Wenn das Gehirn auf Autopilot schaltet

01.12.2020
4/2020

Das Gehirn ist ein Jäger und Sammler. Es entschlüsselt Umweltreize und Botschaften innert Sekunden, intuitiv und emotional. Diese evolutionären Effekte machen sich Regierungen zunutze – und auch das Marketing.

Noch schnell einen Wein im Supermarkt einkaufen, denn man ist bei Freunden eingeladen. Doch die Auswahl überfordert. Da sticht eine Flasche ins Auge: Auf der Etikette ist ein goldenes Symbol mit der Aufschrift «Gold Selection». Das Label suggeriert, dass der Wein besonders gut schmeckt und vielleicht sogar ausgezeichnet ist. Die Flasche landet gleich im Einkaufskorb.

Nicht nur im Supermarkt: Das Gehirn des Menschen ist konstant den unterschiedlichsten Reizen und Informationen ausgesetzt, die eine Entscheidung von ihm verlangen. Doch es fehlen meist Zeit und Informationen, um rational Kosten und Nutzen abzuwägen und die beste Option zu bestimmen. In solchen Situationen entscheidet der Mensch auf der Basis von erlernten Faustregeln und kurzschlussartigem Denken – schnell, intuitiv und emotional.

Mentale Abkürzungen

Dabei nimmt der Mensch auch in Kauf, dass der Entscheid nicht der Realität entspricht: «Denn vielleicht wurde der Wein ja gar nicht objektiv prämiert, sondern von der Kelterei einfach intern so gelabelt», führt Kurt Ackermann, stellvertretender Leiter Fachstelle Behavioral Marketing an der School of Management and Law, das Beispiel weiter aus. Das Label auf der Weinetikette hat aber auf das Gehirn wie ein Code gewirkt: «Denkmuster sind eine Art Dechiffrierungs-Regel, die solche Codes verarbeiten.»

Das Gehirn wählt quasi eine mentale Abkürzung, um schneller ans Ziel zu kommen. Die Disziplin der Verhaltensökonomie hat dies in vielen Studien und Tests eruiert. Zum Beispiel interessieren wir uns mehr für ein Produkt, wenn es nur in limitierter Anzahl verfügbar ist, oder wir reagieren unterschiedlich, je nachdem, wie eine Information präsentiert wird. Wir orientieren uns bei unseren Entscheiden daran, wie sich Mitmenschen verhalten, oder wir schliessen von einzelnen bekannten Eigenschaften eines Produkts auf andere, uns unbekannte (vgl. Box).

Das Gehirn mag keine Extreme

Diese psychologischen Effekte, auch Heuristiken genannt, werden im Marketing gezielt eingesetzt, um den Kunden zum Kauf zu animieren. Indem etwa ein Mobilfunkanbieter drei Abonnements-Varianten anbietet: Das Gehirn will Extreme vermeiden und sucht spontan den Kompromiss – der Konsument wählt die mittlere Variante. Oder, wie Ackermann schildert, das Logo von Visa oder Mastercard am Eingang eines Geschäfts führe dazu, dass der Kunde mehr Geld ausgibt. «Das Symbol triggert», so Ackermann, es löst einen Kaufreflex aus.

In der Schweiz wird dieses sogenannte Behavioral Marketing allerdings noch eher zufällig und punktuell eingesetzt, wie eine Studie von Ackermanns Fachstelle ergeben hat. Nur eine Minderheit von rund 30 Prozent der Unternehmen wende die Verhaltensökonomie systematisch im Marketing an, führt Ackermann aus.

Ethisches Anstupsen

Die Anwendung solcher verhaltensökonomischer Effekte ist auch unter dem Begriff Nudging – zu Deutsch Anstupsen – bekannt. Dazu gehört zum Beispiel auch, in einer Cafeteria Obst und Gemüse auf Augenhöhe zu platzieren, um die Besucherinnen und Besucher zu gesünderem Essen zu animieren. US-Ökonom Richard Thaler hatte für seine Methode, mit kleinen Anstupsern das Verhalten des Menschen in gewünschte Bahnen zu lenken, vor drei Jahren den Nobelpreis erhalten. Doch das Nudging Richard Thalers wurde auch kritisiert: Regierungen würden mit dieser Methode die Bürgerin und den Bürger manipulieren, weil dieser seinen irrationalen Verhaltensweisen folgt, denen er ein Stückweit ausgeliefert ist, wurde moniert.

Dark Nudges

Thaler konterte, dass diese Nudges ethischen Grunddsätzen folgen müssen: Sie müssen transparent sein, nicht irreführend, und es soll für den Menschen einfach sein, sich gegen einen Nudge zu entscheiden. Und: Er soll dem Wohlergehen der Gesellschaft dienen oder zum Wohle des Kunden und Konsumenten sein.

Ethische Grundsätze sollten nicht nur für Staaten, sondern auch für das Marketing gelten, sagt Ackermann. Dafür müsse ein entsprechender Code of Conduct im Unternehmen formuliert werden. Aber es gebe sie dennoch, die sogenannten Dark Nudges, die den Konsumenten manipulieren und ihn zu einem Verhalten bewegen sollen, das nicht in seinem Interesse sei, führt er aus. Zum Beispiel, wenn ein Online-Versandhändler es dem Kunden extrem erschwert bis fast verunmöglicht, sein Kundenkonto wieder zu löschen.

Aus der Zeit der Jäger und Sammler

Doch Konsumenten verändern ihr Verhalten – was gerade in diesem Corona-Jahr ein Thema war. Haben sich damit auch fundamentale Denkmuster verändert (siehe auch Box unten)? Ackermann verneint: «Diese Heuristiken sind durch die Evolution geformt worden, sie stammen aus einer Zeit, als der Homo sapiens noch Jäger und Sammler war.» Heute ist unser Kühlschrank zwar voll und die Situation fundamental anders, aber das Gehirn denkt immer noch, wie wenn es auf der Jagd wäre. Daran ändere auch ein Virus nichts. «Und auch ich falle diesen Effekten zum Opfer», lacht Ackermann. «Auch ich kann mich nicht ganz davor schützen.»

Die Tricks unseres Gehirns

Um schnell entscheiden zu können, bedient sich das Gehirn vorgefertigter Faustregeln – sogenannter Heuristiken. Im Folgenden eine Auswahl solcher Effekte:

Knappheit

Wir kaufen Produkte eher, wenn wir glauben, dass sie zeitlich oder mengenmässig limitiert verfügbar sind. Zum Beispiel: Formulierungen wie «Sichern Sie sich Ihren Platz noch heute» auf Hotelplattformen suggerieren Knappheit.

Umrahmung (Framing)

Wir neigen dazu, auf die gleiche Information unterschiedlich zu reagieren, je nachdem, wie die Information präsentiert wird. Zum Beispiel: Fleisch wird als «99 Prozent fettfrei» beschrieben statt«mit 1 Prozent Fettgehalt».

Lotterie

Lotterien sind effektiv, weil wir die Wahrscheinlichkeit seltener Ereignisse stärker gewichten. Zudem fokussieren wir mehr auf den Lotteriepreis als auf die Wahrscheinlichkeit, diesen zu gewinnen.

Beschreibende Normen

Wir orientieren uns daran, wie sich unsere Mitmenschen verhalten, um akzeptables und wünschenswertes Verhalten zu erkennen. Zum Beispiel: Kunden, die sich ein Flugangebot ansehen, erhalten die Information, dass zwei andere Menschen gerade das gleiche Angebot ansehen.

Lichthof-Effekt (Halo-Effekt)

Wir schliessen von einem Gesamteindruck oder einzelnen bekannten Eigenschaften einer Entscheidungsoption auf andere unbekannte Eigenschaften. Zum Beispiel: Die Kalorienzahl eines Burgers mit Salat wird niedriger geschätzt als die eines identischen Burgers ohne Salat. 

Kompromiss

Bei drei ähnlichen Entscheidungsmöglichkeiten entscheiden wir uns meistens für die mittlere Option, weil wir Extreme vermeiden wollen. Zum Beispiel: drei Mobilfunkabos, um die Wahl auf das mittlere Abo zu lenken. 

Das Behavioral Marketing in Zeiten von Corona

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat Ende 2019 einen Bericht zu Behavioral Insights und im Frühjahr 2020 einen Leitfaden zum Einsatz von Nudging im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention von nichtübertragbaren Krankheiten publiziert; der Bericht wurde von der ZHAW, der Leitfaden vom Beratungsunternehmen FehrAdvice erarbeitet.

Nudging-Instrumente kommen auch zum Einsatz, um die Bevölkerung zur Einhaltung der Corona-Schutzmassnahmen zu motivieren. Bekannte Beispiele sind die Plakate im öffentlichen Raum, die Hinweise an den Eingängen der Geschäfte, eine Maske zu tragen, oder die Klebebandstreifen am Boden, die ans Abstandhalten erinnern.

Doch bei der Epidemie stösst das Instrument an seine Grenzen. Denn die Möglichkeiten des Staates enden vor der Haustür des Bürgers und der Bürgerin und der Eingangstür einer Firma: bei Familie, Freunden und am Arbeitsplatz. Dabei funktionieren solche Anstupser nur, wenn sie am Ort des gewünschten Verhaltens ausgespielt werden. «Vielleicht hätte man darüber nachdenken können, Flyer in die Haushalte und an Unternehmen zu senden», schlägt Kurt Ackermann, stellvertretender Leiter der Fachstelle Behavioral Marketing an der School of Management and Law, eine weitere Nudging-Massnahme vor.

Ein Richtig oder Falsch gebe es aber nicht: «Der Staat hätte sicher mehr nudgen können, doch es war wohl ebenso sinnvoll, es nicht zu tun», meint er. Denn wenn der Bund es übertreibt mit dem Anstupsen, kann sich bei der Bevölkerung ein Gefühl der Gängelung einstellen: «Dann halten sich die Menschen nur schon aus Trotz nicht an die Regeln.» Und: «Mittlerweile sehen sich viele Leute schon selbst als Experten und zweifeln die echten Experten an», so Ackermann. Die Menschen denken aufgrund der öffentlichen Debatten und täglichen Medienberichterstattung bewusster über die verhängten Massnahmen und deren Sinnhaftigkeit nach, haben oft eine feste Meinung dazu. Und lassen sich deshalb wenig von solchen Anstupsern beeinflussen.

«Nudging ist nur ein Werkzeug – und man muss sich überlegen, wann der Einsatz wirklich sinnvoll ist und wann man zu anderen Massnahmen wie Zwang greifen soll», so Ackermann. «Gerade in Situationen, in denen viel auf dem Spiel steht, kann es sehr gefährlich sein, sich nur auf Nudging zu verlassen.»

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