Die Vogelperspektive auf die Gesellschaft
Sprachgebrauch und öffentliche Diskurse sind ein Gradmesser dafür, was die Gesellschaft bewegt. Die Sprachdatensammlung Swiss-AL modelliert diese Diskurse. Im Jahr 2015 für linguistische Fragen lanciert, wird sie seit zwei Jahren allen Forschungsdisziplinen zugänglich gemacht.
Die «Monsterbank» wurde im Jahr 2023 zum Deutschschweizer Wort des Jahres erkoren. Der Begriff fasste all die Diskussionen, Emotionen und auch Ängste rund um den Zusammenschluss von Credit Suisse und UBS zu einem globalen Megakonzern zusammen. Seit dem Jahr 2017 ermittelt ein Team am Departement für Angewandte Linguistik zusammen mit einer Jury in allen vier Landessprachen ein Wort des Jahres: Begriffe, welche die Gesellschaft bewegt haben. Basis für diese Wahl ist die Sprachdatensammlung Swiss Applied Linguistics, kurz Swiss-AL.
Gut eine Milliarde Wörter in über 4,5 Millionen Texten zählt diese mehrsprachige Datenbank. Das mache sie zur grössten der Schweiz laut dem verantwortlichen Forschungsteam. Diskurse und Sprachgebrauch der Öffentlichkeit zeigen, welche Geschichten wichtig sind in der Gesellschaft und welche Argumente wie und von wem aufgenommen werden.
Wie die Gesellschaft tickt
Seit 2015 werden diese Sprachdaten gesammelt. Dabei wird auf öffentlich zugängliche Quellen aus der Politik, aus Verbänden, der Wirtschaft, Wissenschaft, den Medien und der Zivilgesellschaft zurückgegriffen. Für Philipp Dreesen, Mitinitiant von Swiss-AL und Professor für Digitale Linguistik und Diskursanalyse, erfüllt diese Sammlung eine demokratische Aufgabe, denn: «Die Gesellschaft muss sich selbst beobachten können», sagt er. «Wissenschaft braucht Vermittlung in die Gesellschaft. Wissenschaft muss aber auch wahrnehmen, welche Gewissheiten es in der Gesellschaft gibt und wie über wissenschaftliche Anwendungen gedacht wird.
«Die Gesellschaft muss sich selbst beobachten können.»
Das machen Diskursanalysen: Sie erfassen zum Beispiel die Spielregeln der öffentlichen Kommunikation, Informationsangebote und individuelle Bedenken. Denn diese Regeln leiten das Denken, den Austausch und führen letztlich zu Entscheidungen und Handlungen.» Swiss AL liefere die Daten, um diese Diskurse aufzuzeigen und zu analysieren.
Aktuell leitet Dreesen beispielsweise ein vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstütztes Projekt, bei dem mithilfe von Swiss-AL die öffentlichen Diskurse über Impfungen von 2000 bis 2025 analysiert werden. Um individuelle Impfentscheide und Impfzurückhaltung zu verstehen, sei es äusserst relevant zu untersuchen, wie Medien über Impfungen berichten, wie in der Politik darüber diskutiert wird, wie Stakeholder im Bereich der öffentlichen Gesundheit dazu kommunizieren und wie sich Laien öffentlich dazu positionieren, so Dreesen
Zugang für alle Forschungskreise
Die linguistische Forschungsgemeinschaft ist vergleichsweise klein. Doch die Datensammlung Swiss-AL habe bereits eine gewisse Strahlkraft über die Disziplin hinaus, so Julia Krasselt, Professorin für Methoden der Sprachdatenanalyse. Denn die Daten sind nicht nur für Sprachforschende interessant und wichtig, sondern ein Fundus an Antworten auf unterschiedliche Forschungsfragen aller Disziplinen, die sich für öffentliche Diskurse interessieren. Ein weiterer Vorteil ist die Mehrsprachigkeit: Das Korpus ermögliche einen Vergleich der Diskurse über verschiedene Sprachen und Kulturen hinweg, sagt Krasselt. Das sei einzigartig – und könne auch Vorbild für europaweite linguistische Sprachdatensammlungen sein.
Deshalb befasst sich ein Team um Philipp Dreesen und Julia Krasselt seit 2022 damit, diese Sammlung für weitere Forschungskreise zu öffnen. Das Spezielle daran: «Im Gegensatz zu anderen Fachbereichen eruieren wir die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer unserer Forschungsdaten», sagt Krasselt. Um diese verschiedenen Bedürfnisse zu ermitteln, wurden fast in jedem Departement der ZHAW Forschende gefunden, welche Auskunft darüber gaben, wie sie zu Sprachdaten stehen, wie sie bei der Suche vorgehen oder nach welchen Begriffen sie suchen.
Denn Forschungsmethoden und -fragen sind je nach Disziplin anders: Eine Person der Gesundheitswissenschaft beispielsweise hat andere Bedürfnisse an eine solche Datensammlung als eine Fachperson der Juristik, Architektur oder Psychologie. Im Fachbereich Gesundheit wird zum Beispiel danach gefragt, wie Massnahmen zur Tabakprävention in den Medien und in der Gesellschaft diskutiert werden: Wird überhaupt darüber diskutiert, in welchem Zusammenhang und wie oft? Welche Emotionen spielen eine Rolle? Über all das kann das Textkorpus Auskunft geben. «Swiss-AL bietet die Vogelperspektive auf die Gesellschaft», sagt Dreesen
Erklärvideos für Forschende
Öffentlich gemacht werden die Daten über eine «Workbench», eine Art Suchmaschine. Zentral dabei ist, die Daten richtig aufzubereiten und intelligente Werkzeuge für die Nutzung der Daten bereitzustellen. Es geht aber auch um die Einhaltung der «FAIR-Prinzipien», also darum, dafür zu sorgen, dass die Daten auffindbar, zugänglich, kompatibel und wiederverwendbar sind. Das Urheberrecht wird insofern eingehalten, als die Texte selbst nicht im Suchergebnis erscheinen, sagt Dreesen. Gezeigt wird lediglich der Satz, in dem das gesuchte Wort vorkommt, und dies mit Quellenangabe.
«Das Korpus ermöglicht einen Vergleich der Diskurse über verschiedene Sprachen und Kulturen hinweg – das ist einzigartig in Europa.»
Im kommenden Frühjahr soll eine neu gestaltete Version der Workbench fertig sein. «Wir haben gemerkt, dass die aktuelle Version noch nicht so verständlich ist wie gewünscht», so Krasselt. Unterstützt wird diese Neugestaltung im Rahmen des Schweizer Open-Science-Programms vom Hochschulverband swissuniversities wie auch mit ZHAW-Mitteln.
Zur erfolgreichen Umsetzung einer Strategie der offenen Forschungsdaten gehört auch die Ausbildung und Befähigung der Forschenden, solche Ressourcen zu benützen. Im Zentrum eines weiteren Projektes steht deshalb die Entwicklung von Schulungsmaterialien: Erklärvideos, disziplinspezifische Testimonials, praktische Übungen oder Best Practices. «Alles in kleinen Häppchen», so Dreesen lächelnd, «Forschende haben nicht viel Zeit.»
(Bild: Vitalii Vodolazskyi/AdobeStock )
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