Die Welt des Wumpus
Algorithmen sind eine intellektuelle Herausforderung. Im Kurs «Künstliche Intelligenz» werden die Studierenden über einfache Beispiele aus der Spielewelt an sie herangeführt.
Der Held der Vorlesung heisst Wumpus: Ein übel riechendes Monster aus einem Computergame, das einen Goldschatz bewacht. Angeleitet vom Dozenten Thilo Stadelmann, Professor für Informatik an der ZHAW School of Engineering, versuchen die Studierenden des Kurses «Künstliche Intelligenz», eine Strategie zu formulieren, um unbeschadet an das Gold zu kommen. Es herrscht jene Mischung aus Konzentration und Lockerheit, die effizientes Lernen ermöglicht.
«Wenn es glitzert greif nach dem Schatz»
«Wenn du Gestank verspürst, schiess einen Pfeil in die Richtung, aus der er kommt», lautet eine mögliche Anweisung. Oder: «Wenn es glitzert, greif nach dem Schatz.» In eine formale Sprache gegossen, werden solche Regeln zu einer Wissensbasis, die ein Algorithmus nutzen kann, um das Spiel erfolgreich zu spielen. Natürlich ist das nur ein Übungsbeispiel – die Welt des Wumpus ist sehr einfach. «In der realen Welt wäre es zum Beispiel unsicher, ob wir das Monster auch treffen, wenn wir darauf schiessen», sagt Thilo Stadelmann.
Kochrezepte sind Algorithmen
Mit der zunehmenden Digitalisierung werden Algorithmen immer wichtiger. Sie stecken nicht nur in Suchmaschinen, sondern auch hinter Dating-Apps, Gesichtserkennungs-Software und Aktienhandels-Programmen. Doch gibt es sie schon viel länger als den Computer. Definitionsgemäss ist ein Algorithmus eine Abfolge von eindeutigen, logischen Befehlen zur Lösung eines Problems. «Schreibe fünf, behalte zwei»: Das schriftliche Addieren etwa ist ein klassisch algorithmisches Verfahren. Auch Kochrezepte sind letztlich nichts anderes als Algorithmen.
Sortieralgorithmus als Aha-Moment
«Der erste Algorithmus, den ich gelernt habe, war wahrscheinlich das Schuhebinden», sagt Louis Leon Müller, einer der Studenten aus Stadelmanns Kurs. «Ein Aha-Moment im Studium war dann der Sortieralgorithmus, mit dem sich beispielsweise Zahlen nach ihrer Grösse ordnen lassen. Das kennt man aus dem Alltag, aber in der Informatik geht es darum, das Verfahren zu verallgemeinern und effektiver zu machen.»
Als Werkstudent nutzt er Synergien
Müller ist Werkstudent: Er arbeitet zu 80 Prozent bei der Swisscom als Systemtechniker. Das macht das Studium zur zeitlichen Herausforderung – schafft aber auch Synergien. So hat er als Mitarbeiter der Cloud-Computing-Services viel mit Algorithmen zu tun. Als Beispiel nennt er die «Predictive Maintenance» («Vorausschauende Wartung»), mit der manche seiner Kunden arbeiten: «Da geht es etwa um Algorithmen, die anhand der Geräusche einer Maschine feststellen, wann eine Schraube geölt werden muss», sagt er. «So kann man verhindern, dass die Maschine kaputtgeht.»
«KI-Modul erlebt es einen Boom – achtzig Prozent und mehr aller Informatik-Studierenden belegen es.»
Die einfache Welt des Wumpus täuscht: Das Wahlpflichtmodul «Künstliche Intelligenz» im dritten Studienjahr ist sehr anspruchsvoll. Trotzdem erlebt es einen Boom – achtzig Prozent und mehr aller Informatik-Studierenden belegen es. Beides, die Schwierigkeit wie die Popularität des Fachs, hat mit dem gleichen Phänomen zu tun: Hier geht es um den Kern der Sache.
Intuition und Übung
«Algorithmen sind das Herz der Software», sagt Thilo Stadelmann. Ein Schachprogramm beispielsweise brauche zwar auch viel Zubehör. «Aber das Wesentliche ist doch: Wie spielt es Schach? Das bestimmen die Algorithmen. Sie sind es, die die Informatik so interessant und gleichzeitig so kompliziert machen.» Algorithmen sind eine intellektuelle Herausforderung, nahe an der Mathematik. Darum vermittelt Stadelmann Theorie und bringt Beispiele, die an die Intuition anknüpfen – genauso wichtig sind aber die praktischen Übungen, welche im Modul «Künstliche Intelligenz» zwei der vier Wochenstunden einnehmen.
«Um einen Algorithmus zu verstehen, muss man ihn selber programmieren oder implementieren – nur lesen reicht nicht.»
Kochen lernt man nicht, indem man Rezepte liest. Hier ist es gleich: «Um einen Algorithmus zu verstehen, muss man ihn selber programmieren oder implementieren – nur lesen reicht nicht», sagt Katya Mlynchyk. Sie hat das Künstliche-Intelligenz-Modul vor einem Jahr absolviert und als eine der Besten abgeschlossen. Was insofern erstaunlich ist, als sie gar nicht Informatik studierte, sondern Wirtschaftsingenieurwesen – diesen Sommer hat sie ihren Bachelor gemacht.
Maschinen denken anders
«Am Anfang war es ein bisschen schwierig, weil mir manche Informatik-Grundlagen fehlten», sagt Mlynchyk. Sie habe aber selber viel gelesen und ausprobiert, sodass es immer besser lief. Am meisten gelernt habe sie bei einem Game namens «2048»: «Das war eine Herausforderung», sagt sie. «Wir haben uns hineingesteigert und viel Zeit ins Programmieren investiert. Das hat Spass gemacht, und ich habe dabei auch gelernt, dass Maschinen ein bisschen anders denken als Menschen.»
Schlagzeilen für Agenturmeldungen
Seit August ist Katya Mlynchyk nun wissenschaftliche Assistentin im Team von Mark Cieliebak, ebenfalls Professor an der ZHAW School of Engineering. Hier beschäftigt sie sich mit automatischer Textanalyse. So war sie daran beteiligt, ein Programm zu schreiben, das zu Agenturmeldungen automatisch Schlagzeilen generiert. «Das System ist noch nicht einsatzbereit», sagt sie. Das Problem: Bestehende Texte zusammenfassen können die Algorithmen schon recht gut. Aber für die Schlagzeilen müssen sie eigenständige Formulierungen hervorbringen, und das ist viel schwieriger. «Manche Titel klangen zwar gut, aber dafür stimmten die Fakten nicht.»
«Algorithmen werden immer wichtiger in der digitalen Wirtschaft, darum möchte ich sie verstehen.»
Viele Informatik-Absolventen gehen später in die Software-Entwicklung – mehr und mehr widmen sich beruflich aber auch der boomenden Datenanalyse. Louis Leon Müller ist einer von ihnen, auch wenn er sich selber eher als Berater denn als Entwickler sieht: «Ich möchte nicht selber Software schreiben, das können andere besser. Aber Algorithmen werden immer wichtiger in der digitalen Wirtschaft, darum möchte ich sie verstehen.» Nach dem Motto seiner Mutter, die ihm zu sagen pflegte: «Du musst rechnen können, damit sie dich an der Kasse nicht übers Ohr hauen.»
Vorhersage von Bränden
Katya Mlynchyk weiss noch nicht genau, wo ihr Weg hinführen wird. «Eigentlich würde ich gern in der Forschung bleiben, hier fühle ich mich wohl.» Aber die Aussicht auf Master- und Doktoratsstudium missfällt ihr – sie, die in Minsk bereits Marketing studiert hatte, will keine ewige Studentin werden. Was sie reizen würde: Mit Algorithmen reale Probleme lösen. «Ich habe viele Freunde in Sardinien, und dort sind Waldbrände ein grosses Problem.» Oft ist Brandstiftung die Ursache. Vielleicht wäre es möglich, ein Programm zu schreiben, das aufgrund von Wetterdaten und einer Stimmungsanalyse in der Bevölkerung vorhersagt, wann und wo Brände auftreten könnten – und sie so besser bekämpfbar macht.
Der Mensch muss die Oberhand behalten
Der Einsatzbereich für Algorithmen ist breit und wird weiter wachsen. Trotz aller Künstlicher Intelligenz wird der Mensch aber nicht überflüssig: Es bleibt wichtig, dass er die Zügel in der Hand behält. Ein gutes Beispiel dafür sind Algorithmen mit Vorurteilen. So hat etwa der Versandhändler Amazon für einige Zeit einen selbstlernenden Algorithmus zur Auswahl von Stellenbewerbern benutzt, bis er merkte, dass dieser Männer bevorzugte. Nicht, weil man es ihm einprogrammiert hätte. Sondern weil er sich an früheren Einstellungsverfahren orientierte, wo eben mehrheitlich Männer zum Zug gekommen waren.
Nicht vorurteilsbehaftet
«Lernalgorithmen haben keine Vorurteile», stellt Thilo Stadelmann klar. «Sie sind nicht gut oder schlecht, nicht sexistisch oder rassistisch. Sie stellen bloss dar, was sie aus den Daten lernen. Und die Daten stammen aus der realen Welt.» Wenn also Algorithmen vorurteilsbehaftet erscheinen, so liegt es daran, dass sie die Vorurteile der Menschen abbilden. Genau darum ist es so wichtig, dass man Algorithmen nicht allein entscheiden lässt, sondern dass am Ende ein Mensch darauf schaut und allenfalls korrigierend eingreift. Dieses eminent ethische Thema wird jeweils in der finalen Kurswoche des Künstliche-Intelligenz-Moduls behandelt, und die Studierenden werden damit in die reale Welt entlassen.
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