Trotz Künstlicher Intelligenz – im Zentrum steht der Mensch
Kaum eine Forschungsdisziplin hat so hohe Erwartungen und Ängste ausgelöst wie die Künstliche Intelligenz. KI-Experte Thilo Stadelmann betont: «Intelligenz beinhaltet viel mehr, als Maschinen je können werden.»
Science-Fiction-Geschichten erzählen von Welten, in denen die Menschheit von intelligenten Maschinen überholt wurde. Sie haben ein Bewusstsein, denken und handeln wie wir Menschen. Einfach viel besser.
Maschinen verdrängen uns am Arbeitsplatz, bedrohen vielleicht sogar gänzlich unsere Existenz.
Gemäss aktuellen Schlagzeilen scheinen solche Zukunftsszenarien nicht völlig unrealistisch: Medien berichten über KI-Systeme, die bessere Diagnosen stellen als junge Ärztinnen und Ärzte oder die in Sekunden die Arbeit verrichten, für die Anwälte 360'000 Stunden benötigen würden. Kürzlich haben Forschende sogar eine Software entwickelt, die selbstständig so glaubwürdige Geschichten erfinden kann, dass die Experten aus Angst vor Missbrauch ihre Forschungsergebnisse nur schrittweise veröffentlichten.
Nicht der erste Hype um Künstliche Intelligenz
Solche Durchbrüche bei der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz lösen gleichermassen hohe Erwartungen wie auch Ängste aus. Für Thilo Stadelmann, Professor in Informatik mit Fokus auf Künstliche Intelligenz ist das nichts Neues: «Seit den 1950er Jahren gab es immer wieder Hypes um Künstliche Intelligenz. Sie entstehen dann, wenn neue Resultate begeistern, da sie zum Beispiel menschliche Fähigkeiten in einem bestimmten Punkt übertreffen, und in der aufflammenden Euphorie für die Folgezeit zu viel versprochen oder zu viel erwartet wird. Bis jetzt wurden diese zu hohen Erwartungen nie erreicht, weshalb die Hypes abflachten.»
Derzeit befinden wir uns wieder in einem KI-Hoch. Der Grund: Die Fortschritte im Bereich Deep Learning – ein Verfahren, bei dem der Computer aus Beispielen lernt, sehr komplexe Muster etwa in Bildern zu erkennen. Auch Stadelmann nutzt in seiner Forschung Deep-Learning-Technologien. So hat er zusammen mit seinem Team und Partnern aus der Praxis ein Verfahren entwickelt, mit dem Musiknoten gelesen werden können, und eines, bei dem Herzkatheter mittels Bilderkennung automatisch auf Defekte überprüft werden.
«Heute ist kein einziger vielversprechender Forschungsansatz bekannt, der darauf hindeutet, dass je starke Künstliche Intelligenz geschaffen wird.»
Wenn KI doch so nützlich sein kann, weshalb dann aber diese Furcht vor ihr? Der Grund dafür sei das Wort «Intelligenz», das wir Menschen ganz intim mit unserem eigenen Wesen und Bewusstsein verknüpfen, sagt der Informatikdozent. Geschürt werde die Angst auch von der Diskussion um sogenannte starke KI – Maschinen, die wie der Mensch über konkrete Anwendungen hinaus autonom weitere Aufgaben angehen und sich die dafür benötigten Fähigkeiten selbstständig aneignen können. Könnten Science-Fiction-Szenarien also wahr werden? Stadelmann winkt ab: «Wahre Intelligenz beinhaltet viel mehr als das, was Maschinen auch nur ansatzweise können. Heute ist kein einziger vielversprechender Forschungsansatz bekannt, der darauf hindeutet, dass je starke Künstliche Intelligenz geschaffen wird.» Der mit Abstand grösste Teil heutiger KI-Forschung und alle bekannten Anwendungen zielen auf schwache KI ab, so Stadelmann. Das sind Anwendungen, die konkrete Probleme lösen und weit davon entfernt sind, über menschenähnliche Intelligenz zu verfügen.
Künstliche Intelligenz fällt im Alltag häufig nicht auf
Künstliche Intelligenz ist per Definition «das Lösen komplexer Probleme mittels Computer». Sie löst damit konkrete Probleme, die als schwierig automatisierbar gelten, und wird teilweise bereits seit Jahrzehnten eingesetzt. Es stecken nicht immer modernste selbstlernende Systeme dahinter, und häufig ist KI im Alltag auch unsichtbar. So findet sie beispielsweise in einfachen Staubsaugern Anwendung, wenn diese automatisch die Saugleistung reduzieren, sobald sich das Rohr festsaugt. Weitere, etwas komplexere Beispiele sind das Navigationsgerät, das die schnellste oder kürzeste Route zum Ziel findet, oder die Google-Suche, die aufgrund unserer Suchbegriffe bestimmt, welche Internetseiten für uns relevant sein könnten.
«Es wird anders kommen, als wir erwarten»
Schwache Künstliche Intelligenz werde den Markt in der nächsten Dekade flächendeckend durchdringen, meint Stadelmann. Der Grund dafür seien die Geschwindigkeit, mit der sich die neuen Technologien verbreiten, und der Umstand, dass Technologien vermehrt frei zugänglich seien, sodass sich auch kleinere, nicht technologiegetriebene Unternehmen KI-Anwendungen leisten könnten. Nach der ferneren Zukunft mit KI gefragt, halten namhafte Wissenschaftler verschiedene Szenarien für möglich:
Drei mögliche Szenarien für die fernere Zukunft:
SZENARIO 1 «Singularität»:
In ein bis zwei Generationen ist starke KI erreicht. Diese wird sich fortan selbstständig in rasanter Geschwindigkeit weiterentwickeln, sodass wir es mit einer neuen, hyperintelligenten Lebensform zu tun bekommen, die der Menschheit überlegen ist. Ray Kurzweil, Director of Engineering bei Google, gilt als einer der prominenten Vertreter dieser These.
SZENARIO 2 «Die Klasse der Nutzlosen»:
Wenige Superreiche erlangen mit Mitteln der Biotechnologie, KI und Robotik bis 2050 quasi Gottstatus, werden praktisch unsterblich und allwissend sein. Diesen steht eine neue soziale Schicht gegenüber: die «Nutzlosen». Alles, was diese können, können Maschinen besser und günstiger erbringen. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich Computerintelligenz immer von menschlicher Intelligenz unterscheiden wird, da nur der Mensch allein über ein Bewusstsein verfügt. Dieses Szenario wurde vom Historiker Yuval Noah Harari skizziert, der mit seinem Buch «Homo Deus» viel Aufmerksamkeit erlangte.
SZENARIO 3 «Verbesserung der Menschheit»:
KI wird uns in Zukunft von Routineaufgaben befreien, sodass wir die Berufung der Menschheit leben können: zu lieben. Es werden vermehrt Tätigkeiten gefragt sein, für die Mitgefühl, Kreativität und strategische Fähigkeiten notwendig sind. In einem Aufsehen erregenden TED-Talk entwarf der Informatiker und Investor Kai-Fu Lee dieses weit optimistischere Szenario.
Alle drei Szenarien beruhen auf einem heute noch ungewissen technischen oder gesellschaftlichen Fortschritt. Das erste Szenario, gemäss welchem starke KI geschaffen wird, schätzt Stadelmann als sehr unwahrscheinlich ein: «Diese Theorie ist reine Glaubenssache.» Wie realistisch die letzten beiden Szenarien sind, sei unmöglich einzuschätzen. «Alle heutigen Voraussagen werden sich angesichts der rasanten Entwicklung als falsch entpuppen. Es wird anders kommen, als wir erwarten. Der Nutzen der Szenarien liegt darin, zu antizipieren und daraufhin die Weichen in die Richtung zu stellen, die wir uns wünschen.»
Drei viel wahrscheinlichere Hypothesen:
Für viel wahrscheinlicher hält Stadelmann drei Hypothesen: «Sie würden sogar zutreffen, wenn die technologische Entwicklung der KI auf dem heutigen Stand stagniert.»
HYPOTHESE 1 «Der Einsatz schwacher KI-Systeme wird sich massiv ausbreiten»:
Der Einsatz von KI-Systemen lohnt sich. Durch sie können Unternehmen Prozesse und Arbeiten optimieren und automatisieren. Das bringt Gewinn, und dem Kunden bringt es Komfort. Zu beidem ist es schwer, Nein zu sagen.
HYPOTHESE 2 «Dies wird unsere Gesellschaft umwälzen»:
Veränderungen werden flächendeckend an vielen unterschiedlichen Stellen gleichzeitig auftreten, viele unterschiedliche Akteure und neue Profiteure hervorbringen. Abläufe werden immer weiter automatisiert, wodurch traditionelle Berufe verschwinden oder sich ändern und neue Berufe entstehen. «Wir werden unseren Alltag nicht mehr damit verbringen, Routinearbeiten nachzugehen, denn diese bieten grosses Potenzial, automatisiert zu werden. Aber wir werden Spezialisten brauchen.» Beispielsweise könnte das Durchforsten früherer Gerichtsurteile künftig von Maschinen erledigt werden. Es wird aber durchaus fähige Juristen brauchen, um die rechtlichen Herausforderungen etwa im Argumentieren vor Gericht zu meistern.
HYPOTHESE 3 «Die grösste Frage wird der Umgang miteinander sein»:
Angst brauche man vor KI keine zu haben. «KI ist ein Werkzeug. Wie wir das Werkzeug einsetzen, ist uns überlassen.» Ein Beispiel: Angenommen, Versicherungen könnten mittels Datenanalysen Risiken exakt für einzelne Versicherte kalkulieren. Das widerspräche der Grundidee einer Versicherung, die auf dem Solidaritätsprinzip aufbaut: Viele zahlen für die Einzelperson, die den Schaden hat. Der Einsatz von KI würde in diesem Fall dafür sorgen, dass nur noch Personen versichert würden, die vermutlich nie einen Schaden haben werden und wohl kaum eine Versicherung brauchen. Dieser Einsatz von KI werfe nicht nur ethische Fragen auf, sondern mache das Geschäftsmodell Versicherung überflüssig, so Stadelmann: «Technologie ist nie gut oder böse; wir müssen definieren, wie wir sie einsetzen.» Es gilt also, ethische, rechtliche und regulatorische Fragen zu diskutieren. Damit steht inmitten der technischen Entwicklungen letzlich eine rein menschliche Frage: «Es geht darum, dass wir als Gesellschaft aktiv die Regeln definieren, wie wir unter den bestehenden und sich neu bietenden digitalen Möglichkeiten zusammenleben möchten.»
GLOSSAR
(Schwache) KI
Künstliche Intelligenz ist das Lösen komplexer (d.h. bislang nur vom Menschen lösbarer) Probleme mittels Computer. Bei allen KI-Systemen, die heute im Einsatz sind, handelt es sich um sogenannte schwache KI. Sie werden jeweils für konkrete Anwendungen entwickelt, beispielsweise für das Erkennen bestimmter Gesichter auf Bildern.
Starke KI
Generelle Künstliche Intelligenz könnte über eine konkrete Anwendung hinaus autonom weitere Aufgaben angehen und sich die dafür benötigten Fähigkeiten selbstständig aneignen. Würde sie dies mindestens auf dem intellektuellen Niveau des Menschen tun, spräche man von starker KI. Es sind heute keine Methoden bekannt, mit denen man diesem Ziel näherkommen kann.
Maschinelles Lernen
Maschinelles Lernen als eine Methode der KI ermöglicht es dem Computer, eine Aufgabe zu erfüllen, ohne für diese explizit Schritt für Schritt programmiert worden zu sein. Hierzu leitet er den Lösungsweg aus bereitgestellten Vorher-nachher-Beispielen ab.
Deep Learning
Deep Learning ist eine Unterdisziplin des maschinellen Lernens. Bei diesem Verfahren, das meist mittels künstlicher neuronaler Netze (Artificial Neural Networks) implementiert wird, müssen die zum Lernen verwendeten Beispieldaten nicht stark vorverarbeitet sein – der Computer lernt «Ende zu Ende» aus Rohdaten (etwa: Pixel eines Portraitfotos) ein abstraktes Konzept (etwa die Identität der abgebildeten Person).
Künstliche neuronale Netze
Künstliche neuronale Netze sind eine Methode des Deep Learning, die sich grob von der Funktionsweise biologischer Nervenzellensysteme inspirieren lässt: Jedes künstliche «Neuron» (analog zur biologischen Nervenzelle) bildet nur einen ganz einfachen Aspekt seiner Eingabedaten ab (etwa: Ist da eine vertikale Kante unten links im Bild?). Vom menschlichen Entwickler zu einem komplexen Netzwerk arrangiert, bestehend aus in vielen Schichten organisierten künstlichen Neuronen und mit möglichst vielen Beispieldaten trainiert, kann das Gesamtsystem so aus der ursprünglichen Eingabe auf das abstrakte Resultat schliessen.
Computer Vision
Computer Vision – oder maschinelles Sehen – ist eine Unterdisziplin in der KI-Forschung. Dem Computer wird beigebracht, Bedeutung in Bildern zu erkennen. Beispiele sind das Lesen von Musiknoten mittels Computer oder die automatische Erkennung von Hautkrebs aufgrund von Bildern.
KI-Winter/KI-Sommer
Seit den Anfängen in den 1950er Jahren gab es immer wieder Phasen, in denen KI-Forschung grosse öffentliche Aufmerksamkeit genoss, sogenannte KI-Sommer. Den KI-Sommern folgten KI-Winter, da es jeweils nicht gelungen ist, die mit Begriffen wie «Intelligenz» und «Lernen» geweckten überzogenen Erwartungen zu erfüllen, die in den KI-Sommern geschürt wurden.
Singularität
Als Singularität wird der postulierte Zeitpunkt bezeichnet, ab dem sich Maschinen mittels Künstlicher Intelligenz so schnell selbst verbessern, dass die Folgen für die Menschheit nicht mehr vorhersehbar sind.
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