aber auch bei den Senioren, die aus ihren zu gross gewordenen Einfamilienhaussiedlungen zurück in die Stadt ziehen. Deshalb ist auch der Anteil an Ein- und Zweipersonenhaushalten markant gestiegen.

André Odermatt: Dazu kommt, dass Familien heute nicht mehr spätestens mit dem zweiten Kind raus aus der Stadt ziehen. Das ist eine gute Entwicklung und zusammen mit der Zu- respektive der Zurückwanderung ausschlaggebend für das anhaltende Wachstum. Damit das Wachstum ein qualitätsvolles Wachstum ist und bleibt, ist es aber entscheidend, dass wir die genannten Errungenschaften erhalten und sogar ausbauen. Und dass wir darauf achten, dass bei allem Wachstumsdruck die soziale Durchmischung bestehen bleibt, es also durch die Beliebtheit unserer Stadt und der verschiedenen Quartiere nicht zu Verdrängungseffekten kommt.

Wie wohnen Sie?

Odermatt: In einer Wohnung in Wipkingen, einem dichten und gleichzeitig gut durchgrünten Quartier. Dort finde ich in Geh- und Velodistanz eigentlich alles, was für mich zu einem Leben in der Stadt dazugehört. Womit wir wieder bei der eingangs erwähnten Stadt der kurzen Wege wären.

Kurath: Ich wohne am Stadtrand. Aber nicht, wie man sich das vorstellt, von Wald und Wiesen umgeben, sondern in Altstetten. Hier schliesst das Limmattal direkt an die Stadtgrenze von Zürich an. Damit zeigt sich ein grosser Widerspruch zwischen Stadt als Organisationsform und Stadt als grenzüberschreitendem Funktionalraum, der dadurch bestimmt ist, wie Menschen im Alltag, also durch Wohnen, Arbeiten, Freizeit, sich in den Stadtlandschaften bewegen. Da mich Letzteres als Architekt und Urbanist interessiert, muss ich meine Antwort korrigieren. Ich wohne mitten in der Stadt. Auch wenn ich vor einigen Monaten tatsächlich im Stadtzentrum von Zürich gewohnt habe, wohne ich heute funktionalräumlich gesehen am Stadtrand zentraler als vorher – schlicht, weil die Erschliessungslage durch öffentlichen Verkehr in Altstetten hervorragend ist.

2040 soll Zürich eine Stadt mit 520'000 Einwohnern sein. Rund 100'000 mehr als heute. Welche Stadtentwicklung braucht es, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden?

Odermatt: Für eine qualitätsvolle Entwicklung braucht es in erster Linie eine sorgfältige Koordination. Man muss sich bewusst sein: Die baulichen Reserven für dieses Wachstum sind grundsätzlich in der gültigen Bau- und Zonenordnung vorhanden. Rein theoretisch könnten wir, wenn wir überall an die Ausnutzungsgrenzen gingen, ohne Um- oder Aufzonierungen Wohnraum für gut 250'000 zusätzliche Einwohnerinnen und Einwohner schaffen. Damit ist es aber bei Weitem nicht getan! Die grosse Herausforderung ist es, auch die benötigten Infrastrukturen – Schulen, Wachen, Sportanlagen – bereitzustellen. Und zwar rechtzeitig und am richtigen Ort. Ebenfalls müssen wir unsere Freiräume sichern und gegebenenfalls auch neue schaffen. Und nicht zuletzt müssen wir sicherstellen, dass das Wachstum und die damit einhergehende bauliche Verdichtung vermehrt dort stattfindet, wo es aus planerischer Sicht besonders sinnvoll ist.

Wo ist das?

Odermatt: Das ist dort, wo die Verkehrserschliessung und die Versorgung mit erneuerbaren Energien bereits heute gut sind. Und dort, wo ohnehin Bedarf besteht für eine bauliche Erneuerung. Denn weil es die grüne Wiese in der Stadt kaum gibt, landen wir heute meistens bei der Verdichtung im Bestand, beim Ersatzneubau. Umso wichtiger ist es, dass wir auch die soziale Komponente der Entwicklung sehr sorgfältig beobachten und begleiten.

Kurath: In den 1960er Jahren lebten bereits einmal rund 12’000 Personen mehr in Zürich als heute, und das, obwohl seitdem mehr Wohnraum und auch Verkehrsfläche dazugekommen sind. Das heisst unter anderem, dass heute weniger Personen mehr Wohn-, aber auch Verkehrsflächen nutzen. Dieser räumlichen Wachstumsphase sind Grenzen gesetzt. Unter anderem ist das Bauland knapp geworden. Dies bedingt, dass dichter gebaut, Alltagsversorgung in den Quartieren sichergestellt wird, Arbeitsplätze geschaffen und Wohnraum wie Verkehrsflächen intelligenter genutzt werden.

Was bedeutet intelligenter?

Kurath: Indem man beispielsweise den Raumanspruch pro Person bei Wohnen oder für den Verkehr reduziert, Verkehr effizienter abwickelt, aber vor allem auch durch gezielte Angebote im öffentlichen Verkehr reduziert, Synergien im Gebrauch nutzt, temporäre Nutzungsüberlagerungen andenkt. Über den gewachsenen Wohnraumanspruch aufgrund von Wohlstand habe ich schon gesprochen. Im Winter nach dem Schneefall sieht man aufgrund der Fahrspuren auch eindrücklich, wie viel Strassenraum vorhanden ist und wie wenig es effektiv braucht.

Muss man Urbanisierung planen, damit sie zu Lebensqualität und Wohlstand führt? Oder ist die durchgeplante Stadt heute ein Feind guter Stadtentwicklung?

Odermatt: Der Begriff «durchgeplant» suggeriert, es würden sämtliche Aspekte der Entwicklung kontrolliert. Das entspricht weder der Realität, noch ist es erstrebenswert. Wenn wir aber über Planung als vorausschauende, koordinierende, den Wandel antizipierende Kraft sprechen: Unbedingt! Ich sehe nicht, wie ohne sorgfältige Planung ein nachhaltiges Wachstum möglich wäre. Und zwar in allen drei Dimensionen der Nachhaltigkeit: der ökologischen, der ökonomischen und der sozialen.

Kurath: Urbanisierung bezeichnet die Veränderung der Lebensweise durch den wachsenden Anteil der Stadtbewohner, also der Bewohner des Funktionalraums Stadt. Das heisst, dass ein Grossteil der Schweizer und Schweizerinnen einen urbanen Lebensstil leben – selbst wenn das einige verneinen würden. Die Veränderung der Lebensstile kann man nicht planen, hingegen die Auswirkungen der Lebensstile auf den Raum. Das ist der Inhalt von Architektur und Städtebau. Deren Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Urbanisierung eben nicht zu blosser Verstädterung der Kulturlandschaft, sondern zu Stadträumen mit Aufenthalts- und Lebensqualität führt. Architektur und Städtebau setzen Rahmenbedingungen so, dass alle sich gleichermassen entfalten können und nicht Einzelne auf Kosten anderer.

Was kennzeichnet für Sie eine Stadt?

Odermatt: Stadt entsteht dort, wo viele Menschen unterschiedlicher Art aufeinandertreffen und sich dadurch miteinander auseinandersetzen müssen. Eine hohe bauliche und soziale Dichte kann diesen Prozess befördern, macht für sich allein aber noch keine Stadt aus. Das zeigen verschiedenen Beispiele von geplanten «Idealstädten», die mit Urbanität am Ende aber wenig zu tun haben.

Kurath: Aus Sicht von Architektur und Städtebau robuste Frei- wie Innenräume, die unterschiedlichste Aneignungen durch Menschen, Flora und Fauna zulassen, ohne dass man sie permanent umbauen muss, sowie hochwertige Raumqualität mit Wiedererkennungswert. Aus gesellschaftlicher Sicht Vielfalt und Offenheit.

«Wenn wir die Stadt Zürich mit der Innenstadt von Genf, Wien oder München vergleichen, sehen wir, wie viel Verdichtungspotenzial in der Gesamtstadt Zürich brachliegt.»

Stefan Kurath

Wie geht es weiter nach dem Nein zur Zersiedelungsinitiative? Werden die Städte noch enger, verschwinden Grünräume zugunsten von Wohnraum und Strassen? Wo kann man noch verdichten, ohne dass Sozialverträglichkeit, Stadtklima und Grünräume leiden?

Kurath: Enger, verschwinden, leiden… dieses Dramatisieren ist unnötig. Das durch die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger angenommene revidierte Raumplanungsgesetz fordert eine Entwicklung nach innen. Das heisst, dass das Bauland nicht mehr weiter unnötig auf Kosten der Kulturlandschaft ausgeweitet wird. Wenn Bauland knapp wird, muss man damit sorgsamer umgehen und insbesondere im Bestand nachverdichten. Wenn wir beispielsweise den Siedlungsbestand von Wallisellen mit dem der Stadt Zürich vergleichen, zeigt sich, wie viel Verdichtungspotenzial in Wallisellen brachliegt. Wenn wir die Stadt Zürich mit der Innenstadt von Genf, Wien oder München vergleichen, sehen wir, wie viel Verdichtungspotenzial in der Gesamtstadt Zürich brachliegt. Genf, Wien oder München gehören wie die Stadt Zürich zu den Top 10 der lebenswertesten Städte weltweit. Vorausgesetzt, dass man die Innenentwicklung städtebaulich und architektonisch gut umsetzt, haben wir nichts zu verlieren.

«Wenn wir qualitätsvoll verdichten und die Nutzungen konzentrieren, brauchen wir am Ende weniger Strassen und  können – auch in den Städten selber – mehr Grünraum freispielen.»

André Odermatt

Odermatt: Wir müssen die Chancen anschauen, die sowohl für die urbanen Siedlungsräume wie auch für die Landschaft weit überwiegen. Wenn wir qualitätsvoll verdichten und die Nutzungen konzentrieren, brauchen wir am Ende weniger Strassen. Und wir können – auch in den Städten selber – mehr Grünraum freispielen. Aber natürlich gibt es bei allen Chancen auch etliche Herausforderungen zu meistern, etwa beim von Ihnen angesprochenen Thema Stadtklima: Wie gelingt es uns, der im Zuge der Verdichtung zunehmenden Erwärmung des Stadtkörpers entgegenzuwirken? Um solche Fragen geht es im «Masterplan Stadtklima», den wir gegenwärtig über verschiedene Departemente hinweg erarbeiten.

Im Leitfaden «Sozialräumliche Aspekte beim Planen und Bauen» der Abteilung Stadtentwicklung heisst es, «die bauliche Verdichtung soll sozialverträglich erfolgen». Wichtig seien «Massnahmen zugunsten jener Bevölkerungskreise, die wenig Optionen auf dem Wohnungsmarkt haben». Wie kann man das erreichen? Ersatzneubauten sind meist viel teurer.

Kurath: Die Miete lässt sich nur gering halten, wenn man das Land schon besitzt, also Bauland nicht zum aktuellen Marktpreis hinzukaufen muss und nicht eine unverschämt hohe Rendite draufschlägt. Hier sind die jetzigen Grundbesitzer, also Stadt, Genossenschaften und auch Private, gefordert. Die Stadt kann zudem Anreize setzen durch Vergabe von Bauland im Baurecht und die Auflage, Wohnungen zur Kostenmiete zu erstellen, oder die Möglichkeit zur höheren Ausnutzung eines Areals, wenn im Gegenzug anteilig Wohnungen in Kostenmiete erstellt werden. Dass Ersatzneubauten viel teurer sind als aufwendige Sanierungen und Aufstockungen, stimmt nicht. Allerdings hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass aufgrund des heutigen Wohnflächenbedarfs pro Person Ersatzneubauten nicht unbedingt mehr Wohnungen aufweisen als die ersetzten Bauten. Das auch nicht, obwohl das Volumen grösser geworden ist. Ersatzneubau ist auch nicht immer sozialverträglich, weil die Bewohner in der Regel aus dem Quartier wegziehen müssen und sich auch die neuen Wohnungen nicht mehr leisten können. Es gilt also, situativ abzuwägen, wann ersetzt und wann erweitert und saniert werden soll.

«Der neue Wohnungsmix beim Ersatzneubau geht viel stärker auf die Nachfrage ein. So, dass nicht lauter Dreizimmerwohnungen durch Einzelpersonen belegt sind.»

André Odermatt

Wie will bzw. kann man bezahlbaren Wohnraum schaffen?

Odermatt: Bei den gemeinnützigen Bauträgern ist durch die Verpflichtung zur Kostenmiete gewährleistet, dass sich die Mieten auch nach Sanierung und Ersatz in einem preisgünstigen Rahmen bewegen. Dazu kommt ein gewisser Anteil an subventionierten Wohnungen. Die Aussage, dass nach einem Ersatz am Ende weniger Wohnungen rausschauen, kann ich so – zumindest für die Stadt Zürich – nicht bestätigen. Selbst wenn nicht-gemeinnützige Bauträger heute ihre Siedlungen ersetzen, führt das im Gegenteil meist zu mehr Wohnungen. Was diese dann kosten und wer sich diese noch leisten kann, das steht auf einem anderen Blatt – hier haben wir es sicher mit einer sozialen Herausforderung zu tun. Was die gemeinnützigen Bauträger angeht, kann ich mit Sicherheit sagen, dass beim Ersatzneubau nicht nur die Wohnungszahl, sondern in aller Regel auch die Bewohnendenzahl steigt. Und zwar überproportional zur Anzahl Wohnungen. Weil der neue Wohnungsmix viel stärker auf die Nachfrage eingeht. So, dass eben nicht lauter Dreizimmerwohnungen durch Einzelpersonen belegt sind.

Bis ins Jahr 2050 soll der Anteil gemeinnütziger Wohnungen in Zürich einen Drittel der Mietwohnungen ausmachen. Wie kann das erreicht werden?

Odermatt: Das ist der ausgesprochene Wille der Stadtzürcher Bevölkerung, und so steht es in der Gemeindeordnung. Erreicht werden kann das nur durch die konsequente Vergabe von Bauland an gemeinnützige Bauträger, durch den Erwerb von Liegenschaften durch Stiftungen oder indem die Stadt gleich selber baut, was sie nun auch vermehrt wieder macht: Gegenwärtig entstehen gleich mehrere grosse städtische Siedlungen. Schliesslich gibt es die Möglichkeit von planerischen Massnahmen: indem planungsbedingte Mehrwerte, die durch Um- oder Aufzonungen entstehen, ausgeglichen und Anteile an preisgünstigem Wohnraum auch von renditeorientierten Akteuren eingefordert werden.

Wo steht man da heute? Mit einem guten Viertel gemeinnützigen Wohnungen stehen wir heute sicher nicht schlecht da, gleichzeitig sind wir noch lange nicht am Ziel. Und nicht vergessen dürfen wir: Der Drittelsanteil ist eine dynamische Grösse. Wenn das Ziel erreicht ist, gilt es, diesen Anteil auch zu halten.

Zürich gehört zu den lebenswertesten und beliebtesten Städten der Welt. Damit das so bleibt: Wie sieht Ihr Zürich der Zukunft aus? Wann beginnt diese Zukunft?

Kurath: Tatsächlich ist es ein Problem, dass zu sehr von all dem gesprochen wird, was sich verändern soll, und zu wenig von dem, was sich nicht verändern soll. Ich wage die These, dass sich Zürich in ihrer Grundstruktur, also Strassen- und Freiraumstruktur, nicht allzu sehr verändern wird. Die Geschichte der gebauten Stadt zeigt dies bereits wunderbar auf. Badenerstrasse, Gleisfeld, Bellerivestrasse, Hottingerstrasse, Kaserne, Sihlhölzli, Limmatraum, Lindenhof, Botanischer Garten, Langstrasse, Bäckeranlage, Werdinsel, Sihlfeld, Altstetten sind räumliche Strukturen, die seit mehr als hundert Jahren Bestand haben. Sie werden auch die nächsten hundert Jahre Bestand haben, und dies auch trotz der Entwicklung nach innen. Entlang von diesen Strukturen wird dichter gebaut werden. Dass dabei Stadtklima, Freiraumanteil, Aufenthaltsqualität und Nutzungsmischung nicht leiden, dafür müssen Stadtpolitik und Stadtverwaltung sorgen. Und das tun sie auch.

«Stadt als hochpolitische Angelegenheit bedingt eben auch, dass man das Experiment wagt, sich exponiert, Verantwortung übernimmt, um für die Stadt das Beste herauszuholen.»

Stefan Kurath

Odermatt: Wenn wir das Bevölkerungswachstum und das Tempo der baulichen Entwicklung und Erneuerung anschauen, hat die Zukunft schon vor einigen Jahren begonnen. Die rasche Veränderung der Stadt und ihrer Quartiere ist bereits heute eine gelebte Realität – und es findet eine intensive öffentliche Debatte dazu statt. Das ist erfreulich! Dass zu wenig über das gesprochen wird, was sich nicht verändern soll, erlebe ich nicht so. Gerade wenn wir den Umgang mit dem baulichen und auch städtebaulichen Erbe anschauen, besteht ein starkes öffentliches Bewusstsein dazu, was erhaltenswert sei und was Neuem weichen dürfe. Wenn wir hier auch unter dem gegenwärtigen Entwicklungsdruck eine gute Balance zwischen Erhalt und Ersatz, zwischen Altem und Neuem finden, ist damit sehr viel gewonnen. Das Ergebnis aus diesen Aushandlungsprozessen wird das Zukunftsbild unserer Stadt prägen. Daneben sind es die verschiedenen Zentren, die gerade in einem Wachstumsumfeld, in dem sich viel verändert, ganz wichtige Funktionen für die Stadt, die Quartiere und die unmittelbaren Nachbarschaften einnehmen.

Wo sehen Sie Erfolge der bisherigen Stadtentwicklung in Zürich?

Odermatt: Bestes Zeugnis für den Erfolg ist die sehr hohe Lebensqualität unserer Stadt, die uns seit Jahren immer wieder auch von aussen beschieden wird. Dazu trägt nicht nur die unbestritten hohe planerische und bauliche Qualität – auch der öffentlichen Räume – bei, sondern auch die nach wie vor sehr intakte Durchmischung, was Status, Einkommen, Alter, Herkunft und Bildung angeht. Aber auch, dass wir heute etwa gleich viele Arbeitsplätze wie Einwohnerinnen und Einwohner haben, Zürich also eine Wohnstadt bleibt. Mit alldem kann sich eine grosse Mehrheit der Zürcherinnen und Zürcher identifizieren, sie sind mit gutem Recht auch stolz darauf.

Kurath: Die Stadt Zürich hat sich seit dem Aufschwung nach den 1990er Jahren rasant entwickelt, und ihr weitsichtiger Städtebau hat auch in Fachkreisen Aufmerksamkeit erhalten, sei’s mit den Planungen zu Neu-Oerlikon, Zürich-West, Freilager oder Stadtraum HB. Man hat im Umgang mit dem Bestand in Oerlikon und Zürich-West viel versucht, mit neuen Bautypologien wie dem Prime Tower experimentiert und ab und zu auch informelle Aneignungsformen wie im Koch-Areal oder der Hardturm-Brache zugelassen.

Wo sehen Sie die Herausforderungen?

Kurath: Stadt ist nie Resultat von Planung, sondern von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen. Vor und nach der Umsetzung von Planungen kommen unterschiedlichste Anliegen und Interessen ins Spiel, die nicht vorhersehbare Dynamiken entfalten. Darauf muss man in der Stadtentwicklung wie auch Stadtplanung unmittelbar reagieren können. Das ist beispielsweise im Bereich der Erdgeschosse in Zürich-West und Neu-Oerlikon nicht gelungen. Auch ist es nicht gelungen, an diesen Lagen anteilig günstigen Wohnraum einzufordern. Die Stadtentwicklung und Stadtplanung ist generell noch zu passiv. Sie denkt noch immer in schönen Plänen und zu wenig strategisch, taktisch, also politisch, was aber zur Umsetzung schöner Pläne auch notwendig wäre. Dazu braucht es jedoch Ressourcen und auch politischen Rückhalt. Stadt als hochpolitische Angelegenheit bedingt eben auch, dass man das Experiment wagt, sich exponiert, Verantwortung übernimmt, um für die Stadt das Beste herauszuholen.

Odermatt: Die Flexibilität, das rasche Reagieren auf neue Situationen, ist in der Tat eine Herausforderung. Die Lern- und vor allem die Entscheidungszyklen sind im politischen Gemeinwesen länger als in einem Startup. Aber sie finden durchaus statt! Zudem ist auch jede gute Planung ein Aushandlungsprozess, und solche Prozesse benötigen ihre Zeit. Wenn sie neuere Planungen anschauen – die Greencity in der Manegg etwa –, sieht man, dass wir sehr viel dazugelernt haben. Sowohl was die verschiedenen Erdgeschossnutzungen als auch den preisgünstigen Wohnraum oder den Umgang mit dem baukulturellen Erbe angeht. Das ist das Resultat einer sehr aktiven Planung. Und es zeigt, was intensive Aushandlungsprozesse mit allen beteiligten Akteuren – und da gehört immer auch die Politik dazu – Positives bewirken können.

«Es ist wichtig, dass unterschiedliche Wohnformen möglich sind und unterschiedliche Mietpreissegmente angeboten werden. Idealerweise gar im selben Gebäude.»

Stefan Kurath

Lebendige Städte der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft brauchen junge Kreative in den Zentren, nicht nur an Ihren Rändern. Wie erreicht man, dass nicht nur Etablierte und ihre Familien in Stadtzentren wohnen, weil nur sie sich die Mieten leisten können?

Kurath: Durch Vielfalt. Es ist wichtig, dass unterschiedliche Wohnformen möglich sind und unterschiedliche Mietpreissegmente angeboten werden. Idealerweise gar im selben Gebäude. Dabei hilft, wenn Altbausubstanzen teilweise erhalten bleiben, damit auch der Altersmix bei den Bestandsgebäuden besser wird. Dies verhindert, dass heute und in Zukunft ganze Quartiere gleichzeitig auf einmal erneuert und dadurch gentrifiziert werden. Ebenfalls erhalten zukünftig die Quartierzentren, die fussläufig und durch öffentlichen Verkehr gut erschlossen sind, eine grössere Bedeutung. Sie sorgen für Nutzungsmischung im Quartier, sichern die Alltagsversorgung, setzen für das Stadtleben wichtige Impulse.

Und wie erreicht man, dass die städtischen Randgebiete nicht zu Schlafstädten werden?

Odermatt: Als Stadt müssen wir uns darüber hinaus nicht nur mit der konsequenten Förderung des preisgünstigen Wohnens engagieren, sondern auch mit der Bereitstellung von preisgünstigem Gewerberaum. Auch Letzteres ist eine Forderung der im Jahr 2010 mit einer soliden Mehrheit angenommenen Volksinitiative «Für bezahlbare Wohnungen und Gewerberäume in der Stadt Zürich». Damit werden nicht nur Vielfalt und Durchmischung, sondern auch eine gute Versorgung in den Quartieren sichergestellt, eine absolute Win-win-Situation.

Wie kann man Wohnungen bauen, die Flexibilität der Lebensentwürfe zulassen, wenn nicht von vorneherein ausgemacht scheint, wie die Bewohnerinnen und Bewohner ihr Leben verbringen?

Odermatt: Auch hier wieder das Stichwort Vielfalt, im Gegensatz zum rein renditeorientierten Einheitsbrei. Und indem wir über die einzelne Wohnung hinausdenken und den Blick auf ganze Siedlungen oder sogar Quartiere richten. Die Genossenschaften sind hier sicher die aktivsten Schrittmacher. Die Stichworte lauten Clusterwohnungen, Gross-WGs oder Jokerzimmer – und das alles in einem baulichen Verbund mit konventionellen Wohnungen. So kann den wandelnden Bedürfnissen und Lebenssituationen Rechnung getragen werden, indem ein niederschwelliger Wechsel der Wohnung ermöglicht wird. Und dies innerhalb der Siedlung oder des Quartiers, ohne Verlust des vertrauten Umfelds.

Kurath: Wenn man die Geschichte der gebauten Stadt betrachtet, zeigt sich, dass räumliche Strukturen, also auch Wohnungsgrundrisse, über Jahrhunderte hinweg ähnlichen Gesetzmässigkeiten folgen, während sich in derselben Zeit die Lebensentwürfe diametral verändert haben. Wohnungsgrundrisse wurden also weniger Lebensentwürfen gerecht. Sie zeichneten sich vielmehr dadurch aus, dass sie die mannigfaltigen Entwicklungen ermöglicht haben. Heute werden Wohnungen zu sehr auf heutige Bedürfnisse und Lebensentwürfe ausgerichtet, so dass die Bauten nach 30 Jahren wieder ersetzt werden müssen. Es gilt also, wieder zu resilienten Wohnungsgrundrissen zurückzufinden, die Lebensentwürfe aufzunehmen vermögen, die man sich heute noch nicht vorstellen kann.

«Wichtig ist ein früher Einbezug. Also bereits dann, wenn die Partizipierenden nicht nur noch zwischen zwei, drei Varianten mit minimalen Unterschieden auswählen können.»

André Odermatt

Wie kann man Anreize schaffen, dass Menschen mitentscheiden und sich engagieren und zu Stadtgestalterinnen und -gestaltern werden?

Odermatt: Wichtig ist erstens ein früher Einbezug. Also bereits dann, wenn die Partizipierenden nicht nur noch zwischen zwei, drei Varianten mit minimalen Unterschieden auswählen können. Zweitens ist es entscheidend, den Rahmen der Mitwirkung klar abzustecken. Also klar aufzuzeigen, was fix und bereits entschieden ist und wo es Spielraum gibt. Drittens muss möglichst transparent und fortwährend über den Fortschritt berichtet werden. Wir können die Leute nicht zuerst abholen und dann im Ungewissen lassen, was nun mit ihren Inputs geschieht.

Und wie erreicht man, dass sich alle engagieren, nicht nur die gut situierten und gebildeten Menschen?

Da braucht es viertens viel Know-how – gerade auch was die Formen und Kanäle angeht. Wo braucht es einen Vor-Ort-Anlass? Wo ergänzen wir mit E-Partizipation? So, dass sich eben nicht nur eine sehr homogene Schicht beteiligt. Wir versuchen bei unseren Verfahren, all diese Punkte zu berücksichtigen, und haben damit bisher sehr gute Erfahrungen gemacht.

Kurath: Im Kontext der Bewegung «Recht auf Stadt» ist in den letzten Jahren vermehrt die Mitwirkung an der Planung gefordert worden. Es hat sich aber gezeigt, dass der Wunsch nach unmittelbarer Veränderung und Mitwirkung nicht mit der Langfristigkeit der Planung zusammenpasst. Das hat zu Mitwirkungsverdrossenheit geführt, weil einerseits lange nichts Konkretes sichtbar war und andererseits im Moment der Umsetzung bereits wieder andere Bedürfnisse im Vordergrund standen. Das haben wir zusammen mit Kolleginnen und Kollegen der ZHAW Soziale Arbeit in einem Forschungsprojekt zur Leitbildentwicklung unter Mitwirkung der Bevölkerung untersucht. Demgegenüber scheint die Aneignung der bestehenden Räume in Vergessenheit geraten zu sein. Wie der Röschibachplatz oder die Hardturm-Brache in Zürich zeigen, gibt es im realen Raum Mitgestaltungsmöglichkeiten, deren Initiative auch aus der Bevölkerung kommen kann. Anstatt sich mit langwierigen planerischen Fragestellungen auseinanderzusetzen, die sich in 15 Jahren erst abzeichnen, empfehle ich, nach draussen zu gehen und der Kreativität in der Aneignung des freien Raums freien Lauf zu lassen. Auch dazu forschen wir gerade in einem Projekt über die Entstehung von Öffentlichkeit durch Aneignung. Wenn man sich mit den entsprechenden Verwaltungsstellen abspricht und den Austausch sucht, ist mehr möglich, als man oft denkt. Solche Ansätze wirken gesellschaftlich sehr integrativ und die Wirkung des eigenen Handelns kann unmittelbar erlebt werden.

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