«Meine Kollegen stellten sich plötzlich gegen mich»

22.09.2020
3/2020

Für Anhänger des Islams ist das Aufwachsen in der Schweiz nicht einfach. Oft sehen sie sich mit Erwartungen von unterschiedlichsten Gruppen konfrontiert. Vier junge Musliminnen und Muslime, von denen drei an der ZHAW studieren, erzählen von ihren Erfahrungen.

Rukiyye Dagli schwärmt von ihrer Kindheit. Die 23-Jährige sitzt auf ihrem Sofa in einer Wohnung in Kloten, ein Knie hat sie an den Körper gezogen, die Hände sind davor verschränkt. «Meine Kindheit war sehr schön», sagt sie. In der Oberstufe kommt für sie alles anders. Mit 16 entscheidet sie sich, das Kopftuch zu tragen. «Plötzlich stellten sich Lehrer und Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich meine gesamte Kindheit verbracht hatte, gegen mich.» Sie ringt um Worte und ist immer noch fassungslos bei dem Gedanken daran. Rukiyye fällt durch ihr Kopftuch auf.

Am Kopftuch scheiden sich die Geister

Rukiyye Dagli (23) wohnt in Kloten und studiert Kommunikation und Journalismus an der ZHAW. Daneben ist sie als medizinische Praxis-Assistentin tätig. Im Audio erzählt sie von ihren Erfahrungen mit dem Kopftuch.

Bei anderen ist es der Name, wie bei Suad Demiri: «Da muss ich jedes Mal erklären, von wo der kommt und wie er ausgesprochen wird», erzählt er. Für das Treffen ist er in die Altstadt von Biel gekommen, wo er auch aufgewachsen ist. Während des Gesprächs verschränkt er die Beine, seine Hände sind ständig in Bewegung. Mal fährt er sich über den Knöchel, mal zupft er den Socken zurecht. «Da gab es auch solche, die fragten, was ich überhaupt hier suche.»

Religionsunterricht war prägend

Kushtrim Grajvceci (28) lebt in Feuerthalen ZH. Er ist als Gebäudetechnik-Planer tätig. Im Audio erzählt er von seinen Erfahrungen zu den Themen Schweinefleisch und Religionsunterricht.

Bei Kushtrim Grajvceci ist das anders. In kurzen Hosen und T-Shirt sitzt er in seinem Garten, lehnt sich beim Sprechen auf seinem Gartenstuhl zurück. Er wuchs im Dorf Feuerthalen direkt bei Schaffhausen auf. «Ich kann mich an keine Anfeindung erinnern. Höchstens mal zum Spass von ein paar Freunden», sagt er. Er macht eine Pause und zieht an seiner Zigarette.

«Die Leute begegneten mir und meiner Familie mit Neugier anstatt mit Ablehnung.»

Kushtrim Grajvceci

In der Schule darf er seine Religion sogar vorstellen. «Das hat geholfen, dass meine Mitschüler meine Herkunft besser verstanden haben», erzählt Kushtrim. Einzig beim Essen stand er sich selbst ab und zu im Weg. «Ich schämte mich, ständig zu fragen, ob da jetzt Schweinefleisch drin ist. Ich war der einzige Muslim an unserer Schule.»

So unterschiedlich die Erfahrungen im Alltag sind, so positiv beschreiben hingegen alle unisono den Zusammenhalt der muslimischen Gemeinschaft. Besonders für Shqipe Azizi hat das die Schulzeit einfacher gemacht. Sie fällt auf durch ihre weiss-grau gefärbten Haare. «Unsere Gemeinde hat alle Ausländer quasi in eine Klasse gesteckt. Da waren etwa 20 Muslime und vielleicht sechs Schweizer.»

Aber du bist anderst

Shqipe Azizi (34) lebt in Arbon und studiert ebenfalls an der ZHAW. Auch sie hat sich für den Studiengang Kommunikation und Journalismus entschieden. Im Audio erzählt sie, wie Arbeitskollegen über den Islam herzogen.

Dadurch hat sich ein starker Zusammenhalt entwickelt. Auch für Suad ist dies eine der grossen Stärken der muslimischen Gemeinschaft. «Es gibt Verwandte, mit denen ich kaum spreche. Aber wenn etwas los ist oder ich umziehe, stehen die sofort auf der Matte, um anzupacken.»

Ungeahnte Gemeinsamkeiten

Knapp 450’000 Muslime leben heute in der Schweiz. Sie bilden die drittgrösste Glaubensgemeinschaft des Landes. Der Islam weist einige Parallelen zum Christentum auf. So gibt es auch im Islam mehrere Glaubensrichtungen, welche in Konkurrenz zueinander stehen.

Der Islam basiert zudem, ähnlich wie das Christentum, auf Grundgeboten. Sie werden die fünf Säulen genannt und geben die Hauptrichtlinien im Leben eines Muslims vor. Einige davon, wie zum Beispiel der Ramadan, sind allgmein bekannt. Neben den Grundgeboten schreibt der Islam auch vor, dass der Konsum von Alkohol, Schweinefleisch oder Zigaretten verboten ist. Doch der Glaube ist im Islam etwas sehr Persönliches. Die Auslegung dieser Richtlinien ist bei jedem Muslim unterschiedlich.

Zwischen den Fronten

Das Leben in der Schweiz wird durch diese Richtlinien für viele junge Muslime zu einem Balance-Akt. «Oft fühlte ich mich in der Mitte gefangen. Es war schwierig, es beiden Seiten recht zu machen», sagt Shqipe. Zum einen sieht sie sich den Anforderungen der muslimischen Gemeinschaft gegenübergestellt. Auf der anderen Seite stösst sie im Büro auf grosse Ablehnung gegenüber dem Islam.

Auch Rukiyye erzählt von Schwierigkeiten im Alltag. Bei ihrer Arbeit als medizinische Angestellte in einer Arztpraxis gab es gar Patienten, die nicht von ihr angefasst werden wollten.

«Sogar türkischstämmige Kunden beschwerten sich bei meinem Chef, wieso er jemanden wie mich einstelle.»

Rukiyye Dagli

Die Medien scheinen in dieser Debatte eine wichtige Rolle zu spielen. Durch ihre Berichterstattung würden sie das öffentliche Bild des Islams beeinflussen. Rukiyye sieht das als eines der Hauptprobleme: «Vielen Medien geht es einfach um Klickzahlen. Wenn etwas Negatives über den Islam geschrieben wird, denken die Leute dann automatisch an ihre Moschee in der Nachbarschaft.»

Shqipe pflichtet ihr bei. Die Medien trügen dazu bei, bestimmte Bilder aus dem Ausland auf die Muslime in der Schweiz zu projizieren.

«Wenn jemand ein Bild im Kopf hat, kann man fast nichts dagegen machen.»Shiqipe

Shqipe Azizi

«Es ist an der Zeit, den Leuten den richtigen und nicht diesen extremistischen Islam zu zeigen», findet Kushtrim. Umso wichtiger scheint für ihn eine nüchterne und auf Fakten basierende Berichterstattung. «Denn eigentlich ist der Islam ein friedlicher Glaube.»

Muslime sollen aktiv werden

Kushtrim will an diesem Punkt die muslimische Gemeinschaft mehr in die Verantwortung nehmen. «Es geht darum, dass wir uns von dem abgrenzen, was im Ausland passiert», sagt er. Der Islam soll offener sein und mehr kommunizieren. Dadurch kann der Austausch gefördert werden.

Unterschiede tolerieren

Suad Demiri (28) lebt in Biel und ist Vollzeit-Student an der ZHAW. Auch er studiert Kommunikation und Journalismus. Im Audio erzählt er seine Erfahrung, dass reden hilft, Klischees auszuräumen.

Suad hat es beispielsweise geprägt, dass sein bester Freund in Kindheitstagen ein Schweizer war. «Ich war oft bei seiner Familie zu Gast und durfte dort essen oder den Nachmittag verbringen. Dadurch habe ich eine komplett neue Welt kennengelernt.»

Auch für ihn liegt die Schwierigkeit im mangelnden Austausch. «Meine Mutter hat sich im Bus kürzlich mit einer Schweizerin unterhalten. Dabei hat sie gemerkt, dass sich ihr Alltag um dieselben Dinge dreht.» Trotzdem gestaltet sich die Integration für Muslime nicht einfach. 

«Niemand kann auf der Strasse einfach jemanden angrinsen und ein Gespräch über unterschiedliche Kulturen anfangen.»

Suad Demiri

«Das Problem mit dem Islam ist schlussendlich eines der Aufklärung», sagt Shqipe. Sie äussert sich dazu aber auch selbstkritisch: «Als Muslime sind wir genau gleich Teil dieses Problems. Viele auf der islamischen Seite verstehen auch nicht, wie es bei den Schweizern läuft.»

«Die Medien sind ein Stimmungsbild der Gesellschaft»

In der Schweiz ist Muslimfeindlichkeit ein allgegenwärtiges Thema. Das hat auch mit Vorurteilen und Werten zu tun. Amir Dziri, Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft, erklärt die Zusammenhänge.

 

Herr Dziri, wie nehmen Sie die momentane Stimmung in der Schweiz in Bezug auf den Islam wahr?

Amir Dziri: Ich denke, das momentan beherrschende Thema in den Medien ist die Epidemie. Unabhängig davon ist es in den letzten Monaten relativ still geworden, es gibt eine gewisse Akzeptanz.

Die Diskussion könnte nach dem Virus aber wieder an Fahrt aufnehmen?

Ja. Es gibt viele kleine Diskurse, welche das Leben in der Schweiz betreffen. Die werden dann aufgekocht, und das führt immer wieder zu einer verstärkten Aufmerksamkeit und Problematisierung des Islams. Es ist dann immer die Frage: Welche Diskussion braucht es wirklich?

Wo sehen Sie die Grenze zwischen einer Diskussion über Schweizer Werte und Muslimfeindlichkeit?

Jede Gesellschaft diskutiert über Werte. Problematisch wird es, wenn die Wertediskussion instrumentalisiert wird, um eine bestimmte Gruppe auszuschliessen oder ihr einen Platz zuzuweisen. Das ist oftmals ein Platz, der kein gleichberechtigter ist.

Zum Beispiel?

Die Sprache. Sie ist ein Wert, mit dem man kommunizieren und sich verständigen kann. Sie ist erlernbar, das kann man von jedem erwarten. Aber wenn man formuliert, dass jemand Schweizer Wurzeln haben sollte, dann haben einige Leute keine Möglichkeit, diese Werte zu praktizieren.

Wie verbreitet ist Muslimfeindlichkeit in der Schweiz?

Gemäss dem Jahresbericht 2018 der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus wurden 44 Fälle registriert, die speziell mit Muslimfeindlichkeit aufgeführt werden. Dann kommen noch 24 Fälle mit arabisch-stämmigen Personen dazu. Man kann aber davon ausgehen, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist.

Wieso reagieren einige Personen mit Ablehnung oder gar Hass auf den Islam?

Gute Frage. Wenn man in die Vorurteilsforschung schaut: Viele Forscher sagen, dass Vorurteile für den Menschen notwendig sind. Wir müssen Dinge schnell kategorisieren können. Ein Problem wird es dann, wenn diese Vorurteile verabsolutiert werden und noch mit stereotypen Vorstellungen verknüpft werden. Aus einem normalen Grad an Vorurteilen kann schnell eine gruppenbezogene Feindlichkeit werden.

Was können die Folgen der Muslimfeindlichkeit sein?

Der Schritt vom Vorurteil zu gruppenbezogener Feindlichkeit und dann auch zu Legitimierung von Gewalt gegen Minderheiten, das geht sehr schnell. Deshalb ist es wichtig, da schon von Anfang an wachsam zu sein. Und bestimmte Vorstellungen schon im eigenen Umfeld, sei das in der Familie oder bei der Arbeit, nicht unkommentiert stehen zu lassen.

Welche Rolle spielen die Medien?

Ich denke, schon eine grössere Rolle. Weil Medien grundsätzlich auch bestimmte Haltungen vorgeben oder prägen können.  Medien sind aber immer auch ein Spiegelbild der Gesellschaft.

Das kann schnell zu Konflikten führen.

Schwierig ist, dass sich Medien grundsätzlich am Wert «News» orientieren. Das ist normal. Es kann aber dazu führen, dass gewisse Beiträge pauschalisiert werden. Oder dass sie auf eine Gruppe projiziert werden.

Wie bei einem Terroranschlag im Ausland?

Genau. Wenn zum Beispiel in Pakistan irgendetwas passiert, dann wirft man die Muslime in der Schweiz schnell in einen Topf mit ihren Glaubensbrüdern und -schwestern. Diese Verknüpfungen zeigen, dass die Journalisten in gewissem Mass dafür verantwortlich sind, wie Diskurse die Stimmung in einem Land beeinflussen.

Dann ist also die Medienberichterstattung zu pauschalisierend?

Das würde ich nicht so generell formulieren. Gerade in der Schweiz habe ich bislang sehr gute Erfahrungen gemacht. Mit Redaktionen und Journalistinnen, die sehr sorgfältig arbeiten und ihre Beiträge sehr differenziert vorbereiten.

Wie kann die muslimische Gemeinschaft zu einer Verbesserung der Beziehung beitragen?

Im Moment gibt es noch sehr viel Vorbehalte gegenüber Medien oder Journalisten. Wenn man mehr Kontakt zu gesellschaftlichen Akteuren hat, dann normalisieren sich die Begegnungen. Dann gibt es nicht mehr diese grosse Angst vor Vorurteilen.

Also ist vor allem auch der Austausch wichtig?

Ja, ich denke, diesen Weg muss man weitergehen. Das heisst den Kontakt suchen, offen bleiben. Proaktiv zugehen auf Akteure, Organisationen und Institutionen der Gesellschaft.


Das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg ist ein Kompetenzzentrum für aktuelle gesellschaftliche Fragen zum Islam in der Schweiz mit Fokus auf einer islamischen Selbstreflexion.

 

Dennis Frick

Der Autor Dennis Frick studiert Journalismus im Bachelorstudiengang Kommunikation am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft. Diese Beiträge entstanden in der Werkstatt «Multimediales Storytelling» im fünften Semester. In dieser Werkstatt erarbeiten die Studierenden Beiträge für die Praxis, unter Bedingungen und in Abläufen, wie sie im Journalismus üblich sind.

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