
Auf den Spuren der Ökoarchitektur
Nachhaltig bauen ist aktueller denn je. Doch schon nach dem Zweiten Weltkrieg experimentierte die Ökoarchitektur mit Wiederverwendung und regenerativen Materialien. Ein SNF-Projekt rekonstruiert diese Entwicklung in der Schweiz und zeigt ihre Bedeutung für heute.
Die Schweiz in den 1970er-Jahren: Das Land erlebt autofreie Sonntage wegen der Erdölkrise, Atomkraft als politische Antwort löst landesweite Proteste aus und lässt eine neue Umweltbewegung entstehen. International prägen der Club of Rome mit seinen «Grenzen des Wachstums» sowie Katastrophen wie der Chemieunfall von Seveso das wachsende Bewusstsein für Umweltverschmutzung, Smog und Waldsterben.
Auch in der Architektur rückte damals der schonende Umgang mit Ressourcen in den Fokus – sichtbar in der Bewegung der «Ökoarchitektur»: Passiv-Solarhäuser mit grossen Glasflächen, Speichermaterialien wie Lehm oder Kalksandstein oder stark gedämmte Bauten waren kennzeichnend für diese Strömung. Zahlreiche spannende Experimente zeigten, wie Architektur nachhaltig gestaltet werden kann, das Haus wurde zum «Kraftwerk», das Energie spart, Wärme speichert und teils sogar aus Abfallmaterialien bestand. «Damals entschieden sich in der Schweiz Menschen – darunter auffallend viele Ärztinnen und Ärzte – bewusst und in Abgrenzung zur konventionellen Architektur für solche Häuser», erklärt Andri Gerber, Architekt und Professor am Institut Konstruktives Entwerfen.
Aus der Geschichte lernen
Durchgesetzt hat sich die Ökoarchitektur damals nicht, sie galt als alternativ und antimodern und wurde auch etwas belächelt. Mit der postmodernen Architektur der 1980er-Jahre, geprägt von Konsumlust und wenig ökologischen Materialien, verschwand sie für lange Zeit in der Nische. «Obwohl die Ökoarchitektur Standards wie Minergie und den Einsatz von Solarpaneelen entscheidend geprägt hat, ist heute erstaunlich wenig über diese Bewegung bekannt; es existieren kaum zeitgenössische Dokumente», erklärt Gerber. Gemeinsam mit der Linguistikprofessorin Julia Krasselt sowie der Postdoktorandin Elettra Carnelli und den Doktorandinnen Jana von Wyl und Sooyeon Geckeler möchte er das ändern: Seit August arbeitet das Team in einem SNF-Projekt an der Aufarbeitung der Geschichte der Ökoarchitektur in der Schweiz und untersucht, wie sich der Diskurs um nachhaltiges Bauen historisch entwickelt hat. «Wir fragen, welche Ansätze es bereits gab, warum sie teilweise scheiterten und was wir daraus lernen können», so Gerber. Ziel ist es, Wege aufzuzeigen, wie sich Nachhaltigkeit beim Bauen dauerhaft etablieren lässt – nicht als Modeerscheinung, sondern als selbstverständlicher Standard.
«Das Interesse am nachhaltigen Bauen ist zwar gross. Aber oft geben die Kosten den Ausschlag und es wird dann letztlich doch konventionell gebaut.»
Architektur trifft Linguistik
Um Bewegungen wie die Ökoarchitektur und ihre Entwicklung hin zum nachhaltigen Bauen zu verstehen, gilt es, den gesellschaftlichen Kontext zu erforschen. Dieser Diskurs ist nicht nur visuell, sondern auch sprachlich geprägt: «Architektur wird zwar primär über Bilder vermittelt, doch wie wir darüber sprechen und schreiben, beeinflusst das gesellschaftliche Wissen entscheidend», betont Gerber. Das Projektteam untersucht daher, wie in Fachkreisen und Medien wie der «NZZ» damals und heute über diese Themen berichtet wurde. Dafür nutzen die Forschenden Methoden der Korpuslinguistik, eines Teilbereichs der Sprachwissenschaft, der grosse Textsammlungen systematisch und computergestützt auswertet. So lassen sich Muster, Häufigkeiten und Bedeutungen erkennen. Im Fokus steht die Frage, welche Wörter, Argumente oder Metaphern verwendet werden – oder eben nicht – und welche Rückschlüsse sich daraus auf das kollektive Architekturwissen ziehen lassen. Manche Begriffe existieren schon lange, doch ihr Verständnis hat sich verändert: «Energie» etwa wurde früher mit «Verbrauch» assoziiert, heute eher mit «Sparen». Andere, wie «graue Energie» oder «Suffizienz», sind neu hinzugekommen.
Suffizienz und die richtigen Anreize
Was noch bleibt aus der Zeit der Ökoarchitektur, sind eine Reihe von Experimentalhäusern, an denen vieles erprobt wurde. In der Schweiz gab es beispielsweise rund hundert sogenannte Solarhäuser. «Viele bestehen noch immer und wir haben bereits einige besichtigt», erzählt Gerber. Zahlreiche Konzepte von damals haben sich etabliert. «Heute sind etwa Dämmung und Wärmeerzeugung sehr effizient», erklärt Gerber. Im Unterschied zu früher liegt heute deshalb das Augenmerk weniger auf dem Betrieb der Gebäude als zunehmend auf ihrer Erstellung, wo der grösste Ressourcenverbrauch stattfindet. Auch Themen wie Re-Use, Bestandserhalt oder alternative Baustoffe wie Lehm wurden bereits in den Nachkriegsjahrzehnten diskutiert. Dass sie sich lange Zeit nicht durchgesetzt haben, ist weniger ein technisches als vielmehr ein gesellschaftliches Problem und geknüpft an unbequeme Fragen: Wie gross ist unsere Bereitschaft zu mehr Suffizienz? Würden wir in einem Re-Use-Gebäude leben und dafür sogar höhere Kosten in Kauf nehmen, da die Wiederverwendung von Bauteilen oft aufwendig ist? Welche politischen Rahmenbedingungen müssten sich ändern, damit nachhaltiges Bauen erleichtert wird – etwa durch gelockerte Normen oder wirksame CO₂-Preisanreize? «Das Interesse am nachhaltigen Bauen ist zwar gross. Aber oft geben die Kosten den Ausschlag und es wird dann letztlich doch konventionell gebaut», räumt Gerber ein.
«Heute lernen Architekturschaffende bereits im Studium, was eine Ökobilanz ist – es hat sich viel getan.»
Wo führt die Reise hin?
Nachhaltigkeit ist heute in der Architektur ein zentrales Thema, keine Frage. Angesichts der Tatsache, dass die Bauindustrie weltweit rund 30 Prozent der CO₂-Emissionen verursacht und in der Schweiz für 80 Prozent des Abfallaufkommens verantwortlich ist, überrascht das nicht. «Diese Zahlen kennen heute alle Studierenden», so Gerber. «Als ich 1993 mit dem Architekturstudium begann, stand die Gestaltung klar im Vordergrund. Es gab das eher exotische Wahlfach Solarenergie, das kaum jemand belegte. Heute lernen die künftigen Architektinnen und Architekten bereits im Studium, was eine Ökobilanz ist – da hat sich viel getan.»
Die Architektur ist im Wandel, und interessante Ansätze gibt es viele: von technischen Lösungen wie Recyclingbeton über innovative Holzbauten, wie sie in Skandinavien häufig sind, bis hin zum «Gebäudetyp E», mit dem Deutschland ein Zeichen für einfaches und ressourcenschonendes Bauen setzt. Dieses Konzept versuchsweise in der Schweiz einzuführen, ist auch Gerber ein Anliegen: «Flexiblere Vorgaben können den Bau nachhaltiger machen. Wird etwa die Trittschalldämmung weniger streng beurteilt, lassen sich mit dünneren Betondecken erhebliche Mengen CO₂ einsparen», erläutert Gerber das Prinzip. Oder künstliche Intelligenz, die Gerber zwar weniger bei der Gestaltung im Einsatz sehen möchte, bietet bei der Analyse bestehender Bauten in Bezug auf Energiebedarf und Optimierungspotenzial grosse Chancen. Das Thema bleibt komplex und Gerber ist überzeugt: «Die eine Lösung gibt es nicht. Wir müssen in Systemen und Zusammenhängen denken. Das gelingt nur, wenn Architekturschaffende gemeinsam mit anderen Fachleuten, etwa aus dem Energie- oder Bauingenieurbereich, an einem Strang ziehen und Synergien nutzen.»
Netto-Null spielend erreichen
Ein Team um Andri Gerber entwickelt in Zusammenarbeit mit der PH Zürich das interaktive Lernspiel «Netto-Null: ein Simulationsspiel über nachhaltiges Wachstum 1990–2050», bei dem sich die Spielenden in Stadtplanung versuchen. Ziel ist es, eine fiktive Schweizer Stadt bis 2050 klimaneutral zu gestalten. Dabei müssen Entscheidungen zu Themen wie Gebäudesanierung, Energieversorgung und Verkehr getroffen werden – stets im Wettlauf gegen die Zeit. Das Spiel berücksichtigt reale Faktoren wie CO₂-Emissionen, graue Energie und historische Bausubstanz und vermittelt praxisnah, wie komplex und vernetzt nachhaltige Stadtentwicklung ist. Das Bundesamt für Energie sowie weitere Partner unterstützen das Projekt.
Aufmacherbild: Adobestock/Watercolor_Art_Photo
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