Die Datengräber
Die ZHAW-Absolventen und Startup-Gründer Simon Michel und Roman Lickel haben eine Software entwickelt, mit der Gastronomen das Gästeaufkommen voraussagen können. Ziel sind höhere Gewinne und weniger Food Waste.
Skalieren: Simon Michel und Roman Lickel haben das Zauberwort der Startup-Szene verinnerlicht: «Unser Ziel ist, möglichst schnell zu wachsen», sagt der eine, «Skalierbarkeit ist unser grösstes Thema», der andere. Klassisches Unternehmertum mit linearem Wachstum war gestern, heute ist exponentielle Ausdehnung gefragt – gross werden um jeden Preis. Die Jungunternehmer verkörpern den Wachstumsimperativ trefflich: Sie sind agil, geschäftstüchtig – und besessen von ihrer Idee.
Zusammen mit Lukas Stolz und Nico Schefer sitzen sie am Holztisch im Runway Startup Incubator im Winterthurer Technopark und erzählen ihre Story. Der Inkubator der ZHAW ist eine Startrampe für Gründer und bietet günstige Räume, Coaching und Betreuung. Tischfussball, farbige Hocker, offene Türen und leere Kaffeetassen lassen auf reichlich Startup-Groove schliessen.
Startrampe ZHAW-Incubator
Am Eingang hängt ein Poster mit Raketen darauf, versehen mit Portraits der Gründer und lockeren Sprüchen. Links oben klebt die Prognolite-Rakete. Das vor drei Jahren gegründete Unternehmen ist das älteste von zehn hier eingemieteten Startups. Der Umzug in grössere Räume ist für Ende Jahr geplant; es wäre der Beweis, dass der Antrieb gezündet hat.
Prognosen aufs Handy
Die Firma bietet eine App an, mit der Restaurants voraussagen können, wie sich das Gästeaufkommen entwickelt. «Das erlaubt den Wirten, Food Waste zu verringern und Personalkosten zu sparen», sagt Simon Michel. Die Lösung basiert auf Algorithmen, in denen bis zu 1,5 Millionen Kassenbons pro Restaurant der letzten zwei Jahre mit verschiedenen relevanten Daten in Beziehung gesetzt werden, etwa Saisonalität, Wetterdaten, Feiertage oder Schulferien. Durch das Zusammenspiel der Informationen sagt der Algorithmus voraus, wie viel Umsatz das Restaurant machen wird, und erstellt eine Prognose für den Absatz von bestimmten Lebensmitteln. Am Ende lässt sich alles auf dem Handy an sauberen Diagrammen ablesen.
Eigene Erfahrungen waren der Auslöser
Die Idee, die Grosses entfalten soll, geht wie häufig bei funktionalen Innovationen von frustrierten Kunden aus. In dem Fall war es Simon Michel, der an der School of Management and Law Betriebswirtschaft studiert hatte. Nach dem Studium war er bei den Elektrizitätswerken des Kantons Zürich (EKZ) zuständig dafür, einen Teil des Schweizer Stromverbrauchs zu prognostizieren, auf fünf Jahre hinaus und auf die Viertelstunde genau. Als Vegetarier fiel ihm auf, dass im EKZ-Personalrestaurant das Vegi-Menü häufig ausverkauft war. Wenig später, er war in den Skiferien, störte er sich an den langen Warteschlangen in einem Bergrestaurant. «Die Betriebe», so Simon Michel, «hatten offensichtlich Mühe, den Food- und Personaleinsatz zu kalkulieren, weil sie das Gästeaufkommen nicht abschätzen konnten.»
«Ich profitiere enorm von meinem ZHAW-Studium und kann viel gelerntes Wissen direkt anwenden.»
Das war der Anstoss zu Prognolite. «Nach der Idee ging alles ganz schnell», erinnert sich Simon Michel. Erfahrung mit dem Erstellen von Prognosen hatte er von seinem EKZ-Job her, für die Programmierung der App brauchte es einen Informatiker. Er kontaktierte Roman Lickel, den er vom Unihockey kannte und der an der School of Engineering Computer Science studiert hat. Für ihn ergab die Idee «mega Sinn», nach einem Bier waren sich die beiden einig. «Simon hatte es eilig und sagte: Morgen legen wir los.»
Kooperation mit der ZHAW
Mitte 2016 gründeten sie eine GmbH, erstellten einen Businessplan und nahmen die zweite Phase in Angriff: die Entwicklung eines Prototyen. Während sich Roman Lickel in Beschaffung und Aufbereitung von Daten und Schnittstellen auskennt, bringt Simon Michel Know-how in der Erstellung von Prognosen und Betriebswirtschaft ein. «Ich profitiere enorm von meinem ZHAW-Studium und kann viel gelerntes Wissen direkt anwenden», sagt er. Der erste Algorithmus wurde vom Institut für Datenanalyse und Prozessdesign (IDP) der ZHAW entwickelt, mit dem sie eng zusammenarbeiten. Getestet wurde das Tool in der Juckerfarm, die das Problem der Prognosen in den Erlebnishöfen nur zu gut kennt: In Seegräben und Jona variiert das Gästeaufkommen stark. Bei schönem Wetter läuft an einem Wochenende dreimal mehr als bei schlechtem.
«Jeder hat sein eigenes Gärtchen, aber alle ziehen am gleichen Strick.»
Der Wachstumsdruck zwingt die Gründer, offen für jede erdenkliche Verbesserung des Produkts zu sein. Für die Weiterentwicklung stellten sie zwei Spezialisten ein.
Zunächst stiess Lukas Stolz dazu, Informatiker und Data Scientist, der sich an der School of Engineering zum Wirtschaftsingenieur ausbilden liess und nun das Masterstudium macht. Er ist für die Entwicklung der Prognosealgorithmen zuständig.
Anfang 2019 wurde Nico Schefer eingestellt, gelernter Koch, ehemaliger Restaurantmanager, Absolvent der Hotelfachschule Belvoirpark und Student der Betriebswirtschaft an der School of Management and Law. Als Gastronom spricht er die Sprache der Kunden und kümmert sich um die Akquisition. Roman Lickel beschreibt die Dynamik des Teams so: «Jeder hat sein eigenes Gärtchen, aber alle ziehen am gleichen Strick.»
«Viele Gastronomen sind zunächst skeptisch und glauben, es handle sich um Glaskugellesen, aber wir zeigen ihnen, dass wir wissenschaftlich vorgehen.»
Zum Wachstumsmodell gehört es, die Firma von Meilenstein zu Meilenstein vorwärtszubringen. Bis Ende 2019 soll Prognolite 50 Kunden zählen. Bereits steht einer der grössten Schweizer Anbieter der Gemeinschaftsgastronomie auf der Liste, ebenso einige Betriebe von Autogrill, das auf vegane Küche spezialiserte Roots sowie Nooch, die Kette asiatischer Restaurants. «Viele Gastronomen sind zunächst skeptisch und glauben, es handle sich um Glaskugellesen», sagt Simon Michel, «aber wir zeigen ihnen, dass wir wissenschaftlich vorgehen.» Die Prognosegenauigkeit liege im Durchschnitt bei 90 Prozent für den Folgetag. Das Tool kostet einige hundert Franken pro Restaurant und Monat, wobei die Einsparungen «um ein Vielfaches höher sind». Die Software wird nun laufend weiterentwickelt, unter anderem auch in ZHAW-Forschungsprojekten.
Auf Investorensuche
Mit dem Wachstum beginnt auch der Kampf ums Geld. Organisches Wachstum – etwa mit einem Bankkredit – ist für Startups keine Option. Für die Skalierung brauchen sie Kapital von risikofreudigen Investoren. Diese finden die Prognolite-Gründer an Pitching Events, Netzwerkanlässen oder Wettbewerben. Finanziell unterstützt werden sie unter anderem von der Klimastiftung Schweiz und dem Klimafonds Stadtwerk Winterthur. Derzeit läuft eine weitere Finanzierungsrunde. Beim EU-Programm Horizon 2020 haben sie die erste Stufe geschafft und 50'000 Euro eingenommen. In einer nächsten Stufe geht es nun um den Jackpot von 2 Millionen Euro.
Verantwortung für alle Anspruchsgruppen
Das Geld soll helfen, dass die Skaleneffekte möglichst rasch einsetzen. Etwa durch die Expansion nach Deutschland und in weitere Nachbarländer, die für nächstes Jahr geplant ist. Oder die fortschreitende Automatisierung der Softwarelösung, die es erlauben soll, dass der Aufwand trotz Grössenwachstum möglichst gering bleibt. Im Kern geht es bei der Skalierung um die Frage, inwieweit sich der Umsatz steigern lässt, ohne immer neue Investitionen tätigen zu müssen. Jeder neu gewonnene Kunde, jeder Umsatzfranken führt den Jungunternehmern freilich auch neue Herausforderungen vor Augen. Simon Michel verweist auf «die wachsende Verantwortung für alle Anspruchsgruppen und die Schwierigkeit, Mitarbeitenden, Kunden, Investoren und der Familie immer gerecht zu werden». Roman Lickel sieht die Gefahr des Verzettelns: «Wir müssen stets darauf achten, den Fokus zu halten und uns nur auf unser Produkt zu konzentrieren.»
Früh übt sich
Damit dies gelingt, bringen die vier, alle um die 30 Jahre alt, ihre gesammelte Erfahrung ein. Simon Michel etwa hatte als Gymnasiast bereits einmal ein Startup gegründet, das abging wie eine Rakete. Er war damals 17 und begann, zusammen mit Kollegen defekte iPods und iPhones zu reparieren. Die Teenager waren so versiert, dass ihnen führende Telekomanbieter wie Media Markt oder Swisscom Kunden vermittelten. Simon Michel hatte noch nicht einmal die Matura abgelegt und setzte schon 100'000 Franken um. Heute würde ihm das Unternehmen allerdings nicht mehr entsprechen: Das Geschäftsmodell war nicht skalierbar.
0 Kommentare
Sei der Erste der kommentiert!