Wie weiter mit der Globalisierung?

01.07.2020
2/2020

Auf einmal waren die Grenzen dicht. Schutzmaterial, das für die Schweiz bestimmt war, wurde in Nachbarländern blockiert. Wie geht es weiter mit der Globalisierung nach der Corona-Pandemie? Welche politischen Massnahmen werden Staaten ergreifen zur Linderung der wirtschaftlichen Schäden? Wie intensiv kooperiert die Staatengemeinschaft.

Die Prognosen für den Welthandel sind düster: Mit einem Rückgang zwi-schen 13 und 32 Prozent rechnet die Welthandelsorganisation (WTO) in diesem Jahr infolge der Corona-Krise. Die grosse Spannweite sei zurückzuführen auf das «nie zuvor dagewesene» Ausmass der Gesundheitskrise und der damit verbundenen wirtschaftlichen Unsicherheit, sagte WTO-Generaldirektor Roberto Azevêdo Anfang April. «Diese Zahlen sind hässlich – da gibt es nichts schönzureden», lautete sein Kommentar. Behält die WTO recht, wird der globale Handel 2020 so stark sinken wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die Schweiz, deren Wirtschaftskraft und Wohlstand stark von der Leistung der hiesigen Exportunternehmen abhängig ist, meldete im April bei den Einfuhren ein Minus von knapp 22 Prozent und bei den Ausfuhren saisonbereinigt von knapp 12 Prozent. Seit Jahrzehnten waren dies die höchsten Rückgänge innerhalb eines Monats. Nach Schätzungen der KOF gehen zwischen 54 und 71 Prozent der Wertschöpfungsverluste auf den Einbruch der Weltwirtschaft zurück, wohingegen nur zwischen 19 und 45 Prozent direkt durch die Lockdown-Massnahmen verursacht werden.

Die durch die Covid-19-Pandemie ausgelöste globale Wirtschaftskrise ist aus Sicht der ökonomischen

Forschung ohne Beispiel. Was als ein scheinbar regional begrenzter Ausbruch einer Infektionskrankheit begann, weitete sich in einer vielfältig vernetzten Welt zu einer Pandemie und tiefen Rezession aus. Entsprechend den Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IMF) vom April wird die weltweite Produktion im Jahr 2020 mindestens um rund  drei Prozent zurückgehen, in den Industriestaaten sogar um rund sechs Prozent. Zum Vergleich: Während der Weltfinanzkrise betrug der Produktionsrückgang im Krisenjahr 2009 jeweils «nur» 0,1 Prozent beziehungsweise 3,3 Prozent. Das bedeutet, dass sich die Welt in der wahrscheinlich schwersten Rezession seit der Weltwirtschaftskrise vor ziemlich genau 90 Jahren befindet. Die kurzfristigen Folgen werden möglicherweise schnell überwunden. Die durch die Krise verursachten Verwerfungen könnten jedoch zu signifikanten strukturellen Veränderungen in der globalen Produktion und dem Handel von Gütern und Dienstleistungen führen. Die internationale Diversifizierung und Vernetzung von Güterproduktion und -märkten könnte sich weiter verlangsamen oder sogar zurückentwickeln.

Geopolitische Unsicherheiten und eskalierender Handelsstreit

Bereits vor der Pandemie bewegte sich der globale Handel mit Waren und Dienstleistungen in turbulenten Gewässern: Protektionistische Massnahmen vieler Staaten, geopolitische Unsicherheiten und der eskalierende Handelsstreit zwischen den USA und China waren ein Treiber dafür. Ausländische Unternehmen unterliegen in einer wachsenden Zahl von Ländern einer zunehmenden innen-, industrie- oder sicherheitspolitisch motivierten Diskriminierung, wie «Local Content»-Vorschriften («Buy American») oder Beschränkungen bei Beteiligungen.

Europa ist mit der Hälfte des Exportvolumens der bedeutendste Abnehmer von einheimischen Waren.

Allerdings gibt es auch Überraschungen: So bezieht etwa das weit entfernte Japan mehr Güter als das Nachbarland Österreich.

Kommt hinzu, dass der starke Wettbewerbsdruck unter anderem bewirkt, dass globale Lieferketten stark auf Kosteneffizienz ausgerichtet sind, was Schwachstellen birgt: Zu fragmentierte und inflexibel ausgerichtete Lieferketten erweisen sich als äusserst anfällig für sogenannte Schocks wie Natur- und Klimakatastrophen, technische Katastrophen wie Nuklearunfälle (Fukushima), plötzliche Änderungen in den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Unruhen, Kriege, Sanktionen, Handelsstreitigkeiten), Störungen der ICT-Infrastruktur oder eben auch Ausbrüche von Infektionskrankheiten. Die Wahrscheinlichkeit solcher Ereignisse ist zwar vergleichsweise gering, dennoch können sie gravierende Auswirkungen haben.

Die aktuelle Covid-19-Pandemie zeigt dies besonders eindrücklich: Produktionsausfälle aufgrund staatlich verordneter Werksschliessungen an den Standorten der Zulieferunternehmen (z.B. in China) oder auch Lieferverzögerungen aufgrund von Quarantänebestimmungen und Grenzkontrollen führten aufgrund fehlender Pufferlager – gleich einem Dominoeffekt – zu zeitlich versetzten Produktionseinstellungen auf den nachfolgenden Produktionsstufen. Da sich viele Zulieferunternehmen in denselben – von Covid-19 betroffenen – Regionen befinden, konnte häufig kurzfristig kein adäquater Ersatz für ausbleibende Lieferungen gefunden werden. Deutlich wurde, dass viele Unternehmen das Risiko und die Anfälligkeit ihrer Lieferketten für solche Schocks nicht berücksichtigen.

Widerstands- und Anpassungsfähigkeit gegenüber Schocks

Transnationale Wertschöpfungsketten stellen jedoch die «Adern» des globalen Wirtschaftssystems dar. Entsprechend muss ihre Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit – Fachleute sprechen hier von Resilienz (siehe Randspalte) – gegenüber solchen Schocks gestärkt werden.

Diese Widerstandsfähigkeit liesse sich erhöhen, indem die Komplexität der Lieferketten reduziert würde, zum Beispiel durch eine Verringerung der Anzahl der Zulieferer oder durch Rückverlagerung der Produktion in das Herkunftsland der Unternehmen (Reshoring), in benachbarte Länder (Nearshoring) oder zurück in das Unternehmen (Insourcing). Derartige Tendenzen zeichnen sich bereits seit der Weltfinanzkrise ab.

Ein weiteres Mittel zur Risikominimierung wäre die Auswahl unterschiedlicher Zulieferer aus ganz verschiedenen geografischen Regionen (Multiple Sourcing). Nicht zuletzt wären Unternehmen weniger anfällig, würde die Just-in-Time-Produktion reduziert und Puffer- beziehungsweise Reservekapazitäten angelegt, indem Lagerbestände auf- und ausgebaut würden, eventuell sogar zusätzliche Produktionskapazitäten.

Krisenfestere Lieferketten sind jedoch nicht ohne höhere Herstellungskosten zu haben, sei es durch höhere Lohnkosten, wenn in den Herkunftsländern selbst produziert wird, oder durch zusätzliche Kosten einer Lagerhaltung. Dies werden dann auch die Konsumentinnen und Konsumenten zu spüren bekommen. Ein krisensicheres Angebot von z. B. Smartphones oder Notebooks wird sich nur zu höheren Preisen realisieren lassen.

Schlussendlich besteht für die Unternehmen ein Zielkonflikt zwischen Kosteneffizienz und Produktionssicherheit. So kann der Preiswettbewerb dazu führen, dass Unternehmen nach der Corona-Krise auf entsprechende Sicherheitsanpassungen verzichten (müssen). Vor allem grosse, systemrelevante Unternehmen könnten versucht sein, darauf zu bauen, dass der Staat sie schon retten wird. Hier wäre möglicherweise eine staatliche Regulierung notwendig, die Unternehmen etwa Pflichtlager bei wichtigen Vorleistungen vorschreibt oder etwa bei Schutzmaterial wie Mundschutzmasken. Keinesfalls sollte die Lösung lauten: zurück zur Autarkie, wie manch ein Politiker vorschlug, indem er die Produktion von Schutzmaterial oder gar Impfstoffen für die eigene Bevölkerung im jeweiligen Heimatland forderte. Nur durch internationale Kooperation kann man dringend notwendige Lösungen etwa im medizinischen Bereich erreichen, Forschungs- und Investitionskosten niedrig halten sowie eine sozial und ökologisch nachhaltige Wirtschaft erreichen.

Potenzial für tiefgreifende Veränderungen durch 3D-Drucker

Ein grosses Potenzial für tiefgreifende Veränderungen der Weltwirtschaft dürften in diesen Wettbewerbs- und Sicherheitsszenarien mittel- bis langfristig zwei technologische Entwicklungen haben. Es sind dies die Robotisierung und der 3D-Druck. Diese könnten endgültig zu einer Umwandlung der globalen Wertschöpfungsketten vieler Unternehmen zurück in regionale oder lokale Wertschöpfungsketten beitragen. Beide Technologien erlauben es, bisher arbeitsintensive Herstellungsprozesse durch eine automatisierte Produktion mit geringem Personalbedarf zu ersetzen. Dadurch wird einer der wesentlichsten Anreize für eine Produktion im Ausland – niedrige Lohnkosten – entfallen. Beide Technologien erlauben zusätzlich die kostengünstige Fertigung von Kleinserien, die auf Kundenbedürfnisse zugeschnitten sind. Eine solche kundenspezifische Fertigung weist häufig einen hohen Kommunikations- und Koordinationsbedarf auf, der mit lokalen beziehungsweise regionalen Lieferketten wesentlich besser realisierbar ist.

Roboter sind resistent gegen Infektionserkrankungen

Einer der wesentlichen Vorteile aber ist, dass sowohl Roboter als auch 3D-Drucker resistent gegen Infektionserkrankungen sind. Eine Resilienz gegen Pandemien ist hier somit von vornherein gegeben. Und im Idealfall lassen sie sich sogar aus dem Home-Office bedienen. Nur: Was, wenn der nächste Schock durch einen Datenvirus verursacht wird? Sind die Unternehmen ausreichend darauf vorbereitet? Diverse Studien zeigen hier, dass dies wohl noch nicht bei allen der Fall ist.

Björn Plaschnick ist Dozent für Volkswirtschaftslehre an der ZHAW School of Management and Law.

Resilienz

Mit diesem Begriff wird allgemein die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit gegenüber erwarteten oder unerwarteten kurzfristigen Ereignissen bzw. Schocks (Umweltkatastrophen, Kriege, Pandemien) wie auch gegenüber langfristigen Veränderungen (Klimawandel, Überalterung) bezeichnet. Wichtige Aspekte sind u.a. die korrekte Vorhersage von möglichen Veränderun-gen und deren Auswirkungen (Antizipation), die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit und Kompensation der Auswirkungen (Robustheit bzw. Stabilität) und die Fähigkeit, sich an Veränderungen aktiv anzupassen und zu reorganisieren (Agilität). Resilienz als Eigenschaft komplexer Systeme ist seit längerem ein Thema in der Ökologie und Klimaforschung. In den Wirtschaftswissenschaften wird sie spätestens seit der Weltfinanzkrise breit diskutiert und spielt als Grundlage der Bankenregulierung (in Form von Stresstests oder Kapitalpuffern) eine wichtige Rolle.

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