Pflegekinder: Auffallend normal oder rebellisch

23.03.2021
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Pflegekinder stellen aufgrund ihrer Fremdplatzierung ihre Normalität in Frage, mitunter erleben sie Stigmatisierungen. Wie sie sich ihre Normalität konstruieren, untersuchte ZHAW-Dozentin Daniela Reimer in einer qualitativen Studie.

Da ist zum Beispiel Lena. Ihr Vater war schwer chronisch krank und die Mutter psychisch labil und überfordert. So kam Lena im Alter von neun Monaten in eine Pflegefamilie. Heute ist sie 19 Jahre alt. Nach ihrer Situation gefragt, findet sie: normale Schulbildung, normale Hobbys, normale Familie. Vor allem Letzteres klingt überraschend. Mehr als das: Obwohl Lena weiss, dass sie mit ihrer Pflegefamilie biologisch nicht verwandt ist, glaubt sie, dass sie irgendwie «im Bauch der Pflegemutter gewesen» ist. Wieso?

Pflegekinder werden häufig kritisch bewertet

«Die Frage, ob sie normal sind, taucht bei Pflegekindern eigentlich immer auf», sagt Daniela Reimer vom ZHAW-Departement Soziale Arbeit. «Sie werden nicht nur in der Forschung sehr genau untersucht, sondern auch in der Gesellschaft und beispielsweise in Bezug auf die psychische Gesundheit kritisch bewertet.» Sie sind deshalb viel stärker als andere Kinder herausgefordert, für sich selbst eine Normalität zu konstruieren.

Lena ist eines von 50 ehemaligen Pflegekindern, die von ZHAW-Dozentin Reimer im Rahmen diverser Forschungsprojekte befragt worden sind. Daraus ist auch Reimers Dissertation entstanden. Die diplomierte Sozialarbeiterin und Pädagogin hat die Interviews daraufhin analysiert, wie diese jungen Menschen Normalität für sich schaffen.

Vier Typen im Modell

Auf dieser Basis entstand ein theoretisches Modell, aus dem heraus Reimer vier Typen bildete. Diese stellen verdichtet dar, wie ehemalige Pflegekinder auf verschiedene Arten Normalität konstruieren und ausbalancieren:

Typ 1 behauptet Normalität, notfalls gegen alle Widerstände, Typ 2 lebt Normalität vor und entgeht damit Risiken, Typ 3 philosophiert über fehlende Normalität und relativiert sie teilweise dadurch, und Typ 4 zelebriert fehlende Normalität und riskiert Exklusion.

Lena gehört zum Typ 1. Sie präsentiert sich als über alle Massen normal, und falls daran Zweifel aufkommen, glättet sie die Realität bis zur Unkenntlichkeit. Daher vermeidet sie den Kontakt zur Herkunftsfamilie und streitet jede optische oder charakterliche Ähnlichkeit vehement ab. «Bei Menschen dieses Typus spielen Mythen um die Inpflegegabe eine wichtige Rolle, die Unterbringung in genau dieser Pflegefamilie wird als schicksalhaft betrachtet», erklärt Reimer, die Mitglied der Forschungsgruppe Pflegekinder an der Universität Siegen (D) ist. Der Preis dafür ist ein eingeschränkter Freundeskreis, weil man ständig um das Stigma fürchtet.

Ausserdem wird es für Typ 1 schwierig, sich zu einer autonomen Person mit einer eigenständigen Lebensführung zu entwickeln. Aber es gibt auch Vorteile: «Menschen wie Lena profitieren von den Ressourcen, die ihnen die Pflegefamilie bietet, das macht sie handlungsfähig», sagt die ZHAW-Dozentin.

Wunsch nach Normalität

Auch die 18-jährige Amisha, die im Alter von zwei Jahren in eine Pflegefamilie kam, präsentiert sich einerseits als betont normale junge Frau. Anders als bei Lena ist jedoch nicht die Pflegefamilie der alleinige Normalitätsanker, sondern auch andere gesellschaftliche Faktoren. Dazu gehören etwa geschlechtstypische Handlungsmuster. So gibt sich Amisha stereotyp weiblich, sie hat einen Beruf ergriffen, den man landläufig Frauen zuordnet. Ausserdem pflegt sie viele enge Freundschaftsbeziehungen zu Gleichaltrigen. «Auf diese Weise stellt Amisha eine Zugehörigkeit zu dem her, was sie als normal wahrnimmt», erklärt ZHAW-Dozentin Reimer. «Zugleich grenzt sie sich deutlich von jenen Menschen ab, die in ihren Augen fehlende Normalität repräsentieren.» Jedoch kollidiert bei solchen Menschen – wie auch bei Amisha – der Wunsch nach Normalität regelmässig mit dem Bewusstsein für die eigene, spezielle Lebensgeschichte.

Zum Typ 3, der die fehlende Normalität stetig thematisiert, könnte man Hannah zählen. Sie kam als Baby in eine Pflegefamilie, in der sie bis 16-jährig lebte. Dann brach sie das Pflegeverhältnis ab. Im Interview mit Daniela Reimer präsentierte sie sich als unnormal, ihre Homosexualität unterstreicht aus ihrer Sicht diese Zuschreibung.

Hohes Bildungsniveau

Menschen wie Hannah kompensieren die fehlende Normalität oftmals durch ein hohes Bildungsniveau. «Dies erlaubt ihnen, ihre empfundene fehlende Normalität zu reflektieren – wodurch dieser Typus paradoxerweise vom Umfeld teilweise als normal wahrgenommen wird», so Reimer. Positive Freundschaftserfahrungen im jungen Erwachsenenalter sind ebenso Ressourcen wie die gelebte Autonomie. Diese kann wiederum zum Risiko werden, wenn sie überbetont wird und in Einsamkeit führt.

Beim vierten Typus ist dieses Risiko besonders gross. Er zelebriert seine fehlende Normalität und riskiert die Ausgrenzung. Bei diesem Typus ist der Umstand, ein Pflegekind zu sein, einerseits Makel, andererseits wird ein Nutzen daraus gezogen. So etwa beim interviewten Dave, der ab dem Alter von zweieinhalb Jahren in einer Pflegefamilie aufwuchs. Er begründet seine fehlende Normalität vor allem mit seinen diversen medizinischen Diagnosen und therapeutischen Interventionen. Der 21-Jährige erwartet von seinem Umfeld maximale Rücksichtnahme und Verständnis. Gleichzeitig äussert Dave Zukunftssorgen und Angst, sozial ausgeschlossen zu werden. Beziehungen sind für diesen Typus generell kompliziert.

Flexible Familienbilder

«Natürlich lassen sich Menschen nicht in solche Raster pressen», betont Daniela Reimer. Wichtig sei, die Auseinandersetzung der Pflegekinder mit ihren Vorstellungen von Normalität in ihrer Komplexität zu sehen, damit sowohl Chancen wie auch Risiken erkannt werden. Was bedeutet das für die Praxis der Pflegekinderhilfe? «Solche Modelle bieten zwar keine klaren Handlungsanweisungen», räumt die ZHAW-Dozentin ein. Dennoch können Haltungen für die Betreuung von Pflegekindern herausgearbeitet werden. Dazu gehöre unter anderem, vordergründig unverständliches Verhalten auch als Taktik zu verstehen, mit welcher die Pflegekinder eine Normalitätsbalance aufrechtzuerhalten versuchen. Oder ihnen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um Ambivalenzen auszuhalten und flexible Familienbilder zu entwickeln, die ihren Lebensrealitäten besser entsprechen als stark normalistische.

Was aber bedeutet Normalität überhaupt? « Sie stellt nicht einfach den statistischen Durchschnitt dar oder die Norm, aber sie steht mit beidem in Zusammenhang», hält Reimer fest. «Normalität ist volatil. Das heisst: Was normal ist und was nicht, wird in jeder Gesellschaft ausgehandelt, und dies ständig aufs Neue.» Eine Konstante hingegen ist, dass Menschen permanent mit sogenannten Normalitäten konfrontiert werden, sei dies nun in Bezug auf den Körper, auf den Lebensstandard, die Bildung, den Beruf oder die Sexualität.

Appell an die Wissenschaft und Praxis

Sich ständig mit gesellschaftlichen Normalitätserwartungen auseinandersetzen zu müssen, klingt anstrengend, es gehört aber zu den Dingen, die alle Menschen permanent leisten «Bei den meisten Menschen festigen sich die Vorstellungen dessen, was Normalität ist und in welchen Bereichen sie selbst mehr oder weniger normal sind, mit den Jahren, das wird zu einem wichtigen Teil der Identität», sagt die ZHAW-Dozentin. «Auch bei Pflegekindern.» Ihre Studie versteht Daniela Reimer denn auch als  Appell an Wissenschaft und Praxis, die Nebenwirkungen stigmatisierender Zuschreibungen in den Blick zu nehmen, die eigene Forschung und Praxis diesbezüglich zu hinterfragen und daran zu arbeiten, einer vielschichtigeren Perspektive auf Pflegekinder und ihr Aufwachsen mehr Raum zu geben.

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