Mitsprache, nicht nur Gratisäpfel

19.03.2019
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Ob bei stressbelasteten Mitarbeitenden, suchtgefährdeten oder alten Menschen – in der Gesundheitsförderung ist das Stärken von Ressourcen ganz zentral. Nur beim Individuum anzusetzen, greift aber zu kurz.

Ohne Computer und Internet aufgewachsen, tun sich heute 70- oder 80-Jährige häufig schwer mit den digitalen Technologien, sofern sie sich nicht im Beruf mit ihnen vertraut machen mussten. Weil aber fast alles übers Internet läuft – von Fahrplan-Abfrage über Telefonbuch bis zu Bankgeschäft –, sind nicht wenige ältere Menschen zunehmend von wichtigen Funktionen ausgeschlossen. Hier setzt das Projekt von Tatjana Drescher an. Im Rahmen ihres Praktikums bei der Pro Senectute Zug hat die Studentin im Bachelor Gesundheitsförderung und Prävention einen Tablet-Treff für Seniorinnen und Senioren in Steinhausen aufgegleist. Über die Nachbarschaftshilfe und Vereine hat sie Personen gefunden, die ihre Erfahrungen mit dem Computer ­ehrenamtlich weitergeben.

«Heute setzt man auf Selbstbestimmung, Empowerment und Partizipation.»

Irene Abderhalden

Beim ersten Treffen im Januar seien über 25 Interessierte erschienen, freut sich Drescher. «Die Menschen erfahren, dass sie auch im Alter noch fähig sind, Neues zu lernen.» Zudem soll das Angebot helfen, die Isolation und Einsamkeit älterer Menschen zu reduzieren. Es sei erwiesen, dass Einsamkeit krank macht – sowohl psychisch als auch körperlich, führt die Studentin aus. Neben der Anleitung zu mobilen Computern erhalten die Teilnehmenden am Treffpunkt stets auch Gelegenheit, sich über andere Dinge auszutauschen. Vom Projekt profitieren gleichzeitig die freiwilligen Instruktoren. Die meisten von ihnen seien ebenfalls bereits älteren Jahrgangs. «Sich aktiv und kompetent zu erleben, unterstützt das Selbstwertgefühl», sagt Drescher.

Peers statt Experten

Das Stärken der Ressourcen ist einer der wichtigsten Ansatzpunkte in der Gesundheitsförderung. Während man sich früher hauptsächlich auf Krankheitsrisiken konzentrierte, versucht man heute, die gesunden Anteile zu unterstützen und erhalten. Der grundsätzliche Perspektivenwechsel basiert auf der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, welche die WHO 1986 publiziert hat. «Statt dass Expertinnen und Experten die Menschen von oben herab zu erziehen versuchen, setzt man auf Selbstbestimmung, Empowerment und Partizipation», erklärt ZHAW-Dozentin Irene Abderhalden . Häufig komme das Peer-to-Peer-Konzept zum Zug, bei dem Personen aus der gleichen Zielgruppe als Multiplikatoren dienen.

Ein Beispiel für diese Herangehensweise ist etwa das Projekt Femmes-Tische, wo eine andere ZHAW-Studentin Einblick erhält. In verschiedenen Schweizer Städten tauschen sich Migrantinnen in ihrer Muttersprache über die Normen und Umgangsformen in der Schweiz, Kindererziehung oder Gesundheits- und Familienthemen aus und geben untereinander ihre Erfahrungen weiter. Geschulte Fachleute treten dabei eher zurückhaltend als Moderatorinnen auf.

«Ein Kind aus einer suchtbelasteten Familie hat ein sechsmal höheres Risiko, selbst eine Suchtproblematik zu entwickeln.»

Irene Abderhalden

Eines der wichtigsten Handlungsfelder für Prävention und Gesundheitsförderung ist die Schule. Natürlich kläre man die Kinder und Jugendlichen nach wie vor über Gefahren wie Komatrinken oder sexuell übertragbare Krankheiten auf, betont Irene Abderhalden. «Das Thematisieren von Risiken und das Weitergeben von Fachwissen sind keineswegs überholt.» Doch gleichermassen wichtig sei es, Selbst- und Sozialkompetenzen zu fördern. Kinder sollten zum Beispiel lernen, mit ihren Gefühlen konstruktiv umzugehen, Konflikte zu bewältigen, und sich an Entscheidungsprozessen beteiligen können. Gute Übungsfelder dafür seien Gefässe für die Partizipation wie etwa ein Klassen- oder Schülerrat.  Zudem versuche man, das System Schule an sich gesünder zu gestalten, erklärt die Sozialwissenschaftlerin: Wenn Lehrpersonen weniger gestresst sind, fühlen sich auch die Kinder wohler.

Dasselbe Prinzip gelte im betrieblichen Gesundheitsmanagement: Häufig seien es Faktoren wie fehlende Möglichkeiten zur Mitwirkung und unklare Rollen, die zu Burnout führten. «Man muss die ganze Betriebskultur anschauen und nicht nur Gratis­äpfel austeilen.»

Auch die Politik ist gefragt

Gesundheitsförderung habe stets auch eine gesamtgesellschaftliche und somit eine politische Dimension, betont Abderhalden. Es gehe darum, die Chancengleichheit in verschiedenen Bereichen zu verbessern – etwa für alte Menschen, bildungsferne Schichten oder gefährdete Familien. «Ein Kind aus einer suchtbelasteten Familie hat ein sechsmal höheres Risiko, selbst eine Suchtproblematik zu entwickeln», führt sie als Beispiel an. «Es haben eben nicht alle die gleichen Startbedingungen.» Deshalb greife es zu kurz, an die Eigenverantwortung des Einzelnen zu appellieren. «Das Schlagwort der Bevormundung im Zusammenhang mit Prävention wird häufig politisch missbraucht. Unter diesem Deckmantel geht es nicht selten ums Sparen.»

Unterstützen statt verurteilen

Einen ganzheitlichen und ressourcenorientierten Ansatz pflegt der Verein Akzent in Luzern, der sich in der Suchtprävention engagiert. Dort ist die ZHAW-Studentin Esther Helfenstein im Praktikum. Die Fachleute arbeiten nicht direkt mit den Zielgruppen, sondern mit Schlüsselpersonen wie etwa Berufsbildnern oder Lehrpersonen. «Vermutet ein Berufsbildner, dass ein Lehrling kifft, ist es wichtig, dies mit Fingerspitzengefühl anzusprechen», so Helfenstein. Das Fördern von Schutzfaktoren, etwa durch Wertschätzung und Anerkennung, spiele eine zentrale Rolle in der Frühintervention. Zudem sollten Risiko­faktoren wie Über- oder Unterforderung reduziert werden. Besonders gefährdet seien Lernende in Berufen mit unregelmässigen Arbeitszeiten. Wenn etwa eine angehende Bäckerin wegen Nachtschichten den Kontakt zu Gleichaltrigen verliere, bestehe die Gefahr, dass sie einen problematischen Internet- oder Drogenkonsum entwickele. Berufsbildner sollten solche Schwierigkeiten thematisieren und mit den Jugendlichen über gesunde Strategien sprechen. Ihr Rat: «Natürlich müssen sie Klartext reden, was im Betrieb geht und was nicht. Gleichzeitig sollten sie den Jugendlichen Unterstützung anbieten. Die meisten sind froh darüber.»

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