Der Krieg in der Ukraine: Drei Studentinnen – drei Schicksale
Milena floh aus Charkiw vor den Bomben, Léa wurde während ihres Austauschsemesters in Moskau das Konto gesperrt und die Russin Natascha traut sich in der Schweiz nicht mehr, ihre Meinung zu sagen. Drei Studentinnen erzählen, wie der Ukraine-Krieg ihr Leben verändert hat.
«Niemals hätte ich gedacht, dass ich einen Krieg erleben würde»
«Einen Tag bevor Russland mein Land angegriffen hat, verabredete ich mich mit meiner Kollegin zum Kaffeetrinken. Sie war sehr ängstlich und sagte mir, dass die Russen bald kommen werden. Ich glaubte ihr damals nicht. Ich war überzeugt, dass Russland die Ukraine nicht angreifen wird.
«Mein Vater sagte, dass Russland uns angreift, dass Krieg herrscht. Es waren die seltsamsten Worte, die ich je in meinem Leben gehört habe.»
An diesem Abend ging ich zu meiner Familie und übernachtete bei ihr. Etwa um vier Uhr morgens wachte ich von einem lauten Geräusch auf. Zuerst dachte ich, es sei ein Gewitter. Als ich auf den Balkon ging und die Rauchwolken sah, realisierte ich, dass es Bomben waren. Meine Schwester fragte mich, was los sei. Ich sagte ihr, dass ich es nicht wüsste. Ich wollte es nicht wahrhaben und ging zu meinem Vater. Er sagte uns, dass Russland uns angreift, dass Krieg herrscht. Es waren die seltsamsten Worte, die ich je in meinem Leben gehört habe.
«Ich konnte an nichts mehr denken»
Milena Isaienko ist eine von rund 50’000 Ukrainerinnen und Ukrainern, die vor dem Krieg in die Schweiz geflüchtet sind. Mit ihren eigenen Fotos und Videos zeigt die 20-Jährige eindrücklich den Moment, als sie und ihre Familie ein paar Habseligkeiten eingepackt und zwei Tage später die polnische Grenze überquert haben. Im Video-Beitrag erzählt Isaeinko, wie sie die Flucht erlebt hat und wie es sich anfühlt, plötzlich auseinandergerissen zu werden, getrennt von den Freunden.
Angst vor Kriegsleugnern
Niemals hätte ich gedacht, dass ich, eine 20-jährige Studentin, die im 21. Jahrhundert lebt, einen Krieg erleben würde. Ich stand einfach unter Schock. Meinem ukrainischen Kollegen, der in Russland studiert, schrieb ich, was hier vor sich ging. Er glaubte mir nicht. Ich konnte es nicht fassen. Was mir am meisten Angst macht, ist, dass es Leute gibt, die diesen Krieg verleugnen. Also machte ich viele Fotos vom Krieg und postete sie auf Instagram, damit die Russen es sehen. Am fünften Tag des Krieges flüchteten meine Familie und ich in einem überfüllten Zug Richtung Westen. Als wir in Polen ankamen, fühlte ich mich ein wenig sicherer. Glücklich war ich aber nicht. Ich machte mir grosse Sorgen um meine Freunde, die damals immer noch in Charkiw waren. Ich hatte das Gefühl, dass ich eigentlich dort bei ihnen sein sollte, und fühlte mich schlecht.
Erinnerungen an glücklichere Tage
Sorge um die Freunde
Heute sind die meisten meiner Freunde in Sicherheit. Ein paar meiner männlichen Kollegen sind aber geblieben, um zu kämpfen. Sie sagen mir, dass sie für ihr Land sterben würden, wenn es sein muss. Ich habe Angst um sie, aber ich bin sehr stolz auf sie und auf unser Volk. Ich weiss, dass wir den Krieg gewinnen werden. Für mich und viele andere Ukrainer ist klar, es gibt nur eine Wahl. Entweder wir entscheiden uns für Russland und ergeben uns, oder wir entscheiden uns für die EU und kämpfen weiter. Etwas anderes gibt es für die Zukunft meines Landes nicht.»
Milena Isaienko
Die 20-jährige Journalismus-Studentin ist in Charkiw geboren und aufgewachsen. Zusammen mit ihrer Freundin Diana wohnte sie in einem kleinen Studio in der Nähe der National University of Economics. Milena Isaienko beschreibt sich selbst als sehr extrovertiert und unternehmungslustig. Sie hatte viele Freundinnen und Freunde, mit denen sie ins Kino ging, Ausflüge unternahm und an den Wochenenden feierte. Das war vor dem Krieg. Nun lebt Isaienko mit ihrem Vater in einem Asylzentrum im Zürcher Unterland. Getrennt von ihrer kleinen Schwester und ihrer Mutter, die sich zurzeit noch in Polen befinden. Während sie auf ihren S-Ausweis wartet, verbringt sie die Zeit mit Deutschlernen oder unternimmt Ausflüge mit ihrem Vater.
«Ich fühle mich hier in Moskau nicht gefangen»
«Seit der Krieg in der Ukraine angefangen hat, hat sich die Stimmung in Russland verändert. Am Anfang hatten viele Leute Angst und waren verunsichert. In den ersten zwei, drei Wochen wurde oft über den Angriff gesprochen. Einige Leute sagten mir, dass sie Russland verlassen werden. Vor allem junge Männer, die Angst hatten, sie müssten in den Krieg ziehen.
Die meisten Austauschstudierenden sind fort
Abgesehen von mir, haben die meisten Austauschstudierenden meiner Universität Russland verlassen. Die einen hatten Angst, dass sie nicht mehr nach Hause kommen. Die meisten gingen aber, weil sie ihr Geld vom Konto nicht mehr abheben konnten. Obwohl mir einige Leute geraten haben, ebenfalls das Land zu verlassen, bin ich geblieben. Ich fühle mich hier in Moskau nicht gefangen und habe keine Angst, nicht zurückzukommen. Meine Verwandten in Russland leihen mir jetzt Geld, dadurch habe ich kein Problem, meine Kreditkarte nicht mehr benutzen zu können.
«Die Sanktionen spüre ich im Alltag stark. Viele Läden gingen zu, wie etwa H&M, Starbucks oder Ikea. Instagram und andere soziale Medien gehen nur noch mit VPN.»
Die Sanktionen spüre ich im Alltag stark. Viele Läden gingen zu, wie etwa H&M, Starbucks oder Ikea. Instagram und andere soziale Medien gehen nur noch mit VPN. Ich benutze Instagram automatisch weniger, weil die meisten Russen jetzt zu Telegram gewechselt haben. Auch wenn die Sanktionen sehr einschneidend sind, sehen einige Russen in der Wirtschaftskrise auch eine Chance. Jetzt, wo die meisten westlichen Läden zu sind, blühen viele russische Läden auf.
Die Russen reden über den Krieg
Die Leute im Westen fragen sich, ob die Russen hier über den Krieg reden. Klar reden sie darüber. Viele haben auf Instagram auch die schrecklichen Bilder aus der Ukraine gesehen. Ich glaube, dass niemand hier für diesen Krieg ist. Die meisten sind der Meinung, dass der Westen und vor allem die USA das Ganze provoziert haben. Wenn ich mit den Leuten darüber rede, merke ich, dass sie zerrissen sind. Die Mehrheit der Russen hat Verwandte oder Freunde in der Ukraine. Ich habe das Gefühl, dass seit dem Krieg die Meinungen über Putin stärker gespalten sind. Es gibt Leute, die angefangen haben, Putin aktiv zu unterstützen, und es gibt Leute, die aktiv angefangen haben, ihn zu hassen.»
Léa Hofmann (Name geändert)
Anfang Februar ging sie für ein Austauschsemester nach Moskau. Die 20-Jährige ist Studentin an der ZHAW und hat selbst russische Wurzeln. In der Nähe ihrer Universität hat sie ein kleines Studio gemietet. In der Grossstadt sei immer etwas los, das gefalle ihr. Wenn sie nicht im Hörsaal sitzt, geht sie mit Freunden an Ausstellungen, Events oder in Museen. Neben dem Studium arbeitet Hofmann als Model und betreibt Outdoor-Aktivitäten. Sie sei sehr zielstrebig und diszipliniert, sagt die Studentin. Dass sie für ein Austauschsemester nach Russland ging, bereut sie trotz Einschränkungen durch die Sanktionen nicht.
«Ich habe Angst vor negativen Folgen für meine Familie in Russland»
«Ehrlich gesagt, traue ich mich nicht, meine Meinung zur Militäroperation* zu äussern. Ich habe Angst, dass dies negative Folgen für meine Familie in Russland haben könnte. Was ich sagen kann, ist, dass ich mir grosse Sorgen mache. Um meine Verwandten und Freunde, die in der Ukraine leben, aber auch um alle anderen Ukrainer, die noch dort sind. Die Militäroperation hat mich emotional sehr hart getroffen und es fällt mir seitdem schwer, mich auf das Studium zu konzentrieren.
Im Kleinen etwas helfen
Seit dem 24. Februar habe ich mich stark zurückgezogen. Ich versuche, mich auf das Alltägliche zu konzentrieren. Durch die Arbeit bei den Hilfsorganisationen kann ich im Kleinen etwas helfen und fühle mich dadurch nützlich. Natürlich könnte ich zu Hause sitzen und depressiv werden, aber dann verliere ich meine Freunde, mein Studium, mein Leben.
«Es ist schwer, sich vorzustellen, dass ein paar hundert Kilometer weiter östlich eine Militäroperation herrscht, wenn hier alle normal ihren Beschäftigungen nachgehen.»
Als ich im Unterricht die Push-Nachricht über den Angriff bekam, konnte ich es zuerst nicht glauben. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass ein paar hundert Kilometer weiter östlich eine Militäroperation herrscht, wenn hier alle normal ihren Beschäftigungen nachgehen.
Tunnelblick oder Offenheit
Ich glaube, wenn die Russen wissen möchten, was in der Ukraine wirklich passiert, könnten sie es herausfinden. Aber es gibt Menschen, die einen Tunnelblick haben und sich nicht dafür interessieren. Das Verhältnis zu meinen ukrainischen Freunden hat sich nicht verändert. Ich glaube, dass die Menschen, die kritisch denken, damit umgehen können. Bis jetzt habe ich auch nicht erlebt, dass die Leute mich schlecht behandeln, nur weil ich Russin bin. Im Gegenteil, viele Leute fragen mich, ob ich etwas brauche und wie es mir geht.
Kein Geld mehr an die Eltern
Vor allem die Sanktionen haben mein Leben verändert. Da das SWIFT-System boykottiert wurde, kann ich meinen Eltern kein Geld mehr schicken. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich nach dem Studium wieder zurück nach Russland gehe. Wenn ich einen interessanten Job in Russland finde, würde ich wahrscheinlich zurückkehren. Wie die Zukunft meines Landes aussehen wird, weiss ich nicht. Es kann von einem Tag auf den andern plötzlich alles anders sein. Ich hoffe einfach, dass die Militäroperation aufhört und die Menschen wieder normal leben können.»
*Aus Sicherheitsgründen will Natascha Iwanow anonym bleiben und das Wort «Krieg» nicht verwenden.
Unterstützung für Studierende ukrainischer Hochschulen
Der ZHAW ist es ein wichtiges Anliegen, die vom Krieg betroffenen Studierenden ukrainischer Hochschulen zu unterstützen, damit sie ihr Studium fortsetzen oder ergänzen können. Daher nimmt die ZHAW Studierende von ukrainischen Hochschulen, die in die Schweiz geflüchtet sind (d. h., sie befinden sich bereits in der Schweiz) und von den zuständigen Behörden den Schutzstatus S erhalten haben, als Visiting Students vorübergehend in ein laufendes Semester auf. Die Studiengebühren werden ihnen erlassen. Derzeit studieren rund zehn junge Menschen aus der Ukraine an der ZHAW.
*Cindy Schneeberger
Die Autorin Cindy Schneeberger studiert Journalismus im Bachelorstudiengang Kommunikation am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft. Diese Beiträge entstanden in der Werkstatt «Multimediales Storytelling» im fünften Semester. In dieser Werkstatt erarbeiten die Studierenden Beiträge für die Praxis, unter Bedingungen und in Abläufen, wie sie im Journalismus üblich sind.
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