Orientierung für Graubereiche

01.12.2020
4/2020

Impfskepsis, Rassismus, Demenz: Fachpersonen in Gesundheitsberufen sind mit unterschiedlichsten schwierigen Situationen konfrontiert. Berufsethische Codes sollen helfen, angemessen zu reagieren.

Wie weit darf eine Maskenpflicht gehen, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen? Wie viele Menschen aus verschiedenen Haushalten sollen sich noch treffen dürfen? Sollen Besuche von Angehörigen in Pflegeheimen erlaubt sein? Die Frage, wie stark die persönliche Freiheit des Einzelnen eingeschränkt werden darf, beschäftigt Politikerinnen und Politiker, die CEOs von Spitälern und Pflegeheimen, Epidemiologinnen und Epidemiologen und andere Gesundheitsfachpersonen. Sie wägen ab, wann Empfehlungen ausreichen, wann Anreize gegeben werden sollen und wann Verbote mit Sanktionen eingesetzt werden müsse, wenn es darum geht, Menschen im Interesse der Gesundheit zu bestimmten Verhaltensweisen hin zu beeinflussen, .

Ethische Gesundheitsförderung

Um ethische Fragestellungen wie diese kümmern sich auch Fachpersonen der Gesundheitsförderung und Prävention. Bei der öffentlichen Hand wägen sie ab, mit welchen Regeln und Gesetzen eine Verhaltensänderung erreicht werden soll. Beispiele sind die Einschränkung des Tabakkonsums oder die Förderung des geschützten Geschlechtsverkehrs. Bei Krankenkassen prüfen die Fachpersonen, welche Anreize für einen gesunden Lebensstil möglich sind und ob bestimmte Verhaltensweisen sanktioniert werden dürfen.

Orientierungshilfe für Graubereiche

Angehörige kurativer Gesundheitsberufe – wie Hebammen, Physiotherapeutinnen und -therapeuten, Pflegefachpersonen oder Ergotherapeutinnen und -therapeuten – begegnen in ihrem Arbeitsalltag ähnlichen Herausforderungen. Mit welchen Mitteln darf etwa eine Pflegeperson einen dementen Patienten dazu bringen, seine wöchentliche Dusche zu akzeptieren? Wie kann man Eltern empfehlen, ihr Kind zu impfen, wenn sie Impfungen gegenüber kritisch sind? Wie reagiert eine Physiotherapeutin, deren Patientin sich ihr gegenüber rassistisch verhält? «Menschen in Gesundheitsberufen finden sich oft in Situationen wieder, in denen das richtige Vorgehen nicht klar auf der Hand liegt», sagt Karin Nordström, Co-Leitung BSc Gesundheitsförderung und Prävention am Institut für Gesundheitswissenschaften der ZHAW Gesundheit.

Die Codes regeln vier Bereiche

Berufsethische Codes beziehungsweise Leitlinien oder Berufsverständnisse bieten eine Orientierungshilfe für Graubereiche wie diese. Sie werden von den Berufsverbänden der einzelnen Gesundheitsberufe erarbeitet und existieren etwa für Hebammen, Physio- und Ergotherapeutinnen und -therapeuten, Pflegefachpersonen sowie Gesundheitsförderinnen und -förderer. «Die Codes werden von den Berufsverbänden ausgearbeitet und regeln vier Bereiche: Dies ist erstens der Umgang mit den Patientinnen und Patienten beziehungsweise den Klientinnen und Klienten. Trotz Macht- und Wissensasymmetrie soll er auf Augenhöhe erfolgen und von Respekt geprägt sein», sagt Karin Nordström. Die Codes thematisieren ausserdem die Qualität der Arbeit, die Merkmale, welche eine Berufsgruppe definieren, samt Anforderungen an die Ausbildung sowie die Zusammenarbeit sowohl mit Menschen derselben Berufsgruppe als auch mit Angehörigen anderer Gesundheitsberufe.

Charta 2.0

Ein weiterer Code wurde von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) ausgearbeitet. Diese «Charta 2.0 – Interprofessionelle Zusammenarbeit im Gesundheitswesen» führt die Kriterien auf, anhand derer sich Fachpersonen verschiedener Gesundheitsberufe bei der Zusammenarbeit leiten lassen sollen.

«Ein berufsethischer Code ist kein Kochrezept.»

Karin Nordström, ZHAW, Gesundheit

Um junge Berufsleute möglichst früh für die berufsethischen Codes zu sensibilisieren, sind diese Bestandteil der Ausbildung. Die ZHAW Gesundheit hat das Thema in all ihren Bachelorstudiengängen in den Lehrplan aufgenommen. Angehende Hebammen zum Beispiel befassen sich bereits im ersten Semester mit den Grundlagen zu Ethik. Sie werden mit ethischen Begriffen vertraut gemacht, diskutieren den Ethikcode ihres Berufsstandes und reflektieren ihr Berufsverständnis anhand konkreter Fälle. Weiter setzen sich alle Studierenden in multi- und interprofessionellen Modulen und studiengangübergreifend zusammengesetzten Gruppen unter anderem mit der «Charta 2.0 – Interprofessionelle Zusammenarbeit im Gesundheitswesen» auseinander.

Wie ein Kompass

Die Auseinandersetzung mit den berufsethischen Codes hilft Fachpersonen in Gesundheitsberufen, in schwierigen Situationen angemessene Entscheidungen zu treffen. Eindeutige Antworten auf ethische Dilemmata vermögen jedoch auch die Codes nicht zu geben. «Ein berufsethischer Code ist kein Kochrezept mit einer klaren Handlungsanleitung», sagt Karin Nordström: «Er dient vielmehr als Kompass, um sicherer durch die Graubereiche mit ihren vielen Nuancen zu navigieren.»

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