Der Radikalisierung den Nährboden entziehen
Ob politisch oder religiös motiviert: Menschen, die ideologisch begründet radikales Gedankengut und Gewaltbereitschaft zeigen, fordern Staat und Gesellschaft. Wie können Fachleute einer Radikalisierung vorbeugen?
Der 15-jährige Junge formt Arme und Hände, als hielte er ein Maschinengewehr. Er deutet auf Mitschüler und die Lehrerin, als wolle er auf sie schiessen. Seinen Schulkollegen sagt er, dass er ins Militär gehen und «alle töten» werde. Denn auch seine Verwandten seien getötet worden. Der Lehrerin fällt er auch durch ein generell provozierendes Verhalten auf, und er hat Mühe, sich zu konzentrieren. Seine Eltern distanzieren sich vom Verhalten ihres Sohnes. Die Schulleitung schliesslich wendet sich an die für die Region zuständige Fachstelle Extremismus.
Ein Fall für die Fachstelle Extremismus
Besorgt ist auch ein Arbeitscoach, der einen Klienten aus dem Irak betreut. Der Iraker ist über Facebook von einem Kollegen aus Libyen für den Dschihad angeworben worden. Er grenzt sich zwar von Extremismus und vom dschihadistischen Gedankengut ab. Doch er ist psychisch labil: Der Arbeitscoach befürchtet deshalb, dass sein Klient sich doch noch «in etwas reinziehen lassen könnte». Auch er wendet sich an eine Fachstelle für Extremismus.
Die beiden Fallbeispiele stammen aus der Studie «Aktualisierte Bestandesaufnahme und Entwicklungen dschihadistischer Radikalisierung in der Schweiz», welche am Departement Soziale Arbeit in Zusammenarbeit mit Forschungspartnern von Schweizer Universitäten im Jahr 2019 publiziert wurde. In den letzten Jahren haben vor dem Hintergrund dschihadistisch begründeter Terrorakte in Europa viele Schweizer Kantone und grosse Städte eine Fachstelle Extremismus eingerichtet.
Extremismus hat viele Gesichter
Radikalisierung und extremistische Gewalt haben viele Facetten, in den Ursachen wie in der Ausformung. Die Definitionen des Begriffs Radikalisierung variieren. Die Studie fasst sie zusammen als «Prozess, der dazu führt, dass ein extremistisches Glaubenssystem angenommen wird, welches Gewaltanwendung legitimiert, unterstützt oder erleichtert mit dem Ziel, einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen». Die Grenzen zum Terrorismus sind fliessend. Die grösste Bedrohung geht im Moment gemäss dem Nachrichtendienst des Bundes von der dschihadistisch motivierten Radikalisierung aus. In seinem Sicherheitsbericht 2018 beschreibt er aber auch Bedrohungen durch linksextreme wie durch rechtsextreme Gewalt: «Die rechtsextreme Szene ist im Aufbruch», heisst es dort, «ihr Gewaltpotenzial bleibt unverändert vorhanden.» In der Schweiz wurden im Berichtsjahr aber keine Gewalttaten registriert – im Gegensatz beispielsweise zu Deutschland.
Besondere Art der Bedrohung
Ob unter politischem, sozialem oder religiösem Vorwand: Personen, welche ideologisch begründet radikales Gedankengut und Gewaltbereitschaft zeigen, fordern von Fachleuten, die mit ihnen zusammenarbeiten, spezifische, abgestimmte Vorgehensweisen. Jede Gewaltausübung sei eine Form der Radikalisierung, sagt Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention am Departement Soziale Arbeit. Doch ideologisch motivierte Personen unterscheiden sich in ihren Eigenschaften von anderen gewaltbereiten Straftätern und stellen eine besondere Art von Bedrohung dar, heisst es im Handbuch des Europarates zum Umgang mit Radikalisierung und gewaltbereitem Extremismus aus dem Jahr 2017.
Fachleute sensibilisieren
Die Sensibilisierung für Tendenzen der Radikalisierung, das Erkennen von Warnsignalen, Strategien der Prävention sowie der Umgang mit Einzelpersonen wie Gruppen stehen auch im Zentrum des Weiterbildungskurses «Strategien und Projekte gegen Radikalisierung» des Departementes Soziale Arbeit, der schwergewichtig auf religiös motivierten Extremismus ausgerichtet ist. «Religiöse Radikalisierung ist für die Präventionsarbeit ein neues Phänomen», lautet die Begründung.
Den Aufbau und die Vermittlung von Wissen und Expertise bei Fachpersonen sieht auch der «Nationale Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus» (NAP), der im Jahr 2017 von Bund, Kantonen und Gemeinden ins Leben gerufen wurde, als wichtiges Handlungsfeld an. Der Kreis der angesprochenen Personen ist gross: Sozialarbeitende, Lehrpersonen, Lehrverantwortliche in Lehrbetrieben, Personal im Justizvollzug, Polizei, Jugend- und Staatsanwaltschaft, Asyl- und Migrationsbehörden, Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden bis hin zu Berufspersonal der Armee und des Bevölkerungsschutzes sowie Verantwortliche in Sport- und Kulturvereinen.
Prävention auf allen gesellschaftlichen Ebenen
Die Bandbreite an Ansätzen zur Prävention ist gross und muss gemäss Institutsleiter Baier auf allen gesellschaftlichen Ebenen greifen: beim Individuum, bei der Familie und der Schule und der Gemeinde. Zudem spielen auch die sozialen Medien gemäss Baier «eine wichtige Rolle im Prozess der Radikalisierung» wie folglich auch in der Prävention.
Auf der Ebene Individuum seien Präventionsmassnahmen hilfreich, die Vorurteile abbauen beziehungsweise Toleranz fördern würden, umschreibt dies Baier. Dazu zählt er Demokratiekompetenz und interethnische Kontakte sowie entsprechendes Wissen zu vermitteln. Wichtig sei, Selbstwert, Selbstwirksamkeit und individuelle Kompetenzen zu stärken, etwa in Trainings für Empathie und Zivilcourage. Zivilcourage ist lernbar: Darauf basiert auch die Weiterbildung «Zivilcourage – Verhalten bei Gewaltsituationen» des Departements Soziale Arbeit, die sich an Lehrpersonen oder Sozialarbeitende richtet, welche mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Sie lernen, wie man eingreift, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen: durch den gezielten Einsatz der Stimme, Blickkontakt oder indem man Aussenstehende hinzuzieht. Achtsamkeit, Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion sind für die Fachpersonen wichtig (vgl. auch Box «Hürden der Zivilcourage»).
Demokratiekompetenz und vernetzte Zusammenarbeit
Darüber hinaus müssen Eltern Bescheid wissen über die verschiedenen Extremismen und wie sie mit kindlichen Radikalisierungstendenzen umgehen sollen. Im Klassenzimmer können Lehrpersonen ein unterstützendes und wertschätzendes Klima fördern, Wissen zu unterschiedlichen Lebens- und Werthaltungen sowie zu Politik und Demokratie lehren. Schulsozialarbeit und eine Kriseninterventionsgruppe sollten an Schulen institutionalisiert werden, um in schwierigen Situationen eingreifen zu können. In Deutschland beispielsweise will ein Projekt namens «Schule ohne Rassismus» eine demokratische Schulkultur fördern. In den Gemeinden der Schweiz geht es um Zusammenarbeit und Vernetzung der verschiedenen Akteure: Polizei, Jugendarbeit, Vereine, muslimische Gemeinden oder spezielle Präventionsstellen wie etwa die interkulturellen Brückenbauer bei der Polizei. In den sozialen Medien schliesslich versucht man, extremistischen Inhalten bewusst alternative Informationen entgegenzusetzen. Wichtig ist hier auch das Training von Medienkompetenz bei Jugendlichen.
Warnsignale richtig interpretieren
All diese Bausteine der Prävention sollen bewirken, dass ideologischem Hass und extremistischer Gewaltbereitschaft der Nährboden entzogen wird. Um bei einer Person erste Tendenzen einer dschihadistischen Radikalisierung zu erkennen, hat das Schweizer Zentrum für Gewaltfragen zudem ein Online-Tool namens Radicalisation Profiling (Ra-Prof) entwickelt. Es ist eine Art Checkliste, ergänzt durch die Beurteilung einer Fachperson, welche anzeigt, ob Handlungsbedarf besteht oder nicht. Analog zu Ra-Prof wurde in Zusammenarbeit mit Miryam Eser Davolio, Dozentin am Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe des Departementes Soziale Arbeit, ein Tool zur frühzeitigen Erkennung von rechtsextremistischer Radikalisierung bei Jugendlichen wie Erwachsenen entwickelt. Das Augenmerk wird dabei auf Äusserungen und Haltungen gelegt wie Ideologie und Schwarz-Weiss-Denken und auf Verhalten wie beispielsweise die plötzliche Veränderung der Lebensweise, eine Affinität zu Gewalt oder die Internetnutzung. Die Reduktion auf Äusserlichkeiten wie Haare oder Kleidung werden vermieden – gängige Stigmatisierungen sollen nicht verstärkt werden.
«Das Ziel ist die frühzeitige Erkennung von Radikalisierungen», schreibt Eser Davolio in einem Blogbeitrag: «Also zu einem Zeitpunkt, an dem noch Einwirkungsmöglichkeiten bestehen, bevor die Einstellungen verhärtet und die Gewaltbereitschaft derart ausgebildet sind, dass Aufklärung und Beratung auf Granit stossen.» Die Intervention bei der radikalisierten Person ist sehr individuell: «Eine Intervention muss dann immer von Fall zu Fall gestaltet werden – eine einzige, übergreifend wirksame Interventionsmethode existiert nicht», so Institutsleiter Baier.
Hürden der Zivilcourage
Die Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus betrifft die Gesellschaft als Ganzes, heisst es im «Nationalen Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus» (NAP) aus dem Jahr 2017. Gefordert seien nicht nur Fachpersonen, sondern auch die Zivilgesellschaft.
«Zivilcourage – warum Zivilcourage für unsere Gesellschaft so wichtig ist» lautet auch der Titel einer Broschüre der Schweizerischen Kriminalprävention. Zivilcourage heisst generell, «aktiv für demokratische Grundwerte, Menschenrechte und Menschenwürde einzutreten»: Aufmerksam durchs Leben zu gehen und sich einmischen, sobald jemand ungerecht behandelt wird, selbst wenn damit ein Risiko verbunden ist – so beschreibt es der Autor der Broschüre. Bei Gefahrensituationen im öffentlichen Raum, aber weit darüber hinaus.
Zivilcourage trifft oft auf Situationen, die sich in einer rechtlichen Grauzone befinden und nicht gesetzlich geregelt sind: rassistische und fremdenfeindliche Äusserungen eines Bekannten im privaten Kreis etwa oder auch Mobbing im Büro. Man macht sich nicht strafbar, wenn man nicht handelt. Hinzu kommen sozialpsychologische Gründe des Nicht-Handelns, wie in der Broschüre der Schweizerischen Kriminalprävention ausgeführt:
· Pluralistische Ignoranz: das Phänomen, dass Menschen, die zu einer Gruppe hinzukommen, das Verhalten dieser Gruppe als begründet interpretieren und sich diesem Verhalten anpassen, auch wenn sie den Sachverhalt persönlich anders einschätzen würden.
· Verantwortungsdiffusion: In einer Menschenmenge tendiert man gewollt oder ungewollt dazu, die Verantwortung für das eigene Handeln schwächer zu empfinden, sie gewissermassen auf alle anderen zu übertragen.
· Angst vor Blamage: Die Angst, sich zu exponieren und sich zu blamieren oder ausgelacht zu werden, hält viele Menschen davon ab, den Schritt aus der Masse zu wagen.
· Angst um Leib und Leben: Bei Gewaltsituationen ist ein Nicht-Eingreifen auch ratsam, um nicht selbst zum Opfer zu werden. Doch es gibt andere Formen eines angemessenen Verhaltens als einfach weiterzugehen.
Download der Broschüre der Schweizerischen Kriminalprävention:
www.skppsc.ch/link/zivilcourage
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