Für Medizin und Diagnose

Mit Künstlicher Intelligenz auf der Suche nach neuen Wirkstoffen

22.06.2021
3/2021

Mit KI in vorhandenem medizinischem Fachwissen nach unbekannten Zusammenhängen suchen, neue Medikamente entwickeln oder die Körperkerntemperatur messen, um aus Mustern Alzheimer frühzeitig zu erkennen. Zwei Forscher der ZHAW erzählen.

Potenzielle Wirkstoffe entdecken, ohne ein Labor zu betreten: Das tönt nach einem Zaubertrick. Aber es kann funktionieren. Manche Forscherinnen und Forscher stöbern im vorhandenen medizinischen Fachwissen nach ungehobenen Schätzen und werden nicht selten fündig. Man spricht von literaturbasierten Entdeckungen (literature-based discovery).

Einer dieser Forschenden ist Manuel Gil von der Fachstelle Computational Genomics an der ZHAW Wädenswil. «In der medizinischen Literatur steckt viel implizites Wissen», sagt er. «Wir versuchen, es explizit zu machen, damit es für die Medizin fruchtbar wird.»

Taube Finger und Fischöl

Ein Pionier im Gebiet der literaturbasierten Entdeckungen war der amerikanische Informatiker Don Swanson. Zu Beginn der 1980er Jahre beschäftigte er sich beispielsweise mit dem Raynaud-Syndrom – einer häufigen Erkrankung, bei der die Betroffenen bei Kälte unangenehm taube, blasse Finger bekommen. Swanson fand in der Literatur Hinweise darauf, dass krampfartige Verengungen der Blutgefässe das Syndrom hervorrufen. Unabhängig davon stiess er auf eine Studie, wonach Fischöl solche Verengungen reduzieren kann. Aus diesen beiden Fakten schloss er, dass sich das Raynaud-Syndrom mit Fischöl bekämpfen lassen könnte. Natürlich musste diese Hypothese erst noch in klinischen Studien getestet werden. Aber am Ende bekam Swanson recht.

Boden für neue Entdeckungen

Solche unbekannten Verbindungen gibt es im gewaltigen Fundus der medizinischen Literatur vermutlich noch viele. Aber wie findet man sie? Zu Beginn suchten die Wissenschaftler manuell oder mit einfachen Computerprogrammen nach übereinstimmenden Stichworten in unterschiedlichen Fachartikeln. Seither hat das Forschungsgebiet dank Automatisierungen so manchen Fortschritt erlebt. Nochmals einen ganz grossen Schritt nach vorne will jetzt Manuel Gil machen: Sein Ziel ist es, das frei zugängliche medizinische Fachwissen, das aus mehreren Millionen Papers besteht, mit Methoden der Künstlichen Intelligenz zu formalisieren und so den Boden für neue Entdeckungen zu legen.

«Neuartig an unserem Projekt ist die schiere Datenmenge, die miteinbezogen wird.»

Manuel Gil, Computational Genomics

Zu diesem Zweck hat Gil ein interdisziplinäres Team aus Spezialistinnen und Spezialisten zusammengestellt, die aus Gebieten wie der Sprachanalyse, Phytopharmakologie und Informatik kommen. Das Projekt ist auf vier Jahre angelegt – finanziert werden soll es hauptsächlich vom Schweizerischen Nationalfonds, ein Gesuch ist eingereicht.

«Neuartig an unserem Projekt ist die schiere Datenmenge, die miteinbezogen wird», sagt Manuel Gil. «Auch sind wir die Ersten, welche die medizinische Literatur im Volltext durchsuchen und nicht bloss die Abstracts.» Der Clou des Vorhabens liegt darin, dass Gils Team nicht nur nach übereinstimmenden Stichworten sucht, sondern den Inhalt der Papers herausdestilliert und formalisiert. Dabei entstehen sogenannte Triples aus Subjekt (S), Prädikat (P) und Objekt (O) – beispielsweise «Fischöl (S) reduziert (P) Gefässverengungen (O).» Ist das medizinische Wissen auf diese Weise aufbereitet, so können Anwender mittels Algorithmen in diesem Netz aus Tripeln nach unbekannten Zusammenhängen suchen.

Maschinen übersetzen

Die grösste Herausforderung besteht dabei in der automatisierten Erstellung der Triples. Dabei muss die natürliche in eine formale Sprache übersetzt werden. «Früher hat man das mit expliziten Übersetzungsregeln gemacht», sagt Gil. «Heute setzen wir auf maschinelles Lernen» – eine Methode aus der Künstlichen Intelligenz. Dabei trainiert man ein neuronales Netz mit Beispielen, sodass es imstande ist, die Übersetzungen selbstständig durchzuführen. Ganz den Maschinen überlassen kann man das Feld aber keinesfalls: Sowohl in der Forschungsphase als auch später in der Anwendung ist man weiterhin auf menschliche Expertinnen und Experten angewiesen, die die neuronalen Netze anleiten und ihre Vorschläge kritisch bewerten.


Früherkennung von Alzheimer

Ein weiterer Pionier in der rechnergestützten Medizinforschung ist Krzysztof Kryszczuk, Leiter der Forschungsgruppe Predictive Analytics am Institut für Angewandte Simulation der ZHAW. Er hat mit seinem Team als Erster eine Methode entwickelt, mit der sich die Körperkerntemperatur, also die Temperatur im Innern des menschlichen Körpers, kontinuierlich und nichtinvasiv berechnen lässt.

Das Bestimmen einer Temperatur hört sich zunächst einmal nicht sehr spektakulär an. Tatsächlich aber ist die Körpertemperatur der einzige der Vitalwerte (dazu gehören etwa auch Blutdruck, Puls und Atemfrequenz), der sich bisher bloss invasiv messen liess, nämlich durch das Schlucken einer Funkpille mit eingebautem Thermometer. Das Messen unter der Achselhöhle ist dafür kein Ersatz: «Das Problem dabei ist die Hautschicht, die zwischen Körper und Thermometer liegt», sagt Kryszczuk. «Sie ist Teil der Thermoregulation – über die Haut gibt der Körper je nach Bedarf mehr oder weniger Wärme an die Umgebung ab.» Wegen dieses Austauschs ist die Hauttemperatur nur ein sehr ungenaues Abbild der Temperatur im Körperinnern.

«Das Problem dabei ist die Hautschicht, die zwischen Körper und Thermometer liegt.»

Krzysztof Kryszczuk, Predictive Analytics

Seit beinahe einem Jahrhundert haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeblich versucht, die Körperkerntemperatur aus der Hauttemperatur zu berechnen. Gelungen ist dies erstmals der Forschungsgruppe von Krzysztof Kryszczuk, im Verbund mit dem Inselspital Bern und dem ETH-Startup greenTEG als Industriepartner.

Der Trick: Kryszczuk misst nicht nur die Hauttemperatur, sondern auch den Wärmefluss, also die Energiemenge, die der Körper über die Haut abgibt. Möglich machen dies hochpräzise Sensoren, die greenTEG entwickelt hat und am Standort Zürich produziert. Die Sensoren werden in ein Gerät eingebaut, das man wie einen Fitnesstracker am Handgelenk tragen kann. Die gesammelten Messdaten erlauben es nun, die Körperkerntemperatur zu berechnen.

Noch mehr Daten sammeln

Allerdings ist der mathematische Zusammenhang alles andere als einfach. Um die Kerntemperatur zu bestimmen, verwendet Krzysztof Kryszczuk daher wie Manuel Gil die Methode des maschinellen Lernens. «In den meisten Fällen geht das mittlerweile gut, mit einer Abweichung von 0,3 Grad oder noch weniger», sagt Kryszczuk. «Es gibt aber auch Individuen, bei denen die Methode nicht gut funktioniert. Menschen sind eben sehr verschieden.» Man müsse noch mehr Daten sammeln, um auch für diese Ausnahmen zufriedenstellende Resultate liefern zu können.

In einem neuen Projekt mit den gleichen Partnern, finanziert von der Innosuisse, geht Kryszczuk nun noch einen Schritt weiter: Seine Methode soll bei der Früherkennung von neurodegenerativen Krankheiten helfen. Es gibt Hinweise darauf, dass entsprechende Patienten oft Abweichungen beim zirkadianen Tag-und-Nacht-Rhythmus zeigen, die sich etwa in Schlafstörungen manifestieren. Weil auch die Körperkerntemperatur dem zirkadianen Rhythmus folgt, gibt es die Vermutung, dass sich ihr Verlauf zur Alzheimer- und Parkinson-Früherkennung nutzen liesse.

Armband mit Sensoren

Wie gesagt, das sind erst Vermutungen, und die Forschung muss sie noch bestätigen. Aber wenn es funktioniert, könnte eine künftige Nutzung der Methode etwa so aussehen: Ein Mensch trägt für ein paar Tage ein Armband mit Sensoren – aus den Messwerten wird kontinuierlich die Körperkerntemperatur berechnet. Ein Algorithmus vergleicht deren Verlauf mit gesammelten Daten von Kranken und Gesunden. Gleicht das Muster jenem von Alzheimer- oder Parkinson-Patienten, schlägt das System Alarm. «Es ist aber kein Diagnosetool», sagt Kryszczuk. «Man bekommt einfach die Aufforderung, eine medizinische Fachperson aufzusuchen.»

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