Der lange Weg zu klimafreundlicheren Gebäuden

30.11.2021
4/2021

Mit der Wiederverwendung von Bauteilen liessen sich Treibhausgasemissionen im grossen Stil einsparen. Ungeklärte bauliche und juristische Fragen stehen dem jedoch im Weg. Forschende der ZHAW erarbeiten deshalb Leitfäden für die Praxis.

Gebäude sind weltweit für rund 40 Prozent aller Treibhausgasemissionen verantwortlich. Ein beträchtlicher Teil davon entsteht bei der Erstellung. «Bei der Wiederverwendung von Bauteilen entfallen energieintensive Produktionsschritte, sodass auch im Vergleich zum Recycling beträchtliche Mengen Treibhausgasemissionen eingespart werden können. Zudem werden natürliche Rohstoffe geschont, und es entsteht weniger Abfall», sagt Eva Stricker, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Konstruktives Entwerfen der ZHAW Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen. Sie war Projektleiterin des interdisziplinären Forschungsprojekts «Zirkulär bauen», an dem auch ihr Teamkollege Guido Brandi und Co-Institutsleiter Andreas Sonderegger in Kooperation mit dem Baubüro «in situ» mitwirkten. Im Fokus des Projekts stand die Wiederverwendung von Bauteilen in kultureller, architektonisch-konstruktiver, energetischer und ökonomischer Hinsicht. Die Ergebnisse wurden im September 2021 im Buch «Bauteile wiederverwenden. Ein Kompendium zum zirkulären Bauen» veröffentlicht.

Stahlskelett war einmal ein Verteilzentrum

Als Fallstudie diente dem ZHAW-Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen und dem Projektpartner dessen Bauprojekt K.118. Am Winterthurer Lagerplatz sanierte in situ den Kopfbau der Halle 118, in der unter anderem das ZHAW-Zentrum für Produkt- und Prozessentwicklung ansässig ist, und stockte ihn um drei Geschosse auf. Verbaut wurden zu einem grossen Teil Bauteile, die bereits einmal verwendet worden waren. Das Stahlskelett zum Beispiel, das die neuen Geschosse trägt, war ursprünglich in einer Coop-Verteilzentrale in Basel eingesetzt worden, die später rückgebaut wurde. Aus Stahl ist auch die Aussentreppe, welche die drei Geschosse erschliesst. Sie stammt vom abgebrochenen Bürogebäude Orion in Zürich.

500 Tonnen Primärmaterial eingespart 

Ein kleiner Teil der Aluminium-Isolierfenster sowie der Granitfassadenplatten finden im K.118 ebenfalls ein neues Leben. Letztere bilden neu die Plattenbeläge in den Küchen, WCs und auf den Balkonlauben. Einen weniger weiten Weg mussten das Fassadenblech und die Industriefenster zurücklegen: Sie wurden in der Druckerei Ziegler respektive im Sulzer Werk 1 in Winterthur ausgebaut. Insgesamt konnten durch die Wiederverwendung von Bauteilen volle 500 Tonnen an neuen Materialien bzw. rund 60 Prozent Treibhausgasemissionen eingespart werden. 

«Wenn ich als Architektin mit gebrauchten Bauteilen arbeite, kehrt sich der Entwurfsprozess in gewisser Weise um.»

Eva Stricker, Institut Konstruktives Entwerfen

Der sorgsame Umgang mit Bestehendem hat im Gebäude schon fast Tradition: «Die Leuchten im ZHAW-Zentrum für Produkt- und Prozessentwicklung enthalten Schirme aus ausgebrannten Leuchtstoff-Röhren. Sie wurden von Studierenden unseres Instituts in einem unserer Entwurfskurse zum Thema Wiederverwendung kreiert und vor Ort in Kleinserie produziert», sagt Eva Stricker. 

Leichtbaukonstruktionen sind einfacher wiederzuverwenden 

Trotz des grossen Potenzials, Treibhausgase einsparen zu können, und der dringenden Massnahmen gegen den Klimawandel ist die Wiederverwendung von Bauteilen erst wenig etabliert. Ein Grund dafür ist, dass sie viele eingespielte Prozesse des Bauwesens durcheinanderbringt. Dies beginnt bereits beim Entwurf: «Wenn ich als Architektin mit gebrauchten Bauteilen arbeite, kehrt sich der Entwurfsprozess in gewisser Weise um. Ich kann mich nicht systematisch vom grossen Massstab zum Detail vorarbeiten, sondern muss meinen Entwurf kontinuierlich mit den verfügbaren Bauteilen rückkoppeln.» Auswirkungen gäbe es auch auf die Bauweise: «Weil sich aneinandergefügte Leichtbaukonstruktionen aus Stahl oder Holz in der Regel einfacher in wiederverwendbare Teile zerlegen lassen als massive Stahlbetonkonstruktionen oder mit Zementmörtel verbundenes Mauerwerk, eignen sie sich viel besser zum erneuten Einsatz.»

Zudem kommt eine ganze Reihe neuer Leistungen hinzu, wenn man Bauteile wiederverwendet. Bauteile müssen gesucht, beurteilt, dokumentiert, erworben, rückgebaut, transportiert, gelagert, aufbereitet, wieder eingebaut und unterhalten werden. «Werden diese Arbeiten vom Architekturbüro erbracht beziehungsweise koordiniert, fällt ein beträchtlicher Mehraufwand an. Dies bedingt ein logistisches und handwerkliches Fachwissen, das über die klassische Architektentätigkeit hinausgeht», sagt Eva Stricker. 

Für die Bauherrschaft wiederum sei die Finanzierung eine Herausforderung: «Wiederverwendete Bauteile müssen früh im Projektverlauf definiert und erworben werden. Damit fallen beträchtliche Ausgaben zu einem Zeitpunkt an, zu dem im konventionellen Prozess erst Planungskosten entstehen.» Hinzu kommt, dass der Einbau von gebrauchten Bauteilen die Baukosten nicht unbedingt senke, wie das Beispiel K.118 gezeigt habe. Dies dürfte sich so lange nicht ändern, bis sich eingespielte Abläufe und ein spezialisierter Bauteilmarkt etabliert haben.

Bauteilprüfung und Versicherungslösungen 

Offene Fragen im rechtlichen Bereich stellen eine weitere Hürde bei der Wiederverwendung von Bauteilen dar. So ist ungeklärt, wie Risiken, die für die Wiederverwendung spezifisch sind, reguliert werden sollen und wer allfällige Schäden zu tragen hat. Dadurch wird die Planung und Bewilligung solcher Projekte erschwert. Hier setzt das von der Innosuisse unterstützte Forschungsprojekt «Re-Use von gebrauchten Gebäude-Bauteilen» unter der Leitung von Andreas Abegg und Oliver Streiff der ZHAW School of Management and Law an. Ziel des interdisziplinären Projekts ist es, für die Akteure in der Baubranche einen handlichen, praxisorientierten Leitfaden zur Bewilligungs- und Vertragspraxis zu erstellen. 

Im Rahmen des Projekts wird erstens untersucht, was sich aus der Bundesverfassung für die Wiederverwendung von Bauteilen ableiten lässt. «Die dort definierten Ziele und Werte haben Auswirkungen auf die Rechtsanwendung», sagt Oliver Streiff. Zweitens geht es im Forschungsprojekt um die Risikoregulierung. Hier stellt sich unter anderem die Frage, welche Leistungen ein wiederverwendetes Bauteil erbringen muss und welche Normen beim Wiedereinbau zu erfüllen sind. Diese Fragen sind primär öffentlich-rechtlicher Natur und daher im Bewilligungsprozess zwingend zu beachten. Der dritte Aspekt des Forschungsprojekts betrifft hingegen die Werk- und weiteren Verträge zwischen den beteiligten Parteien und damit das Privatrecht. Hier gilt es, die etablierte heutige Vertragspraxis so zu erweitern, dass sie auch diejenigen Leistungen abdeckt, die für die Wiederverwendung von Bauteilen typisch sind. Darüber hinaus rechnet Oliver Streiff damit, dass sich in Zukunft eine Prüfung von gebrauchten Bauteilen sowie Versicherungslösungen zur Absicherung der Vertragsparteien etablieren werden. Sollte dies gelingen, könnte das Bauwesen auf einen Schlag deutlich klimafreundlicher werden.

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