NEUE ORGANISATIONSFORMEN

Die Demokratisierung der Arbeitswelt

20.09.2022
3/2022

Keine klassischen Hierarchien, Chefinnen oder Chefs, dafür mehr Selbstverantwortung und Entscheidungsmacht: Immer mehr Unternehmen und Institutionen suchen organisatorische Antworten auf die Anforderungen der neuen Arbeitswelt. Auch an der ZHAW.

Seit März dieses Jahres denken die gut 80 Mitarbeitenden des ZHAW-Instituts für Physiotherapie in Kreisen und Rollen und sprechen von «Spannungen», «Purposes» und «Tactical Meetings». Ähnlich geht es auch den Angestellten der Digitalagentur Unic, von Greenpeace Schweiz oder des Unternehmens Freitag, in einer Abteilung von Roche und einer der SBB: Sie und noch viele Unternehmen mehr haben sich von der klassischen Hierarchie mit Titeln, Funktionen, Chefinnen und Chefs verabschiedet und demokratische, selbststeuernde Systeme eingeführt.

«Der Ruf nach neuen Führungsmodellen wird immer lauter», sagt auch Christoph Negri, Leiter des IAP Institut für Angewandte Psychologie der ZHAW. Unternehmen stellten sich die Frage, wie ihre Organisation als Ganzes oder einzelne Bereiche geführt werden sollen, um der gestiegenen Komplexität zu begegnen (vgl. Interview). Das reiche von Co-Leadership, Führung in Teilzeit bis hin zu radikal demokratischen Ansätzen wie der Holokratie oder Soziokratie, welche eine hohe Selbstorganisation und Selbstführung bewirken. Damit wird eine Antwort gesucht auf die Herausforderungen, die sich aus der Digitalisierung und der geforderten Flexibilität und einem Wertewandel der Mitarbeitenden ergeben.

In der Wirtschaftswelt haben klassische Hierarchien heute einen schweren Stand. Das konstatierte auch der Verband der Angestellten Schweiz Anfang August in einer Medienmitteilung: «Unternehmen stellen sich neu auf und fahren neue Strategien. Sie verflachen die Hierarchien und führen neue Führungsmodelle ein. Auch Nichtkader übernehmen mehr unternehmerische Verantwortung und Rollen mit mehr Eigenverantwortung», schreibt der Verband. Die Folge: «Es werden weniger Führungspositionen benötigt.» Mit seiner Einschätzung reagierte er auf den Stellenabbau beim Pharmakonzern Novartis, darunter ungewöhnlich viele Managementpositionen.

Holokratie am Institut für Physiotherapie

Zwei radikale Konzepte, Organisationen neu zu denken, sind Holokratie oder Soziokratie. Diesen Schritt hat auch das IPT Institut für Physiotherapie am Departement Gesundheit diesen Frühling gewagt. Das Institut hat seine Organisation in einem Pilotprojekt zu grossen Teilen an der Managementmethode «Holacracy» des US-Unternehmers Brian Robertson orientiert (vgl. Box). Als Hochschuleinheit nimmt das Institut hier in der Schweiz eine Vorreiterrolle ein. Innerhalb eines festen Regelwerks soll eine transparente und partizipative Beteiligung der Mitarbeitenden ermöglicht werden.

«Wissen und Kompetenzen der Mitarbeitenden wollten wir sichtbarer machen, weiterentwickeln und besser vernetzen.»

Cécile Ledergeber, Institut für Physiotherapie

Auslöser für die Überlegungen zur Ablösung der Hierarchie war der Weggang der Institutsleiterin im Sommer 2020. Sie hatte das Institut während 14 Jahren aufgebaut. «Wir machten uns Gedanken, wie das Institut in Zukunft geleitet und organisiert werden sollte», sagt Cécile Ledergerber, welche die interimistische Leitung übernahm und dieses Pilotprojekt mitleitet.

Ziel war, Verantwortlichkeiten neu zu verteilen und mehr themenzentriert und dynamisch zu arbeiten. «Viele im Institut haben sehr viel Wissen und Kompetenzen, aber keine Führungsfunktion», so Ledergerber. «Dieses Wissen und diese Kompetenzen wollten wir sichtbarer machen, den Mitarbeitenden mehr Verantwortung geben und sie besser im Institut vernetzen.»

Ein System aus Kreisen und Rollen

Das neue Organigramm besteht nun aus Kreisen und Rollen – klassische hierarchische Funktionen gibt es nicht mehr. Um wichtige Themen sind Kreise gezogen, welche wiederum von grösseren Themenkreisen umschlossen sind. «Das Organisationssystem ähnelt einer Matrjoschka», sagt Ledergeber. Jeder Kreis hat einen klaren Zweck und ein Ziel – «Purpose» genannt – sowie transparente Verantwortlichkeiten. Eine spezielle Software hilft, den Überblick über die Kreise zu behalten.

Die Arbeit ist nach Aufgaben organisiert, die in den Rollen zusammengefasst sind: Die Mitarbeitenden haben je nach Kompetenzen und Spezialwissen mehrere Rollen, welche den verschiedenen Kreisen zugeordnet sind. Die Kreise organisieren sich selbst: Sie bestimmen neue Rollen oder schaffen alte ab, wenn diese nicht mehr gebraucht werden. Gesteuert wird das System über spezielle Meeting-Formen: das Tactical Meeting für operative Fragen und das Governance Meeting für strategische Fragen. Ein zu lösendes Problem, eine Information oder generell der Schritt vom Ist- zum Soll-Zustand werden als «Spannung» bezeichnet: Sie gilt im Holokratie-System als zentraler Impulsgeber in den Meetings. Jeder Kreis hat eine Lead-Person und wählt eine zusätzliche Person, beide vertreten den Kreis im nächstgrösseren Kreis. Die Kreise sind eigenverantwortlich in ihren Entscheiden und im Handeln – die Macht ist breit verteilt. «Die Mitarbeitenden können sich bewegen», so Ledergerber. So soll sich das ganze Institut dezentral und agil laufend weiterentwickeln.

Die Herrschaft des Ganzen

Die holokratische Organisationsform wurde vom US-amerikanischen Unternehmer Brian Robertson im Jahr 2007 als Managementmethode begründet und hat zum vorrangigen Ziel, Hierarchien abzubauen. Er nannte sie «Holacracy», inhaltlich lehnte er sie an schon ältere soziokratische Modelle an. Der Begriff setzt sich aus dem griechischen «holos» für «vollständig, ganz» und «kratia» für «Herrschaft» zusammen. Die Organisationsstruktur besteht aus Kreisen und Rollen: Mitarbeitende nehmen verschiedene Rollen ein, und Kreise fassen thematisch zusammengehörende Rollen zusammen. Innerhalb eines festen Regelwerks soll so eine transparente und partizipative Beteiligung der Mitarbeitenden ermöglicht werden.

Von der Soziokratie zur Co-Leitung

Schon weiter im Prozess ist das Zentrum für Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung am IAP. Auch hier war ein Chefwechsel vor drei Jahren der Auslöser für eine Standortbestimmung bezüglich der Teamorganisation. Mit gut 15 Personen deutlich überschaubarer als das IPT am Departement Gesundheit, gab man sich anfänglich eine soziokratische Organisation. In vielen Workshops wurde gemeinsam am Modell gearbeitet, diskutiert und für das Team adaptiert, begleitet durch eine externe Organisationsberaterin. Der Übergang vom hierarchischen zum kreisförmigen System sei nicht einfach gewesen, so Negri: Gerade am Anfang hätten sich einige überfordert gefühlt mit der Struktur und den Regeln.

«Zu viele Hierarchiestufen führen zu einer Starrheit im System und in der Folge zu einer langsamen Reaktion auf neue Entwicklungen.»

Christoph Negri, Leiter IAP Institut für Angewandte Psychologie

Und heute, drei Jahre später? Inzwischen sei man beim Führungsmodell der Co-Leitung angelangt, sagt Negri. Nein, als Rückschritt würde er dies nicht bezeichnen, eher als eine Konsequenz der bisherigen Erfahrungen. Die Organisationseinheit des Zentrums sei wohl auch zu klein für die Soziokratie, es gab zu viele Kreise mit Einzelrollen. Einiges wurde aber beibehalten, so das «Konsent-Prinzip»: Bei anstehenden Entscheidungen von grösserer Tragweite werden diese im ganzen Team diskutiert und vor allem auch verhandelt. Einwände müssen triftig und argumentativ gut begründet sein und eine Alternativlösung aufzeigen.

Gefahr der Orientierungslosigkeit und mangelnder Wertschätzung

So ungeeignet starre Hierarchien für agile Arbeitswelten sind, Schwachpunkte finden sich auch in demokratisch aufgebauten Organisationen. Zum Beispiel kann die verlangte hohe Selbstorganisation, die Mitarbeitende in der Kreisstruktur haben müssen, auch zur Orientierungslosigkeit führen. Denn: «Eine Chefin oder ein Chef steht auch für Sicherheit», sagt Negri. Die wichtige Wertschätzung am Arbeitsplatz, die in klassischen Hierarchien von oben nach unten erfolgt, soll im neuen System von den Peers – den Kolleginnen und Kollegen im Kreis – vermittelt werden. Diese Feedbackkultur ist anspruchsvoll, denn sie verlangt ein hohes Mass an sozialen Kompetenzen von jedem Einzelnen. Zudem gebe es keine klassische Führungskarriere in einem solchen System, sagt Ledergerber, die Weiterentwicklung geschieht über die Möglichkeit, neue Rollen zu besetzen.

Das Fundament dieses Systems ist das Vertrauen in die Mitarbeitenden. Ob eine Arbeit erledigt wird, wird direkt von niemandem kontrolliert, nur Checklisten, Projekte und Kennzahlen geben Aufschluss über den Erfolg der Arbeit. «Die Organisationsform ermöglicht flache Hierachien und geteilte Verantwortung. Die neue Arbeitswelt ist auf solche dynamische Organisationssysteme angewiesen», sagt Ledergerber.

«Nicht im Silodenken verharren»

Für welche Unternehmen eignen sich Organisationsformen ohne Hierarchien? Christoph Negri, Leiter des IAP Instituts für Angewandte Psychologie spricht im Interview über die Herausforderungen für Organisationen und Mitarbeitende.

Co-Leitungen, Soziokratie oder die Reduktion von Hierarchiestufen: In der Wirtschaftswelt scheint eine grosse organisatorische Umstrukturierung stattzufinden.

Christoph Negri: Neue Führungsmodelle sind heute ein grosses Thema in allen Unternehmen in der Schweiz, das spüren wir hier im Institut auch in der Zusammenarbeit mit unseren Kunden. Die Wirtschaft merkt, dass klassische Hierarchien alleine nicht mehr genügen, um die Anforderungen und Herausforderungen der Arbeitswelt zu bewältigen.

Welche Herausforderungen sehen Sie?

Viele Unternehmen sind heute sehr technologiegetrieben. Das führt zu immer komplexeren Aufgaben, und immer schneller müssen neue Produkte und Dienstleistungen auf den Markt gebracht werden. Erfolgreiche Unternehmen müssen heute schnell reagieren können, präsent sein und nicht im Silodenken verharren. Zu viele Hierarchiestufen führen zu einer Starrheit im System und in der Folge zu einer langsamen Reaktion auf neue Entwicklungen. Auch die Aufgaben der Führungskräfte werden immer komplexer, eine Person allein kann schlichtweg nicht mehr alles wissen – sie muss Verantwortlichkeiten delegieren. Auf all das mit agilem Projektmanagement zu antworten, reicht nicht aus. Es braucht ein neues Mindset, es stellt sich die Frage: Wie sollen Unternehmen als Ganzes geführt werden, um dieser Komplexität zu begegnen?

Und auch die Mitarbeitenden stellen neue Anforderungen.

Der Philosoph Richard David Precht spricht ja vom Wandel der Arbeitsgesellschaft hin zu einer Sinngesellschaft. Diese Suche nach dem Sinn in der Arbeit geht einher mit Selbstverantwortung, Selbstorganisation und mehr Entscheidungsmöglichkeiten. Vor allem die nachkommende Generation Z, die Post-Millennials, melden hier neue Bedürfnisse an die Arbeit und an die Führung.

Eignen sich demokratische Organisationsstrukturen der Sozio- und Holokratie für alle Unternehmen?

Grundsätzlich würde ich sagen: Je vielfältiger, komplexer oder technologiegetriebener die Aufgaben sind und je mehr es sich nicht um Routinearbeiten handelt, desto besser eignen sich neue Organisationsmodelle. Eine formelle Checkliste für eine solche Veränderung gibt es nicht – jedes Team und jedes Unternehmen als Ganzes ist einzigartig. Es hängt aber immer auch von den Teammitgliedern ab: Als Mitarbeitende wünschen wir uns ja zum einen Strukturen und Vorgaben, zum andern Selbstbestimmung. Es gilt also abzuwägen, wie das Team mit dem einen und dem anderen umgehen kann. Heute ist es aber üblich, in einem Unternehmen verschiedene Führungskulturen und Strukturen zu leben. Alte Hierarchien aufzulösen und neue Modelle einzuführen, ist aber einfacher gesagt als getan. Dafür muss man aus der Komfortzone raus. Das ist immer anstrengend und manchmal auch frustrierend.

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