Planetary Health

Regulierte Metasynthese – Wie das Recht Disruption gestalten kann

25.11.2025
2/2025

Das Rechtssystem steht vor der Herausforderung, Stabilität zu garantieren und gleichzeitig tiefgreifende Transformationen zu ermöglichen. Angesichts disruptiver Innovationen, wie alternative Proteine, künstliche Intelligenz oder biotechnologische Verfahren in der Landwirtschaft führt dies zu Spannungen.

Traditionell ist das Recht ein System, das Ordnung sichert, bestehende Institutionen schützt und soziale Stabilität garantiert. Diese konservative Rolle hat ihren Sinn: Sie ermöglicht Berechenbarkeit, Vertrauen und Schutz vor willkürlichen Eingriffen. Gerade in unsicheren Zeiten erscheint ein stabiler Rechtsrahmen als Anker im Wandel. Doch genau diese Stärke kann zur Schwäche werden, wenn sie den notwendigen Wandel verhindert. Innovationen, die bestehende Praktiken, Geschäftsmodelle oder Werte infrage stellen, stossen nicht nur auf ökonomischen Widerstand, sondern auch auf normative Barrieren. Das Recht schützt das Bestehende – und riskiert damit, das Zukünftige zu blockieren.

Recht als Möglichkeitsraum

Doch Recht kann mehr sein als Bewahrung. Es kann auch Transformation ermöglichen. Wenn neue Technologien nicht nur technische, sondern auch gesellschaftliche Innovationen mit sich bringen, dann entstehen nicht nur neue Produkte, sondern auch neue Wertesysteme. In solchen Momenten geschieht eine doppelte Bewegung: Bestehendes wird entwertet – dieser Prozess der Devaluation betrifft nicht nur materielle Ressourcen, sondern auch symbolische Ordnungen, Legitimität und institutionelle Autoritäten. Gleichzeitig vollzieht sich eine Revaluation – neue Praktiken und Normen gewinnen an Bedeutung, werden als zukunftsfähig oder ethisch überlegen eingestuft, erhalten gesellschaftliche Anerkennung oder gesetzliche Förderung. Dieser Übergang ist nie neutral. Er wird ausgehandelt – oder durchgesetzt. Oft sind es wirtschaftlich mächtige Akteure, die versuchen, entweder die Entwertung des Alten zu verhindern oder die Neubewertung des Neuen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Lobbyarbeit, regulatorisches Design, Marktmonopolisierung und strategische Kommunikationskampagnen sind Mittel dieser Einflussnahme. In diesem Spannungsfeld steht das Recht unter Druck: Soll es neutral bleiben, den Wandel lediglich abbilden? Oder darf – ja muss – es selbst aktiv werden und durch Rahmensetzung, Standardisierung und Beteiligungsgestaltung Einfluss nehmen auf das, was in Zukunft als wertvoll gelten soll?

Ernährungssysteme als Bühne der Metasynthese

Gerade in den Ernährungssystemen zeigt sich dieses Spannungsfeld exemplarisch. Die Debatte um Fleischalternativen, um ökologische und regenerative Landwirtschaft oder um digitale Transparenzsysteme im Wertschöpfungsnetzwerk zeigt: Wer bestimmt, was als gesunde, nachhaltige, ethische Ernährung gilt, verhandelt nicht nur über Geschmack oder Gesundheit, sondern über ökonomische Interessen, kulturelle Identitäten und politische Macht. Wenn das Recht sich hier auf eine rein technokratische Rolle beschränkt, läuft es Gefahr, Spielball partikularer Interessen zu werden. Wenn es dagegen neue Praktiken fördert oder alte beschränkt, ohne öffentliche Aushandlung, droht der Verlust demokratischer Legitimität.

Der Vorschlag: Regulierte Metasynthese

Es braucht also eine neue Rolle des Rechts: nicht als statische Autorität, aber auch nicht als blosser Vollzugsgehilfe von Marktlogiken oder technologischen Narrativen. Wir schlagen vor, diesen Wandel als Prozess einer regulierten Metasynthese zu verstehen. Damit meinen wir die bewusste Verbindung von Devaluation und Revaluation unter aktiver rechtlicher Gestaltung, wobei das Recht nicht nur schützt oder erlaubt, sondern aktiv Räume schafft, in denen neue Werte entstehen und legitimiert werden können. Ein solches Rechtssystem wäre nicht reaktiv, sondern lernfähig. Es würde nicht nur regulieren, sondern sich selbst kontinuierlich weiterentwickeln. Es würde auf technologische Entwicklungen ebenso reagieren wie auf gesellschaftliche Diskurse, kulturelle Praktiken und ökologische Notwendigkeiten. Es wäre offen für Unsicherheit, ohne beliebig zu werden – stabil in seinen Prinzipien, aber flexibel in seiner Anwendung.

Risiken gestalten statt verwalten

Ein solcher Zugang erfordert einen neuen Umgang mit Risiken. Bisher wird Regulierung oft erst dann aktiv, wenn bereits Schäden eingetreten sind – sei es im Finanzsystem, im Datenschutz oder im Umweltrecht. Dabei zeigt sich, dass verpasste Chancen ebenso folgenreich sein können wie eingetretene Schäden. Wenn neue Ernährungstechnologien zu lange blockiert werden, weil alte Standards nicht angepasst werden, verliert nicht nur die Industrie, sondern gleichzeitig die Gesellschaft. Und wenn rechtliche Unsicherheit verhindert, dass nachhaltigere Praktiken schneller skalieren, zahlt am Ende die Umwelt und damit wir alle den Preis. Deshalb muss Risiko im Kontext von Metasynthese neu verstanden werden: nicht als blosse Bedrohung, sondern als Spannungsfeld zwischen verpasstem Fortschritt und überhasteter Entwertung.

Wertediskurse als demokratische Aufgabe

In diesem Sinne ist die rechtliche Gestaltung von Devaluation und Revaluation ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess. Wer entscheidet, was als wertvoll gilt, entscheidet über Teilhabe, Ressourcenverteilung und Zukunftsgestaltung. Dieser Prozess darf nicht technokratisch oder exklusiv verlaufen. Er braucht demokratische Beteiligung, Transparenz und institutionelle Unabhängigkeit. Nur wenn Regulierungsbehörden unabhängig agieren können, wenn gesetzgeberische Prozesse offen nachvollziehbar sind und wenn öffentliche Debatten über Wertesysteme zugelassen und gefördert werden, kann Metasynthese gelingen. Unsere Erfahrungen in der Arbeit mit Ernährungssystemen zeigen, dass neue Technologien nur dann Akzeptanz finden, wenn sie nicht nur effizient, sondern auch narrativ eingebettet sind. Menschen orientieren sich an Geschichten, an Sinnstiftungen, an kulturellen Bezügen. Recht, das diese Dimensionen ignoriert, läuft Gefahr, seine eigene Wirkung zu verlieren. Ein lernendes Rechtssystem muss deshalb auch kulturell lernfähig sein – sensibel für Narrative, anschlussfähig an Alltagspraktiken und offen für Veränderung.

Zukunft braucht ein lernendes Recht

Was wir brauchen, ist keine Revolution des Rechts, sondern seine evolutionäre Öffnung. Ein Rechtssystem, das nicht in der Vergangenheit verhaftet bleibt, sondern den Mut hat, Zukunft mitzugestalten – vorsichtig, reflektiert, aber entschlossen. In einer Zeit planetarer Krisen und exponentieller Entwicklungen liegt die Zukunft nicht in statischer Normierung, sondern in der Fähigkeit zur kontinuierlichen Aktualisierung. Nur so kann das Recht das leisten, was von ihm erwartet wird: nicht nur zu regulieren, sondern Räume zu schaffen, in denen Zukunft möglich wird. Planetary Health erfordert mehr als neue Produkte – sie verlangt eine kulturelle, rechtliche und ökonomische Metasynthese. Die Transformation beginnt im Kopf – und mündet im Recht.

Zu den Schreibenden

Das Unerwartete denken und schreiben ist das Motto von Gisela und Tilo Hühn. Gemeinsam verantwortungsvoll handeln, reflektieren und etwas bewirken sind die Eckpfeiler ihres Lebenskonzepts. Die beiden arbeiten als Forschende und Dozierende an der ZHAW: Gisela Hühn in der Forschungsgruppe für Lebensmittel-Prozessentwicklung, Tilo Hühn als Leiter des Zentrums für Lebensmittelkomposition und -Prozessdesign. Ob an der Hochschule oder am Küchentisch: Beide diskutieren und arbeiten gerne – zu zweit oder mit anderen – zu zukünftigen Ernährungssystemen sowie zu der Frage, wie man bei der Verarbeitung mehr vom Guten aus Agrarprodukten erhält.

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