Zürich-West: Lebensadern und Zäsuren

19.06.2019
2/2019

Einst prägte die Industrie Zürich-West. Nach einem tiefgreifenden Wandel ist das ­Quartier zur urbanen Wohn-, Bildungs- und Bürostadt umgebaut worden. Als heikel erwies sich der Umgang mit den grossen Verkehrsachsen.

In der Markthalle unter dem Wip­kingerviadukt startet der Rund­gang mit ZHAW-Pro­fesso­rin Regula Iseli. Hier beginnt der Stadtteil Zürich-West. Die Co-Leiterin des Instituts Urban Landscape zeigt nach oben. Seit 1894 fahren die Züge nach Oerlikon über den Viadukt. Sein Vorgänger war ein Bahndamm, der entlang der heutigen Röntgenstrasse verlief. Die Bahn­infrastruktur wurde um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert stark ausgebaut; sie ermöglich­te den Transport von Kohle und Rohstoffen für die neu gegründeten Fabriken und Werkstätten und bot zugleich einen Anschluss ans europäische Eisenbahnnetz.

«Zürich-West wird mit Respekt gegen­über der Geschichte zu einem urbanen Stadtteil umgeformt».

Regula Iseli

Der denkmalgeschützte Wipkingerviadukt ist ein Symbol für den Transformationsprozess, der vor 25 Jahren eingesetzt hat. Die stadtauswärts liegenden In­dustrieareale haben sich enorm verändert. «Zürich-West wird schrittweise und mit Respekt gegenüber seiner Geschichte zu einem urbanen Stadtteil umgeformt», sagt Iseli. Es gibt viermal mehr Wohnungen als zuvor, die Zahl der Arbeitsplätze hat sich verdoppelt, die Bevölkerungszahl verdreifacht, eine Dreizimmerwohnung ist 50 Prozent teurer als im städtischen Durchschnitt.

Was den Viadukt anbelangt, sieht das Resultat der Transformation so aus: Unter 53 Bögen entstanden Restaurants, Läden und die Markthalle. Ziel war eine quartierverträgliche, regional verwurzelte Nutzung, was auch der Betreiberin, der PWG, der städtischen Stiftung zum Erhalt von preisgüns­tigem Wohn- und Gewerberaum, zu verdanken ist. Das heisst Käse­laden, Mini­metzg, Bäckerei, Caritas-­Secondhand und handverlesene Boutiquen statt Kaffeehausketten oder globalisierte Turnschuhläden.

Der Respekt musste aber erst mal eingefordert werden. «Wirtschaftspromotoren träumten in den 1980er Jahren davon, nicht mehr industriell benötigte Areale rasch umzuzonen, die alten Gemäuer einzureissen und Dienstleistungsgebäude hochzuziehen», erzählt Iseli. Die Mietpreise für Büroflächen befanden sich damals auf einem Höhenflug. Diese Pläne wurden ausgebremst. Zuerst sprach sich die Stadtregierung gegen einen unwirtlichen Stadtteil voller öder Büroschluchten aus und 1992 auch das Volk mit seinem Ja zur hochumstrittenen Bau- und Zonenordnung. Das war ein Glücksfall – denn die Wirtschaft war inzwischen in eine Rezession gestürzt, die Immobilienblase geplatzt. Büros standen überall leer.

Die Grundeigentümer stiegen nun in eine kooperative Planung mit der Stadt ein, die mit Leitlinien für eine hohe städtebauliche Qualität nicht nur Respekt gegenüber der Geschichte und lokalen Eigenheiten einforderte, sondern auch Mindestanteile fürs Wohnen im neuen Stadtteil festlegte. «Über Gestaltungspläne und Sonderbauvorschriften wurden massgeschneiderte Lösungen für die einzelnen Areale ausgehandelt», erläutert Regula Iseli auf dem Weg Richtung Escher-Wyss-Platz.

Was dabei entstand, gehört zu den Markenzeichen des Quartiers: umgenutzte Industriebauten wie das Löwenbräuareal mit seinem vornehmen neuen Wohnturm oder die Schiffbauhalle mit der Dépendance des Schauspielhauses oder das Toni-Areal mit ZHdK und ZHAW. Dazu kommen die markanten Neubauten wie das Büro­hochhaus Prime Tower.

Was das Quartier im Alltag immer noch stark prägt, ist – erneut – eine Verkehrsachse: die 1,3 Kilometer lange Hardbrücke, die seit 1972 Zürich-West in Nord–Süd-Richtung entzweischneidet. «Die Hardbrücke ist eine Zäsur», so Iseli. Das einstige Provisorium verleiht dem Quartier aber auch Rückhalt und Urbanität. Bei der Hardbrücke mischen sich Büroarbeiter und Partyvolk, Kultur und Kulturen, Anwohner und Studierende, Gastronomie und Wurststände. Seit Ende 2017 führt eine Tramlinie darüber, und jeden Tag benutzen rund 50‘000 Passagiere den darunterliegenden SBB-Bahnhof Hardbrücke. Rechts am Schiffbau vorbei gelangen wir zum Turbinenplatz.

Die Stadt sicherte mit dem Gestaltungsplan diesen Freiraum, der fast an die Grösse des Sechseläuten­platzes heranreicht. Die Grundeigentümer wurden verpflichtet, den Platz nach der Fertigstellung der Stadt zu übergeben – eine Art Mehrwertabschöpfung. «Städtebaulich sind solche Räume wichtig, die viel zulassen», sagt Iseli. Dass der Platz nicht besonders stark für Veranstaltungen genutzt wird, sieht sie auch als Qualität, «es muss nicht immer alles rentabilisiert sein».

Wie prägend der Umgang mit den grossen Verkehrsachsen für den neuen Stadtteil ist, zeigt die Pfingstweid­strasse. Seit 2011 verkörpert die sanierte vierspurige Einfallstrasse mit neuer Tramlinie «eine eindrückliche Transformation dieses Zubringers in eine städtische Struktur», so Iseli.

Das stürmische Wachstum in Zürich-West hält an. Für 570 Millionen Franken soll das Hardturm-Stadion mit Hochhäusern und über 700 Wohnungen entstehen. Beim Tramdepot Hard will die Stadt zwei Hochhaustürme mit 200 Wohnungen bauen.

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