Intergration

Digital Health für Eltern mit Migrationserfahrung

21.09.2021
3/2021

Wie lässt sich das Wissen über Gesundheit und damit die Gesundheit von jungen Migrantinnen und ihren Familien selbst mittels digitaler Angebote verbessern? Dies untersuchten Forscherinnen des Departements Gesundheit der ZHAW. 

Die 24-jährige Samira Ahmadi und ihr einjähriger Sohn Amin leben erst seit Kurzem in der Schweiz. Sie spricht Paschtunisch und besitzt Grundkenntnisse in Englisch, versteht aber keine unserer Landessprachen. Steht die Afghanin im Supermarkt vor dem Regal mit Babyprodukten, versteht sie zum Beispiel nicht, wie sie einen Brei zubereiten muss, was er enthält und für welche Altersstufe er sich eignet. Wie sie mit dem Abstillen weiterfahren soll, googelt sie deshalb in ihrer Muttersprache über ihr Smartphone. Die Kenntnisse von Dr. Google sind in ihrer Menge und Vielfalt jedoch verwirrend.  

Auch Migrantinnen sind Digital Natives 

Das Beispiel ist fiktiv. Es illustriert aber, welche Herausforderungen sich Eltern beziehungsweise Elternteilen mit kleinen Kindern stellen, die sich in einem völlig fremden Kultur- und Sprachkreis wiederfinden. Um die Probleme, aber auch die Bedürfnisse von jüngeren Migrantinnen und Migranten bezüglich ihrer Gesundheitsversorgung besser zu verstehen und die Chancen von digitalen Angeboten richtig einordnen zu können, wurde 2019 das Forschungsprojekt «Digital Health für Eltern mit Migrationserfahrung» mit verschiedenen Teilprojekten lanciert (s. Box). Die Leitung hat Jessica Pehlke-Milde, Professorin und Leiterin der Forschungsstelle am Institut für Hebammen des Departements Gesundheit der ZHAW.

Das Projekt knüpft an der Tatsache an, dass die Zielgruppe zu den Digital Natives gehört, die mit dem Smartphone aufgewachsen sind. Die digitale Transformation unseres Gesundheitssystems könnte die Gesundheitsversorgung und damit letztlich auch die Integration dieser Bevölkerungsgruppe erheblich begünstigen.

Mutter-Kind-Gesundheitsheft wird digitalisiert

In einem Teilprojekt beschäftigten sich die Projektmitarbeiterinnen des Instituts für Gesundheitswissenschaften mit der Frage, ob eine digitale Fassung des Mutter-Kind-Gesundheitshefts Migrantinnen und ihren Familien den Zugang zu Gesundheitsinformationen und zum Gesundheitssystem erleichtern könnte. Solche Gesundheitshefte sind in 163 Ländern bekannt. Sie werden von den Müttern aufbewahrt und geben ihnen einen Überblick über sämtliche relevanten Gesundheitsinformationen rund um Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebensjahre des Kindes sowie anstehende Termine bei medizinischen Fachpersonen. 

«Je nachdem, wie gut junge Migrantinnen die Sprache ihres Ziellands bereits beherrschten, informierten sie sich in dieser oder in ihrer Muttersprache.»

Julia Dratva, Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften

Bei ihren Untersuchungen stiessen die Projektmitarbeiterinnen auf verschiedene Forschungslücken. «Es gibt nur wenige Studien, die sich explizit mit digitalen Informationsangeboten zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit Migrationserfahrung beschäftigen. Zudem stammen fast alle diese Studien aus den USA», sagt Julia Dratva. Sie ist eine der vier Co-Projektleiterinnen und Professorin bei der Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften der ZHAW Gesundheit.

Das Fazit der Recherchen: Das Verhalten der Nutzerinnen erwies sich erwartungsgemäss als sehr heterogen. «Je nachdem, wie gut junge Migrantinnen die Sprache ihres Ziellands bereits beherrschten, informierten sie sich in dieser oder in ihrer Muttersprache», sagt Julia Dratva. Solche Erkenntnisse werden in die Entwicklung des digitalen Gesundheitsheftes von pädiatrie schweiz – der Organisation der Kinderärztinnen und Kinderärzte – einfliessen. Es wird derzeit mit der ZHAW als Partnerin ausgearbeitet. Nach seiner Aufschaltung soll es auch Müttern einen besseren Zugang zu Gesundheitsinformationen und zum Gesundheitssystem ermöglichen. 

Digitale Angebote bauen Sprachbarrieren ab

Forscherinnen des Instituts für Hebammen führten ein weiteres Teilforschungsprojekt durch. Sie identifizierten die Schwierigkeiten, mit denen Migrantinnen während und nach der Schwangerschaft rund um ihre Gesundheitsversorgung konfrontiert sind. «Hiesige Migrantinnen haben ein erhöhtes Risiko für Frühgeburten und leiden während der Schwangerschaft und nach der Geburt öfter an Depressionen als Schweizerinnen», sagt Irina Radu-Minner, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Institut für Hebammen der ZHAW Gesundheit. 

«Die Nachfrage nach Übersetzerinnen und Übersetzern in Spitälern, Therapien und Sprechstunden ist hoch.»

Irina Radu-Minner, nstitut für Hebammen

Was zu dieser Situation beiträgt, veranschaulicht dieses anonymisierte Beispiel: Die 27-jährige Senait Yohannes ist aus Eritrea in die Schweiz gekommen. Nach der Geburt ihrer Tochter entwickelt sie eine postpartale Depression, auch Wochenbett-Depression genannt. Sie fühlt sich von der Versorgung des Babys überfordert, kann nicht mehr schlafen und ist voller Scham, weil sie ihr Kind nicht annehmen kann. Eine Cousine kommt angereist, um sie bei der Versorgung des Kindes zu unterstützen. Auf ihre Frage, warum sie keine ärztliche Hilfe aufgesucht habe, antwortet Senait Yohannes, dass sie das Ganze nicht als Krankheit erkannt habe und deshalb gar nicht auf die Idee gekommen sei, sich professionelle Hilfe zu holen. 

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Die Gesundheitsversorgung von Migrantinnen, die schwanger sind oder ein kleines Kind haben, wird vor allem durch sprachliche und kulturelle Barrieren beeinträchtigt: «Wir stellten ein grosses Bedürfnis nach Informationen zum hiesigen Gesundheitssystem und zu Fragen rund um Schwangerschaft, Geburt und Säuglingszeit in der Landessprache der Migrantinnen fest. Entsprechend hoch ist die Nachfrage nach Übersetzerinnen und Übersetzern in Spitälern, Therapien und Sprechstunden», so Irina Radu-Minner. Zudem habe sich der Wunsch nach einem respektvollen und empathischen Umgang des Gesundheitspersonals mit ihnen gezeigt. Dieser sei nicht immer gegeben, wie Berichte von Diskriminierungen belegten. Diese Erkenntnisse sollen in Folgeprojekte einfliessen, in denen digitale Informationsmittel für schwangere Migrantinnen entwickelt werden. 

«Digital Health für Eltern mit Migrationserfahrung»

Migrantinnen und Migranten gehören in ihren Ursprungsländern und während der ersten Jahre in ihrem Zielland zur gesündesten Bevölkerungsgruppe. Nach einem längeren Aufenthalt ist ihr Gesundheitszustand jedoch oft schlechter als derjenige der Durchschnittsbevölkerung. Eine der wichtigsten Barrieren für Gesundheit ist Sprache. Mangelnde Sprachkenntnisse erschweren den Zugang zu Informationen über Gesundheit und zur Gesundheitsversorgung. Das Forschungsprojekt «Digital Health für Eltern mit Migrationserfahrung» untersucht diese Benachteiligungen und den Nutzen von digitalen Angeboten, die diesem Missstand entgegenwirken sollen.

Beteiligt sind Forscherinnen aus den fünf Instituten Hebammen, Pflege, Ergotherapie, Physiotherapie und Gesundheitswissenschaften des Departements Gesundheit sowie Expertinnen aus der Entwicklungspsychologie, Linguistik und Migrationsforschung. Das Forschungsprojekt diente zum Aufbau einer disziplinübergreifenden Vernetzung zum Thema Migrantengesundheit und digitale Gesundheit. Es wird im Rahmen des Schwerpunkts «Gesellschaftliche Integration» der ZHAW gefördert.

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