«Die Pflege muss sich einmischen»

24.09.2019
3/2019

Katharina Fierz gehörte zu den Ersten, die in der Schweiz Pflegewissenschaft studierten. Heute leitet die promovierte Pflegewissenschaftlerin das Institut für Pflege der ZHAW – als Teamplayerin und mit fundierten Vorstellungen zur Weiterentwicklung des Berufs.

Auf dem kleinen Besprechungstisch im Büro der Chefin steht eine grosse, schöne Orchidee. Wer der Leiterin des ZHAW-Instituts für Pflege gegenübersitzt, erhält jedoch keine Botschaften durch die Blume. Katharina Fierz, 58, Pflegewissenschaftlerin mit Doktortitel, spricht Klartext: «Die Pflege muss sich einmischen», sagt sie. Ihr gefallen selbstbewusste Pflegevertreterinnen und -vertreter, die das gesellschaftliche Potenzial ihres Fachgebiets in die Öffentlichkeit und alle möglichen Gremien tragen. Auch sei die Pflege einer der spannendsten Berufe, die sie kenne, betont die Institutsleiterin: «Wer sich auf sie einlässt, wagt etwas und bekommt viel zurück.»

Ihre Stelle in Winterthur übernahm Fierz im Frühling 2018. Sie wechselte von der Universität Basel, wo sie für das pflegewissenschaftliche Masterprogramm verantwortlich war. Auf die Frage, wie das erste Jahr nach dem Wechsel von der Uni an die Fachhochschule war, antwortet sie «streng» und lacht. Vorher habe sie sich vorwiegend um Inhalte gekümmert und Studierende betreut. Jetzt, mit der Führungsfunktion, seien vermehrt Strukturen, Organisationseinheiten und Verbindungen in ihr Blickfeld gerückt: «Meine neue Position macht es notwendig, dass ich diese kennenlernte, mit ihnen arbeite, kommuniziere, netzwerke.» Das sei so interessant wie anspruchsvoll.

Start in der Psychiatriepflege

An der Führungsaufgabe reizt Katharina Fierz das Mitgestalten: der Pflege als Profession, des Instituts mit seinen 62 Mitarbeitenden und über 400 Studierenden, der ZHAW als Bildungsinstitution. Sie unterstützt und fördert gerne Menschen. Zusammenarbeit und Partnerschaftlichkeit sind ihr wichtig. Da habe sie seit ihrem Einstieg Akzente gesetzt, sagt sie: «Ich bilde mir meine Meinung nicht im stillen Kämmerlein, sondern in der Diskussion und Auseinandersetzung mit anderen.» Sie sei, als Vorgesetzte und Person, fassbar und zugänglich. Das werde geschätzt – jedenfalls erhalte sie entsprechendes Feedback.

«Die Pflege braucht ihre eigene Forschungsbasis.»

Dass Katharina Fierz ihr Berufsleben der Pflege widmen würde, stand nicht von Anfang an fest. Nach der Matura in Zürich studierte sie Anglistik, dann Biologie. Beides brach sie ab, das eine freiwillig, das andere unfreiwillig. «Ich bestand die Prüfung nicht», erinnert sie sich. Eine ungewohnte Erfahrung für die sonst stets Bestleistungen erzielende Schülerin und Studentin. Das Selbstbewusstsein war angeknackst. Als  junge Frau wandte sie sich vorerst von der akademischen Welt ab. Sie absolvierte eine Ausbildung als diplomierte Pflegefachfrau und arbeitete zehn Jahre lang in der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) in Zürich.

Was «Care» bedeutet

In der Pflegepraxis tätig zu sein, erfüllte sie sehr. Doch als sie erfuhr, in Basel baue die Medizinische Fakultät den ersten Lehrstuhl für Pflegewissenschaft an einer Schweizer Universität auf, zog es sie zur Alma Mater zurück. Als das neue Institut 2000 den Betrieb aufnahm, gehörte Katharina Fierz zum ersten Jahrgang der Studierenden. Später promovierte sie. In ihrer Dissertation untersuchte sie, wie die Pflege HIV-Betroffene im Umgang mit Symptomen unterstützen kann, für die es zu jener Zeit noch keine unmittelbar lindernden Massnahmen gab. So machte eine bleischwere Müdigkeit vielen Patientinnen und Patienten zu schaffen. Mit Support der Pflege lernten sie, damit umzugehen, und gewannen so die Kontrolle über ihren Alltag zurück. Gute Pflege richte den Blick auf den ganzen Menschen, das Umfeld, den Alltag, den Umgang mit der Erkrankung, sagt Katharina Fierz. An dem Beispiel zeigt sich für sie das Wesen der Pflege und ihrer Erforschung: «Es geht nicht nur um ‹Cure›, also um Heilung, sondern ganz umfassend um ‹Care›.»

Über wissenschaftliches Fehlverhalten

Während der Zeit an der Universität Basel stiess sie auch erstmals auf ein Thema, über das sie später publizierte und ihre Antrittsvorlesung an der ZHAW hielt: wissenschaftliches Fehlverhalten. Damit ist unter anderem gemeint, dass Forschende Daten erfinden oder – ohne dies zu beschreiben – verändern. Dass sie fremde Gedanken als eigene ausgeben oder Textpassagen ohne Herkunftsangabe übernehmen. Schweizer Erhebungen dazu gibt es nicht, internationale erst wenige. Fierz hat sie alle studiert. Das Problem dürfte verbreiteter sein als angenommen, schliesst sie daraus. Und wie die Medizin sei auch die Pflegewissenschaft nicht gegen Fehlverhalten gefeit.

«Die Pflege muss von Gesetzes wegen immer noch für jeden Pipifax eine ärztliche Verordnung einholen.»

Katharina Fierz

Meist stehe gar keine betrügerische Absicht dahinter, sondern ungenügendes Bewusstsein. Oder auch eine Kultur, in der gewisse Dinge nicht angesprochen werden dürfen. Dass die Grenze zwischen richtig und falsch vielfach fliessend sei, macht es auch nicht einfacher. Ihr Interesse an diesem speziellen, ja heiklen Gegenstand sei rein forschungsbedingt, stellt Fierz klar. Nie habe sie in ihrem Umfeld unlauteres Gebaren in verfälschender Absicht beobachtet. Es gehe aber um die Glaubwürdigkeit der Forschung, deshalb müssten schon Studierende dafür sensibilisiert und in korrektem Verhalten geschult werden.

Pflege mit Verantwortung

Seit Katharina Fierz ihr Pflegestudium begann, hat sich die Pflege als akademisches Fach in der Schweiz weiter etabliert. Davon zeugen auch die Master-Studiengänge an den Fachhochschulen. Richtig so, findet sie: «Die Pflege braucht ihre eigene Forschungsbasis.» Eines ihrer Ziele als Institutsleiterin ist es, die Rolle der «Advanced Practice Nurse» (APN) ausgestalten zu helfen. Qualifizierte Pflegeexpertinnen können an verschiedenen Orten im Gesundheitswesen verantwortungsvolle, wirtschaftlich tragbare Aufgaben übernehmen, stellt sie fest und beginnt einige aufzuzählen: Betreuung der zunehmend älteren, chronisch kranken Menschen in den Hausarztpraxen, Begleitung von Patienten vor, während und nach dem Spitalaufenthalt, Übernahme komplexer Aufgaben im Spital.

Auch wenn bereits einige APN im Einsatz sind, fehlt es noch an wichtigen Voraussetzungen. Wieder wird Fierz deutlich: «Die Pflege muss von Gesetzes wegen immer noch für jeden Pipifax eine ärztliche Verordnung einholen.» Sie unterstützt die Pflegeinitiative, die das ändern möchte. Und sie ist optimistisch. Integrierte Gesundheitsversorgung, in der die Berufe auf Augenhöhe zusammenarbeiten, werde sich durchsetzen.

Zürich-Fan Fierz

An die Kraft zur Veränderung glaubte sie schon in jugendlichem Alter, als sie sich in der Stadt Zürich gegen Wohnspekulation engagierte. Heute wohnt sie mit ihrem Partner in einer Genossenschaftssiedlung am Stadtrand von Zürich. Der Limmatstadt hat sie nie den Rücken gekehrt. In Zürich ist sie verwurzelt, sie mag den See, die Urbanität. Als Ausgleich zum kopflastigen Berufsalltag geht sie wöchentlich ins Qigong und macht, schon seit 25 Jahren, orientalischen Tanz. Weil sich mit dem neuen Arbeitsort ihre Pendeldistanz verkürzt hat, gewinnt sie Zeit. «Ich überlege mir, mehr im Garten zu arbeiten», sagt sie, «das erdet mich.»

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