«Normalität ist bequem, aber auch gefährlich»

23.03.2021
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Was ist normal? Wer bestimmt das? Wozu braucht es Normalität? Und was ist die gefährliche Seite der Normalität? Drei ZHAW-Fachleute im Gespräch über  Normalität im Alltag, an der Hochschule, in der Umweltpolitik, der Pflege und der Forschung.

Viele sehnen sich nach Normalität. Andere wollen in eine neue Normalität aufbrechen. Was bedeutet für Sie Normalität?

Andreas Gerber-Grote: Ich fang mal an. Dass ich mich als Mann vordrängle, ist ja ganz normal (lacht). Aber im Ernst: «Normal» ist für mich ein sehr ambivalenter Begriff. Er klingt einerseits ganz heimelig: Man fühlt sich zu Hause, alles ist sicher. Da ich als Mann Männer liebe, kenne ich andererseits schon seit 50 Jahren das Gefühl, dass ich quasi nicht normal bin. Deshalb empfinde ich «normal» als einen ganz schlimmen Begriff, der ausgrenzt. Bis vor 50 Jahren war es ja auch normal, dass Frauen in der Schweiz nicht wählen durften. Normalität ist also kulturbedingt. Und ein Beispiel aus der Medizin zeigt, wie diffus der Begriff verwendet wird. Als Arzt fragte ich meine Patientinnen und Patienten früher: «Wie ist denn Ihr Stuhlgang?» Die Antwort war meist: «Normal.» Aber was heisst denn normal?

 

«Wir beuten diesen Globus aus und nennen das normal»

Andreas Gerber-Grote, Direktor des Departements Gesundheit und Leiter des Ressorts Forschung und Entwicklung.

Was heisst normal für Sie beide?

Svenja Witzig: Bei mir schwingt auch diese Ambivalenz mit. Ich spüre die verführerische Seite der Normalität, die mit der Komfortzone zu tun hat, mit Selbstverständlichkeiten, die das Leben antizipierbar und planbar machen und Struktur geben ... Hierzu gibt es ein schönes Zitat von van Gogh: «Die Normalität ist eine gepflasterte Strasse, sie ist bequem zu begehen. Aber es wachsen keine Blumen drauf.» Normalität hat also auch etwas Statisches. Zudem finde ich den Begriff gefährlich. Er hat etwas Hegemoniales. Normalität hat immer mit Norm, Normierung zu tun. Und wenn sich jetzt viele die Normalität zurückwünschen, dann kommt mir gleich die ökologische Dimension in den Sinn – neben Diversity meine zweite Guideline im Leben. Ich zitiere hier eine internationale Umweltorganisation: «We can’t go back to normal, because normal was the problem.»

«Für mich sind Schule und das Recht auf Bildung so etwas Systemrelevantes und Normales»

Svenja Witzig, Leiterin der Stabsstelle Diversity ZHAW

Das ist jetzt eine Steilvorlage für Sie als Umweltökonomin, Frau Betz.

Regina Betz: Zunächst möchte ich als Mutter einer Tochter sagen, dass Routinen für mich so etwas wie Normalität darstellen und diese im Alltag mit Kindern wichtig sind. Routinen sind bequem. Innovationen entstehen aber in Krisen. England an der Schwelle zur Industrialisierung ist da ein gutes Beispiel. Weil sie bereits alle Wälder abgeholzt hatten, mussten sich die Briten eine andere Art der Energiegewinnung einfallen lassen. Sie haben Kohle entdeckt und Dampfmaschinen erfunden. Heute ist Kohleenergie eine neue Normalität und wieder zu einem Problem geworden.

«Die Klimakrise taugt nur bedingt als Wendemarke. ... Die Pandemie könnte ein Umdenken bewirken.»

Regina Betz, Umweltökonomin

Dann wird die Klimakrise Auslöser für Innovationen und Verhaltensänderungen sein?

Betz: Die Klimakrise taugt nur bedingt als Wendemarke. Für die breite Bevölkerung ist das Thema zu abstrakt und hierzulande noch nicht akut genug. Die Pandemie könnte so ein Auslöser sein und dazu führen, dass wir in manchen Bereichen einhalten und wirklich umdenken.

Hat sich Ihre Normalität seit der Pandemie gewandelt?

Gerber-Grote: Wir tun immer so, als ob unser Leben vor der Corona-Pandemie so normal gewesen wäre. Wir beuten diesen Globus aus und nennen das normal. In Wirklichkeit ist das aber eigentlich völlig verrückt.

Witzig: Ich bin Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern. Als der erste Lockdown kam, war das ein irritierendes Erlebnis. Für mich sind Schule und das Recht auf Bildung so etwas Systemrelevantes und Normales. Es dauerte lange, bis ich mir sagen konnte: «Das ist jetzt halt so, dass die Kids zu Hause bleiben. Ich muss jetzt das Beste draus machen.» Ich empfand mich als geistig unflexibel. Dabei habe ich früher auch in der Entwicklungszusammenarbeit gearbeitet, da musste ich jeden Tag improvisieren. Zurück in der Komfortzone Schweiz, habe ich das wohl verlernt. Da möchte ich wieder mehr Wert drauf legen.

Und bei Ihnen beiden: Hat sich bei Ihnen die Normalität gewandelt?

Betz: Diese Schulschliessung war auch für mich die krasseste Veränderung in dieser Pandemiesituation. Wir mussten den kompletten Alltag umkrempeln. Ich musste pünktlich kochen, da meine Tochter auch im Homeschooling den ganzen Stundenplan durchgemacht hat. Das bedeutete, dass sie innerhalb einer Stunde essen musste. Früher haben wir alle irgendwie extern gegessen. Jetzt mussten wir täglich kochen und einmal in der Woche Grosseinkauf machen.

Gerber-Grote: Ich frage mich, weshalb schliessen wir Schulen eher als Skigebiete. Was sagt das über unser Empfinden von Normalität aus? Für mich gehört es zu der vorhin beschriebenen positiven Normalität, dass Schulen und Kindergarten offen sind.

Was gilt für den Hochschulunterricht – zurück oder vorwärts in eine neue Normalität?

Witzig: «Man soll das Gute, das die Pandemie hervorgebracht hat, erhalten», sagen jetzt viele. Aus Diversity-Sicht erachte ich es  als wichtig, dass wir nicht unkritisch in diesen Kanon einstimmen: Wir sollten differenziert hinschauen: Was wollen wir und wer definiert, was das Gute und neue Normale im Unterricht ist?

«Es darf keine Online-Monokultur geben. Wir müssen eine Balance zwischen Präsenz- und Onlineunterricht finden.»

Andreas Gerber-Grote, Andreas Gerber-Grote, Direktor des ZHAW-Departements Gesundheit und Leiter des Ressorts Forschung und Entwicklung

Und macht man sich diese grundlegenden Überlegungen an der ZHAW?

Gerber-Grote: Zu einer Monokultur des Onlineunterrichts darf es nicht kommen. Wir müssen vielmehr zu einer guten Balance zwischen Online- und Präsenzunterricht finden. Als das Allerwichtigste im Studium betrachte ich die Interaktion zwischen Dozierenden und Studierenden. Diese ist zwar auch online möglich, aber informelle Interaktion braucht ganz reale Treffen.

«Wer sollte also definieren, was das Gute ist? Sind das die Studierenden, die Dozierenden oder die Kommission Lehre?»

Svenja Witzig, Leiterin Stabsstelle Diversity

Betz: Wenn wir weiter auf Online-Unterricht setzen, dann würde ich mir wünschen, dass alle ihre PC-Kameras anschalten. Ins Schwarze zu unterrichten, ist ein komisches Gefühl, vor allem bei grossen Unterrichtseinheiten mit 60 Masterstudierenden. Besonders bei Erstsemestern sind grosse Gruppen im Online-Unterricht nicht geeignet. Beim Unterricht in kleinen Gruppen ist jedoch viel Positives möglich. Da kommt man sich manchmal so vor, als ob man zusammen auf dem Sofa sitzt und diskutiert. Ich hatte zum Beispiel Studierende aus Neuseeland, den USA und sonst wo her, die in der Pandemie nach Hause zurückkehrten. Trotzdem konnten alle unser Modul zu Ende bringen, weil ich über ein Zeitfenster von 20.00 bis 21.30 Uhr unterrichtet habe, was über alle Zeitzonen hinweg gut ging. Zum Glück hatte ich alle vor dem Lockdown noch gesehen. Ich hatte also nicht nur ein digitales Bild von den Teilnehmenden. Im zweiten Corona-Semester war das leider nicht so.

Keine Online-Monokultur, kleine Gruppen – ist das die Richtung nach Corona?

Witzig: Ich möchte die Diskussion vom Konkreten weg auf eine Meta­ebene bringen: Für eine umfassende Standortbestimmung rege ich an, alle Initiativen, die unterwegs sind, gebündelt und die digitale Transformation auch unter dem Aspekt von Diversity zu betrachten. Denn was gut ist oder nicht, ist auch eine Frage der Perspektive und der individuellen Voraussetzungen. Wer sollte also definieren, was das Gute ist? Sind das die Studierenden, die Dozierenden oder die Kommission Lehre?

Betz: Eine gründliche Evaluation ist bisher zu kurz gekommen. Jetzt wäre aber ein geeigneter Zeitpunkt dafür. Die Studierenden haben über einen relativ langen Zeitraum diverse Dozierende, Methoden und Tools kennengelernt und können beurteilen, was gut ist oder nicht.

Gerber-Grote: Dem stimme ich zu. Wichtig ist, dass man sich mit den Studentinnen und Studenten austauscht, was optimal für sie wäre. Dann könnte etwas Neues und Spannendes entstehen.

Sie haben es vorhin schon erwähnt: In puncto Umwelt- und Klimapolitik kann es kein Zurück zur Normalität geben. Zeichnet sich da eine neue Normalität ab?

Betz: In gewissen Bereichen hat es Veränderungen gegeben. Manche dieser Neuerungen werden bleiben. Bei einem Webinar zu den Auswirkungen von Corona auf den Transportsektor zeigte sich kürzlich, dass der Flugverkehr am meisten unter den Folgen leidet. In der ersten Welle brachen rund 90 Prozent des Flugverkehrs weg. Inzwischen sind wir wahrscheinlich bei rund 60 Prozent. Es werden also nur ca. 40 Prozent der Flüge im Vergleich zur Zeit davor durchgeführt. Ich denke nicht, dass wir so schnell auf das einstige hohe Level kommen werden.

Woher rührt Ihr Optimismus?

Betz: Erstens haben die Unternehmen gemerkt, dass es nicht so viele Dienstreisen braucht. Mir als Wissenschaftlerin geht es ebenso. Es gibt sogar Vorteile von Online-Konferenzen im Punkt Inklusion. An diesen können viel mehr Leute aus Entwicklungsländern teilnehmen, die sich früher die Reisekosten nicht hätten leisten können. Ausschliesslich Online-Konferenzen wäre aber auch nicht gut, denn es braucht auch das Netzwerken und die Pausengespräche. Das könnte man aber stark konzentrieren auf Konferenzen, die in der Nähe stattfinden.

Die Betriebe des öffentlichen Nahverkehrs klagen ebenfalls über weniger Kunden.

Betz: Ja, das Arbeiten im Homeoffice hat Auswirkungen auf das ÖV-Verhalten. Man hat festgestellt, dass die Zahl der Autofahrten ungefähr gleich geblieben ist. Das liegt wahrscheinlich daran, dass zwar auch Autopendlerinnen und -pendler zu Hause arbeiteten, ÖV-Nutzende aber wegen der Ansteckungsrisiken auf das eigene Fahrzeug umgestiegen sind. Und man sieht, dass die Menschen in der Schweiz statt an den Arbeitsplatz eher am Wochenende unterwegs sind zu Ausflugszielen wie Parks.

«Die Umweltpolitik kann aus der Pandemie lernen, wie die Leute auf Verbote reagieren.»

Regina Betz, Umweltökonomin

Nach der Pandemie werden dann wieder alle ins Büro pendeln?

Betz: Das Homeoffice wird nicht wieder ganz abgeschafft werden. Es wird unterschiedliche Modelle geben, etwa zwei Tage Büro, drei Tage Homeoffice. Das wird positive Auswirkungen auf den Verkehr, aber auch auf den Flächenverbrauch haben. Ob das auch Reduktionen bei Heizungen oder Stromverbrauch bringen wird, ist noch offen. Da muss das jeweilige Facility Management einen guten Weg finden, damit man Einsparungen sieht. Nicht zuletzt wird weniger Kantinenessen nachgefragt, und zu Hause kochen die Menschen weniger Fleisch. Das ist ja auch ganz gut für die Umwelt.

Was kann die Umweltpolitik aus der Pandemie lernen?

Betz: Wie Leute auf Verbote reagieren. Man hat gesehen, dass man alles sehr gut begründen muss, wenn man will, dass die Menschen Regeln oder gar Verbote befolgen. Man kann jetzt testen, was akzeptiert wird und was nicht.

«Solche Systemfehler der bisherigen Normalität müssen korrigiert werden. Umweltkosten müssten internalisiert werden.»

Svenja Witzig, Leiterin Diversity ZHAW

Weshalb gibt es beim CO 2 oder weiteren Klimagasen keine Verbote? Beim Treibhausgas FCKW hat das funktioniert mit positiven Folgen: Das Ozonloch wird kleiner.

Betz: Was sich bei diesem Beispiel gezeigt hat, ist, dass man ein gutes Substitut anbieten können muss. Bei den FCKWs war es so, dass selbst Dupont, also die Firma, die FCKW produzierte, bereits einen Ersatz entwickelt hatte. Das Gleiche wäre zu beachten bei einem Verbot von Autos mit fossilen Antrieben. Wenn die Infrastruktur für E-Autos oder der ÖV eine gute Alternative böten und mein Leben nicht komplett erschwert würde, wäre ein Verbot eher akzeptabel.

Witzig: Substitute sind nur das eine. Es braucht aber auch die politischen Rahmenbedingungen. Unser ganzes Wirtschaftssystem basierte bisher auf billigen fossilen Energieträgern, weil die Umweltkosten externalisiert und von der Allgemeinheit getragen werden müssen. Das führte natürlich zu Verzerrungen, sodass zum Beispiel der Zugverkehr im Vergleich zum Flugverkehr teurer war. Solche Systemfehler der bisherigen Normalität müssen korrigiert werden.

Betz: Das wurde in der Schweiz ja teilweise gemacht. Die CO2-Abgabe ist eine der höchsten der Welt. Sie gilt aber zum Beispiel nicht für den Personenverkehr. Bei den LKWs hat man mit der LSVA ein gutes Instrument zur Internalisierung der externen  Kosten – nicht nur von CO2, sondern auch von Lärm, von Reifenabrieb, der ins Grundwasser gelangen könnte, etc. Die Frage ist jetzt: Kann man nach Corona durch Verbote etwas erreichen, was man vorher nicht hätte durchsetzen können?

Die Schweiz kommt in puncto Klimawandel aber alleine nicht weit.

Betz: Dass Joe Biden wieder dem Pariser Klimaabkommen beigetreten ist, ist ein ermutigendes Zeichen. Man mag  Klimaverhandlungen als langwierig und nicht effektiv abtun – ich war selbst lange Jahre bei internationalen Verhandlungen dabei –, das Problem bekommen wir aber nur in den Griff, wenn wir uns global an einen Tisch setzen. Die USA da nicht dabeizuhaben, war schon ein schlechtes Zeichen gegenüber China und anderen grossen Emittenten. Noch wichtiger ist, dass Biden die grüne Transformation mit neuen Arbeitsplätzen im regenerativen Energiebereich verbinden will. Damit könnte er Trump-Wähler gewinnen. Trump ist ja zum Glück damit gescheitert, die Kohle-, Gas- und Öl-Industrie wieder in Schwung zu bringen. Das hat sich einfach ökonomisch nicht gelohnt. Die regenerativen Energien sind mittlerweile so günstig, dass sie eine neue Normalität geworden sind.

«In der Pflege sind kaum die Effizienzsteigerungen möglich  wie in der Industrie. Deshalb werden wir hier auch nicht solche Lohnerhöhungen sehen.»

Regina Betz , Umweltökonomin

In der Schweiz gibt es die Forderung, die Unterstützungskredite für Firmen an Versprechen für mehr Ökologie zu knüpfen.

Betz: Wir geben hier so viel Geld aus, dass die künftigen Generationen mit zurückzahlen müssen. Da ist es nur fair, wenn nicht wieder das alte Normale aufgebaut wird, sondern etwas Besseres, was auch ökologisch besser ist. International betrachtet ist man da sehr unterschiedlich unterwegs.

Wird nach dem Shutdown-Schock alles anders?

Witzig: Dass die Schweiz die Unterstützungskredite nicht an ökologische Bedingungen knüpft, ist eine vertane Chance. Dabei wären das wichtige Hebel für eine Veränderung.

Gerber-Grote: Ich habe manchmal die Befürchtung, dass es einen Rebound-Effekt geben wird. Viele wollen das nachholen, was sie «verpasst» haben – reisen, fliegen und so weiter.

Witzig: Längerfristig wird es eine Veränderung geben, denn bereits vor Corona wurden wichtige ökologische Paradigmenwechsel eingeleitet – die Bewegung um Greta Thunberg, die «Fridays for Future», die Absicht der EU, aus den fossilen Energien auszusteigen, und selbst China als grösster CO2-Emittent hat erkannt, dass ein «Weiter so!» Selbstmord wäre.

Im Gesundheitswesen ist ein Zurück ebenfalls nicht wünschenswert angesichts der schlechten Arbeitsbedingungen bei den Pflegefachkräften. Was also tun?

Gerber-Grote: Viele in der Bevölkerung haben sich vorbildlich verhalten während der Pandemie, sodass die Spitäler nie übervoll waren. Dennoch waren sie randvoll und Intensivpflegefachfrauen arbeiteten am Anschlag und im Hochrisikobereich. Es gab Applaus, aber der ist verhallt ohne positive Konsequenzen. Da bin ich wirklich ratlos, wie wir es hinbekommen, dass dieser Beruf adäquat gewürdigt und bezahlt wird.

Betz: Historisch betrachtet, waren früher die Frauen in den Familien für die Pflege verantwortlich. Als der Service externalisiert wurde, wurden die Preise viel zu niedrig angesetzt. Kommt hinzu, dass im Bereich Pflege kaum Effizienzsteigerungen möglich sind wie in der Industrie. Deshalb werden wir hier auch nicht die entsprechenden Lohnerhöhungen sehen.

Gerber-Grote: Bis zu einem gewissen Grad gab es die Effizienzsteigerungen schon: Die Liegezeiten sind heute deutlich kürzer als früher.

Witzig: Ich denke, hier spielt die Genderthematik immer noch eine grosse Rolle. Pflegefachkraft oder Erzieherin sind Frauenberufe par excellence. In diesen Bereichen gibt es abgesehen von den Gewerkschaften einfach keine starken Lobbys.

Wer bestimmt eigentlich, was normal ist?

Betz: Das ist ein Massenphänomen: Normal ist, wenn etwas von vielen als solches betrachtet wird.

Witzig: Es ist mehr ein Machtphänomen als ein Massenphänomen.

Betz: Wenn ich von Massenphänomen spreche, denke ich eher ans Konsumverhalten. Ein starkes Beispiel ist das Tempo-Taschentuch. Es wird von so vielen nachgefragt und der Gebrauch ist so normal, dass der Produktname sogar zum Synonym für Papiertaschentuch wurde. Normalität kann also auch auf der Basis empirischer Daten festgestellt werden.

Witzig: Es kann eine quantitative Koppelung geben, muss es aber nicht. Das Apartheidsystem in Südafrika ist hierfür ein sehr gutes Beispiel. Eine weisse Minderheit setzte die Normen und sagte, was normal ist. Mehrheit definiert sich über Machtstrukturen, Definitionsmacht, Sanktionsmöglichkeiten, Privilegien und Kontrollen des Zugangs zu Ressourcen wie Land oder Bildung. Dann kann es eine kleine Minderheit sein, die definiert, was für eine grosse Mehrheit normal sein soll.

Gerber-Grote: Das hat schon der französische Philosoph Foucault in seinem Buch «Überwachen und Strafen» beschrieben, wie Normalisierung auf Disziplin und Strafe aufbaut. Mit Hilfe einer allgegenwärtigen Überwachung wird die Disziplin von der Bevölkerung internalisiert, sodass ich gar niemanden mehr brauche, der das kontrolliert. Es braucht keine Strafe oder Überwachung mehr, sondern allein die Möglichkeit der Bestrafung oder der Überwachung reicht aus, etwas durchzusetzen.

Betz: Normalität, die durch Normen von wenigen festgelegt wird, ist aber auch nicht für immer, wie wir gerade wieder in Weissrussland sehen.

Witzig: In Zusammenhang mit der Definitionsmacht finde ich den Aspekt der Rechtsstaatlichkeit als normsetzender Instanz noch sehr spannend. Das klingt jetzt vielleicht etwas frevelhaft, aber ich meine es ganz sachlich: Die Schweiz hat ein recht unterentwickeltes Gefühl von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten.

Weshalb ist die Schweiz da unterentwickelt?

Witzig: Das ist auf den Mythos des wehrhaften Männerbundes zurückzuführen und auf die direkte Demokratie. Sie hatte  bis vor 50 Jahren zur Folge, dass das Stimmvolk nur aus der männlichen Bevölkerung bestand. Diese bestimmte dann, was sie den anderen zubilligte. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ist dagegen einem Gleichheitsgedanken verpflichtet. Das ist das Volk nicht, das Volk ist einfach der eigenen persönlichen Meinung verpflichtet. Deshalb wird heute, wie einst den Frauen, einem Viertel der ständigen Wohnbevölkerung – nämlich der ausländischen Wohnbevölkerung – das Stimm- und Wahlrecht verwehrt. Oder es können homosexuelle Männer keine Kinder adoptieren. Das ist eine immanente Problematik der direkten Demokratie, auch wenn sie ohne Zweifel sehr viele Vorteile hat und die Demokratie sicher das Beste der Systeme ist, die wir heute kennen.

  «Weil Männer die Norm sind, wurden bei vielen Frauen Herzinfarkte nicht erkannt, weil sie nicht die typischen Brustschmerzen hatten.»

Andreas Gerber-Grote, Direktor des ZHAW-Departements Gesundheit und Leiter des Ressorts Forschung und Entwicklung

Gerber-Grote: Letztlich ist sehr schwer zu definieren, was Norm ist beziehungsweise sein sollte. Wenn wir nochmals in den Medizinbereich schauen, dann gibt es da Standardabweichung, Normalverteilung und vieles mehr. Aber letztlich ist die Frage: Hilft mir das alles? Wenn ich 40 Grad Fieber habe, ist es offensichtlich, dass ich krank bin. Wenn die Sehstärke nachlässt und korrigiert werden muss – ist das krank? Früher wurde das nicht so gesehen. Heute schon. Auch Homosexualität wurde lange als Krankheit bezeichnet. Heute glücklicherweise nicht mehr. So verschieben sich die Grenzen. und Normen wandeln sich.

In der Forschung, der Medizin oder bei der Produktentwicklung ist der Mann die Norm. Wohin führt der Gender Data Gap?

Gerber-Grote: In der Medizin hat das mehrere Ebenen. Eine Ebene ist, dass man Krankheiten bei vielen Frauen nicht erkennt oder dass sie falsch behandelt werden, weil die Krankheitssymptome geschlechtsspezifisch unterschiedlich sind, etwa beim Herzinfarkt. Den hat man lange Zeit bei vielen Frauen nicht erkannt, weil sie nicht die klassischen Brustschmerzen aufweisen. Dann gibt es noch die Ebene, wie man Krankheiten empfindet und wie man darüber spricht. Das kann bei Frauen und Männern oder auch bei Menschen aus anderen Kulturen unterschiedlich sein. Data Gaps gibt es aber auch in anderen Bereichen. In der Corona-Pandemie werden in der Schweiz ganz viele Daten nicht erhoben, etwa zum sozialen Umfeld und Beruf. Diese Daten könnten aber viel entscheidender sein, ob sich jemand mit dem Coronavirus infiziert, als das Alter oder der Name.

Witzig: Diese Data Gaps betreffen nicht nur Frauen, sondern auch Personen anderer ethnischer Herkunft oder anderer äusserer Erscheinung oder Menschen im Alter. Ein Beispiel sind Fussgängerampeln, die so getaktet sind, dass ältere Menschen, Personen mit kleinen Kindern oder Menschen mit Gehbehinderungen kaum genügend Zeit haben, um «normal» über die Strasse zu gehen.

Weshalb wehrt sich kaum jemand gegen diese Datenlücken?

Witzig: Weil man Forschung und Daten immer mit Neutralität verbindet. Man geht davon aus, dass alles ganz sachlich, faktenbasiert und neutral ist. Dass es Verzerrungen gibt und Normvorstellungen dabei eine Rolle spielen, welche Daten erhoben werden. Dieses Bewusstsein müsste man in der Bevölkerung noch schärfen.

Braucht es eine neue Aufklärung?

Witzig: Wir haben seitens der akademischen Welt die Aufgabe, eine gesellschaftliche Diskussion darüber zu lancieren. Beim Gender Data Gap wurde das Phänomen am Ausführlichsten untersucht. Weil diese Data Gaps auch noch andere Dimensionen betreffen, sollten wir schauen, wie unsere Hochschule diesbezüglich unterwegs ist: Was vermitteln Dozierende unseren Studierenden? Sind sie sich bewusst bezüglich dieser Data Gaps? Wie verwenden sie Daten, wenn sie ihre Forschungsprojekte angehen? Und so weiter. Für solche zentralen Fragen würde die Stabsstelle Diversity gerne vermehrt sensibilisieren. Denn das Thema Neutralität in Wissenschaft und Daten wird uns als Gesellschaft und als Hochschule auch künftig noch stark beschäftigen, weil die augenscheinlich neutralen Algorithmen immer mehr Entscheidungen übernehmen. Und die sind nicht neutral. Solche Themen zeigen, wie hoch spannend Diversity ist.

Sollte Diversity die neue Norm sein?

Witzig: Auch hier habe ich eine ambivalente Haltung. Ich bin klar der Ansicht, dass Diversity eine fairere und gerechtere Norm wäre, weil sie der Vielfalt gerechter wird, weil sie inklusiv ist, weil sie auf Menschenrechten basiert und  beiträgt zu Entfaltung, Anerkennung sowie zu Innovationen und guter Performance dank grösserer Perspektivenvielfalt. Aber wenn ich Diversity festsetze als etwas faktisch Überlegenes, muss ich selbstkritisch bleiben: Ist das jetzt wirklich das Wahre und das Gute? Oder schaffe ich dadurch eine neue Normierung, mit allenfalls neuen Unterdrückungs- und Ausschlussmechanismen?

Gerber-Grote: Svenja Witzig hat ja vorhin ganz mutig gesagt, die Demokratie ist nicht perfekt, aber die beste unter den Staatsformen, die wir kennen. Und dem stimme ich zu. Und wenn Demokratie etwas ist, das der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet ist, dann kommt man automatisch zu dem, was man heute Diversity nennt. Normalität wird dabei immer wieder neu ausgehandelt. Früher war ja Demokratie nur was für die griechischen Männer, nichts für Frauen und Sklaven. Da sind wir heute doch ein grosses Stück weiter (lacht).

Digitale Transformation in der Lehre – eine Standortbestimmung 

Wo steht die ZHAW heute bezüglich digitaler Transformation? Eine solche departementsübergreifende Standordbestimmung initiierte die Hochschulversammlung, das Mitwirkungs­organ aller ZHAW-Angehörigen gegenüber der Hochschulleitung, Anfang Jahr. Da die Corona-Pandemie die Digitalisierung in der Lehre stark beschleunigte, sollten jetzt die Lehren aus den wertvollen Erfahrungen gezogen werden.

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