Pro Treppenstufe zwölf Kilo CO2 gespart

19.03.2019
1/2019

In Abbruchliegenschaften steckt sehr viel graue Energie. Ein Recycling ­von Bauteilen ist nicht nur ökologisch sinnvoll. Es kann auch ästhetisch be­flügeln, wie ZHAW-Architekturstudierende zeigen.

Eine reale Bauaufgabe war der Ausgangspunkt im Frühlingssemester 2018 im Mas­ter­­studio des Instituts Konstruktives Entwerfen IKE. Dabei ging es um die Halle 118 am Lagerplatz in Winterthur. Der Stahlbau mit Backstein- bzw. Fensteraus­fachungen ist der letzte Zeitzeuge auf diesem wichtigen Teil des Sulzer­areals, der noch nicht vollständig umgebaut worden ist. Nun soll der westlich angebaute Kopfbau saniert und aufgestockt werden. Derzeit wird die ehemalige Sulzer-Modellschreinerei als Lager genutzt.

Nur Recycling-Bauteile

Der Gestaltungsplan für den Lagerplatz lässt beachtliche 25 Meter Höhe zu, das ist mehr als doppelt so hoch wie die heutige Halle. Doch einzigartig ist eine andere, völlig ungewöhnliche Vorgabe: Für die Aufstockung sind ausschliesslich wiederverwertete Bauteile erwünscht, die aus Abbruchliegenschaften stammen. Hier, bei der Halle 118, sollen sie nochmals eingesetzt werden. Beim Raumprogramm ist der Bauherr, die Pensionskasse Stiftung Abendrot, recht offen. Flexible 
Arbeits- und Wohnformen lautet die Vorgabe. Die Studierenden bearbeiten die Bauauf­gabe parallel zum Architekturbüro in situ, das mit der Umsetzung beauftragt worden ist. In situ ist auf solche Fragen spezialisiert, Geschäftsleitungsmitglied Barbara Buser gehörte vor über zwanzig Jahren auch zu den Mitbegründerinnen der Bauteilebörse Basel.

Bauteile, die ein zweites Leben verdienen

Die sechs Studentinnen und vierzehn Studenten des Masterstudios seien erst mal «tatkräftig auf Spurensuche gegangen», erzählt IKE-Co-Leiter Andreas Sonderegger. Schauplatz war das Zürcher Industriequartier. Dort wurde der Bürokomplex Orion abgebrochen, in dem auch das bekannte Restaurant Westend untergebracht war. Die erst 30-jährigen Geschäftshäuser entpuppten sich als wahre Fundgrube für Bauteile, die ein zweites Leben verdienen. Zuerst abschätzen, was man brauchen kann, dann ausmessen und schliesslich Hand anlegen. Mit sanfter, aber gezielter Gewalt entwand der studentische Trupp den Gebäuden Fenster, Bürotrennwände, Radiatoren, Lavabos, Fassadenelemente, Geländer und vieles mehr.

Mit sanfter, aber gezielter Gewalt entwand der studentische Trupp den Abbruchgebäuden alles, was sich noch irgendwie sinnvoll und ästhetisch verwerten lässt.

Bei Aluminium oder Stahl ist viel graue Energie in Form von CO₂ darin, weil der Schmelzprozess sehr energieaufwendig ist, bei Gipswänden ist es vergleichsweise wenig.

Fenster, Bürotrennwände, Radiatoren, Lavabos, Fassadenelemente, Geländer – alles was brauchbar ist, wurde mitgenommen.

Die Abbruchgebäude entpuppten sich als wahre Fundgrube für Bauteile, die ein zweites Leben verdienen.

Ungewohnt war für die Masterstudenten vor allem eins: Die planerische Arbeit wurde komplett auf den Kopf gestellt. Man sieht ein interessantes Bauteil und überlegt sich, wie es sich wohl einbauen liesse.

Verschrauben statt verkleben: Künftig wollen die Studierenden bereits bei der Planung eines Gebäudes viel mehr darüber nachdenken, wie sich ein Rückbau in einigen Jahrzehnten erleichtern lässt.

Die Abbruchbauten bieten Inspiration. Man sieht ein interessantes Bauteil und überlegst sich, wie es sich wohl einbauen liesse.

Von der Deckenleuchte über die Einzelstufe Aussentreppe bis zum Stahlträger erhielt jedes sichergestellte Stück einen Beschrieb im Bauteilekatalog.

Erst das Bauteil, dann der Entwurf

Das Baubüro in situ hatte weitere geeignete Abbruchliegenschaften identifiziert, darunter die ehemalige Druckerei Ziegler in Winterthur oder die Coop-Verteilzentrale in Pratteln BL. Von der Deckenleuchte bis zum Stahlträger erhielt jedes sichergestellte Stück einen Beschrieb im Bauteilekatalog, der als Basis für das Projekt Halle 118 dient, mitsamt der Angabe, wie viel graue Energie in Form von CO₂ darin steckt. Bei Aluminium oder Stahl ist das viel, weil der Schmelzprozess sehr energieaufwendig ist, bei Gipswänden ist es vergleichsweise wenig. Dann erst kam das Teil in ein Zwischen­lager.

Ungewohnt war für die Masterstudenten vor allem eins: Die planerische Arbeit wurde komplett auf den Kopf gestellt. «Meist ist zuerst die Idee, der Entwurf», sagt Martin Deuber. Man zeichnet, erarbeitet das grosse Ganze. Dann erst kommt man zum Kleinen, sprich zur Auswahl der benötigten Materialien im Katalog und zur Bestellung mit den erforderlichen Massen. «Bei diesem Projekt lief es genau umgekehrt – zuerst war das Bauteil, dann erst war der Entwurf möglich», so 
Deuber.

Abbruch und Inspiration

Das macht die Sache zwar komplexer, hat aber auch Vorteile. Die Abbruchbauten bieten Inspiration. «Du siehst ein interessantes Bauteil und überlegst dir, wie es sich wohl einbauen liesse», beschreibt 
Selina Putzi den Vorgang. Zum Beispiel die Türen eines Warenlifts. Sie sorgen nun mit ihren kleinen, runden Bullaugenfenstern im «Wohnsilo», wie Putzis Entwurf heisst, für einen magischen Moment zwischen Vorzimmer und Atrium. Und einfach­verglaste Fenster, die wegen ihrer schlechten Isolationswirkung als Fassadenfenster undenkbar sind, setzt sie im Innern als Raumteiler ein. Marc Zahn wiederum verguckte sich in simple feuerverzinkte 
Kabeltrassen, die sich mit ihren gestanzten Löchern und Schlitzen kilometerweise durch Industriebauten winden. Der Clou an seiner Umsetzung ist eine Zweckentfremdung. Zahn nutzt die Kabeltrassen an der Fassade als passiven Sonnenschutz, indem er sie zum Brise soleil umfunktioniert – eine so einfache wie gestalterisch pfiffige Lösung.

«Bauteilrecycling kann als Bricolage enden, als Gebastel, oder es kann zu einer kunstvollen Collage-Technik werden, die uns anregt, über architektonische Werte nachzudenken.»

Astrid Staufer

Um solche Entdeckungen und Auseinandersetzungen mit Referenzpunkten der Baugeschichte geht es Astrid Staufer, die zusammen mit Andreas Sonderegger das Institut Konstruktives Entwerfen leitet. «Bauteilrecycling kann als Bricolage enden, als Gebastel», sagt sie, «oder es kann zu einer kunstvollen Collage-Technik werden, die uns anregt, über architektonische Werte nachzudenken.» Tatsächlich bieten die 15 studentischen Projekte viele spannende, oft überzeugende Lösungen – nebst all der eingesparten grauen Energie.

Blick in den Bauteilekatalog

Um solche Entdeckungen und Auseinandersetzungen mit Referenzpunkten der Baugeschichte geht es Astrid Staufer, die zusammen mit Andreas Sonderegger das Institut Konstruktives Entwerfen leitet. «Bauteilrecycling kann als Bricolage enden, als Gebastel», sagt sie, «oder es kann zu einer kunstvollen Collage-Technik werden, die uns anregt, über architektonische Werte nachzudenken.» Tatsächlich bieten die 15 studentischen Projekte viele spannende, oft überzeugende Lösungen – nebst all der eingesparten grauen Energie. Wer in den Bauteilekatalog mit seinen Fundstücken schaut, gerät ins Staunen. Im «Fens­ter ­Schmidlin-TSK» zum Beispiel stecken 465,32 kg CO₂-Äquivalente (CO₂-e), wie in situ aufgrund von Bauweise und Materialeigenschaften errechnet hat. CO₂-e ist eine Masseinheit, die verschiedene klimaschädigende Stoffe auf die erderwärmende Wirkung von CO₂ umrechnet. Zwecks Veranschaulichung gibt in situ zusätzlich die «maximale Bauteilereisedistanz» von 4526 Kilometern an. Bis zu dieser Streckenlänge lohnt sich der Transport der Fenster ökologisch. Was darüber liegt, schadet der Umwelt. Die «Storen VR 90 Schenker» kommen auf 156,13 kg CO₂-e und 27‘852 Kilometer, die «Einzelstufe Aussentreppe» in verzinktem Metallgitter auf 12,43 kg CO₂-e und 987 Kilometer.

«Früher erfolgte das Recycling aus ökonomischer Not, heute gebietet es die ökologische Not, die vielen mehr und mehr bewusst wird.»

Alexandra Vier

Neu ist die Sache nicht. Einst nutzte man Bauteile aus haushälterischer Umsicht ein zweites oder drittes Mal, mit der Industrialisierung, die zu einer Entwertung der Baumaterialien führte, ging das aber weitgehend verloren. «Früher erfolgte das Recycling aus ökonomischer Not, heute gebietet es die ökologische Not, die vielen mehr und mehr bewusst wird», merkt die Masterstudentin Alexandra Vier an. Tatsächlich hat das Projekt einiges ausgelöst. Während andere Arbeiten am Semesterende in einer Schublade landen und keiner mehr darüber spricht, schlägt «Bauen mit Fundstücken» immer neue Wellen, sei es mit Medienberichten oder mit einer Ausstellung des Schweizerischen Architekturmuseums (S AM).

Beim Bau mehr an den Rückbau denken

Übereinstimmend sagen die Studentinnen und Studenten, künftig bereits bei der Planung eines Gebäudes viel mehr darüber nachzudenken, wie sich ein Rückbau in einigen Jahrzehnten erleichtern lässt. Schon mit einfachen Mitteln lässt sich viel erreichen. «Verschrauben statt verkleben», bringt es Ivo Costa auf den Punkt. So lassen sich Material­kombinationen später gut trennen und rezyklieren. Andernfalls bleibt nur die ­Deponie oder der Kehrichtofen.

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