Begegnung auf Augenhöhe
Angehende Pflegehelferinnen mit Migrationshintergrund werden von älteren Freiwilligen unterstützt. Dank dem Mentoring-Programm BEGIN, welches die ZHAW mitentwickelt hat, finden sie sich im Berufsalltag schneller zurecht.
Als Kind träumte Aisha Leuenberger davon, Ärztin zu werden. Als sie acht Jahre alt war, wurden sie und ihre sieben Geschwister Waisen. Ihre Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben. «In Uganda sterben Menschen, da Medikamente und Spitäler fehlen», sagt sie. In ihrer Heimat, wo 38 Millionen Menschen leben, gebe es kaum alte Leute. «Ich möchte möglichst viel über Gesundheit lernen und anderen helfen.» Zurzeit macht die 33-Jährige ein Praktikum im Alters- und Pflegeheim Grossfeld in Kriens.
Nach der ersten Woche berichtet sie Emilie Stämpfli bei einem Kaffee von ihren ersten Erfahrungen. Sie sei von allen freundlich aufgenommen worden, erzählt sie gut gelaunt. Einmal habe sie allerdings zwei Bewohnerinnen verwechselt. «Hast Du etwas Schweizerdeutsch gesprochen?», will Emilie Stämpfli wissen. «Ja, das kommt gut an», antwortet Aisha Leuenberger.
Solidarität zwischen Generationen
Die beiden Frauen haben sich über das Mentoring-Programm BEGIN kennengelernt, welche Freiwillige im Pensionsalter und Teilnehmende des Lehrgangs Pflegehelfer/-in des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) zusammenbringt. «Die Idee ist eine Begegnung auf Augenhöhe», sagt eine der Initiantinnen Beate Schwarz, Professorin für Entwicklungs- und Familienpsychologie am Psychologischen Institut der ZHAW. Es gehe um einen intergenerationalen Austausch, von dem beide Seiten profitierten. Der Ansatz ist ein ressourcenorientierter. Der Fokus liegt auf den Stärken, welche die Migrantinnen und Migranten mitbringen. «Sie sind eine gute Basis für die Integration», so Schwarz.
Das Programm ist in Kooperation mit der Berner Fachhochschule (Institut Alter), der Hochschule für Technik und Wirtschaft (Institut für Multimedia Production) Chur sowie dem SRK entstanden. Die Gebert Rüf Stiftung unterstützt Entwicklung und Evaluation finanziell.
Vorwissen abgeholt
«Es war uns wichtig, auf Erfahrungen aufzubauen», sagt Beate Schwarz. Spezifisch für den Pflegebereich gab es bislang zwar kein vergleichbares Engagement. Die Wissenschaftler befragten jedoch Anbieter von Mentoring-Programmen in anderen Branchen. Sie gingen zudem auf Fachleute der Pflege zu, um nicht an deren Bedürfnissen vorbei zu arbeiten. So kristallisierten sich praxisrelevante Themenfelder heraus. Dazu zählen neben der Sprache kulturelle Unterschiede wie etwa der Umgang mit Zeit. Hinzu kommen schwierige Situationen im Arbeitsalltag, die Rolle der Angehörigen in der Pflege, aber ebenso die Frage, ob man sich als Angestellter abgrenzen darf. Ob man nach zahlreichen Sonntagsdiensten zum Beispiel auf einem freien Wochenende bestehen darf. Zu diesen Themen hat das Projektteam kurze Filme sowie ein Arbeitsheft produziert, welche den Tandems als Anregung dienen.
Der Film mit dem Titel «Stress» ist Bestandteil der Arbeitsmaterialien
Mit Schweizerdeutsch das Eis brechen
«Sie sind hilfreich, wir haben uns aber nicht immer darangehalten», sagt Emilie Stämpfli. Die ehemalige Primarlehrerin, die nicht zum ersten Mal Freiwilligenarbeit leistet, hat mit Aisha Leuenberger unter anderem Schweizerdeutsch geübt. Mit eigenen Arbeitsblättern hat sie ihr kurze Sätze beigebracht, die das Eis brechen und ein Gespräch eröffnen können. «Hend Sie gued gschlofe?» ist so eine Frage, welche die Pflegehelferin stellen kann, wenn sie am Morgen das Zimmer eines Bewohners betritt. Auch das Essen sorgte für Diskussionsstoff. «Brot und Käse ‒ wie kann man so leben?», fragt Aisha Leuenberger und lacht. Die zurückhaltende Art der Schweizer war für sie anfangs gewöhnungsbedürftig. Dass alte Menschen in einem Heim leben und teilweise kaum Besuch erhalten, schockierte sie.
Die Wertschätzung ist gegenseitig
«Ich habe viel von Frau Stämpfli gelernt», sagt die Uganderin, die in ihrer Heimat als Kosmetologin arbeitete, mit einem Schweizer verheiratet war und seit 2012 hier lebt. Auch bei der Bewerbung für ihr Praktikum konnte sie auf die Hilfe ihrer Mentorin zählen. «Ich kann offen mit ihr sprechen, sie gibt mir ein gutes Gefühl». Die Wertschätzung ist gegenseitig. «Ich bewundere ihr positives Wesen, ihre Zielstrebigkeit und dass sie bereit ist, ältere Menschen zu pflegen», sagt Emilie Stämpfli. Sie hat die Begegnungen ebenfalls als Bereicherung erlebt. «Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen», so die 67-Jährige. Ihre gemeinsame Zeit ist offiziell zwar vorbei, seit Aisha Leuenberger die SRK-Ausbildung abgeschlossen hat. Die beiden Frauen treffen sich jedoch weiterhin.
Anderen Kulturen offen begegnen
Nach dem ersten Durchgang beim SRK Kanton Luzern, wird zurzeit ein zweiter in Bern durchgeführt. Die Mentorinnen – es engagieren sich bislang ausschliesslich Frauen – verfügen in der Regel nicht über spezifische Kenntnisse der Pflege. «Es geht um einen kulturellen Austausch», sagt Belinda Berweger, wissenschaftliche Assistentin am Psychologischen Institut. Viel wichtiger als Fachkenntnisse sei eine Offenheit anderen Kulturen gegenüber. Die Suche nach Freiwilligen, die sich längerfristig engagierten, sei aufwändig, erzählt sie weiter. Die Zahl der interessierten Pflegehelferinnen und -helfer überstieg bislang jene der Mentoren. In Luzern konnten sieben Tandem gebildet werden, in Bern sechs.
Lehrgang dauert ein halbes Jahr
Die Duos sind in der Regel drei Monate lang zusammen unterwegs, der Lehrgang dauert ein halbes Jahr. Er bietet den Teilnehmenden die Möglichkeit, auf dem hiesigen Arbeitsmarkt Fuss zu fassen ‒ und dies in einem Berufsfeld, in dem ein Fachkräftemangel herrscht. «Sie sind in ihren Heimatländern zum Teil sehr gut qualifiziert, nicht wenige bilden sich danach weiter», sagt Beate Schwarz. Das Psychologische Institut der ZHAW begleitet das Projekt noch bis im Oktober. Nach einem abschliessenden Workshop geht BEGIN dann ganz in die Hände des SRK über.
Aisha Leuenberger ist dankbar für die Unterstützung, die sie erhalten hat, und spricht von einem «grossen Geschenk». Neben der Arbeit im Pflegeheim ist sie derzeit daran, ihr Deutsch zu verbessern. «Ich will weiterkommen», sagt sie fröhlich, «ich habe Ziele».
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