Christian Wassmer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter Hochschulentwicklung und Hochschulforschung der ZHAW. Elena Wilhelm ist Leiterin Hochschulentwicklung der ZHAW.
Meinung

Die Zukunft gehört der Blended University

21.09.2021
3/2021

Die Heterogenität in Lehr- und Lernsettings muss als Chance für den Bildungsprozess sowie die Individualisierung und Flexibilisierung von Bildung betrachtet werden. Eine Polarisierung zwischen Online-Lehre und Lehre vor Ort ist fehl am Platz. Ein Plädoyer für die Blended University.

Den Medien war in den vergangenen Monaten zu entnehmen, dass den Studierenden langsam die Geduld ausgehe im Home Auditorium und sie zurück auf den Campus wollten. Die Erziehungsdirektorinnen und -direktoren argumentierten ihrerseits in einem Schreiben an den Bundespräsidenten, dass durch die andauernde Online-Lehre die Qualität des Unterrichts und damit auch die Werthaltigkeit der Studienabschlüsse zunehmend gefährdet sei.

Neue Ideen für Online- und physische Formate

Stimmt die Analyse überhaupt und ist «zurück auf den Campus» die richtige Schlussfolgerung? Sicher dürstet es die Studierenden nach sozialen Kontakten, sie freuen sich auf ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen, auf gemeinsame Lernerfahrungen, auf Erlebnisse und Events auf dem physischen Campus, auf die Arbeit an Projekten, in den Laboren, Ambulatorien und Werkstätten. Aber haben uns nicht die drei Semester Online-Studium aufgezeigt, dass Online-Lernen auch Vorteile hat? Und haben sie uns nicht auch auf neue Ideen für die Lehre vor Ort gebracht? Das bestätigen zumindest auch diverse Umfragen bei Studierenden und Lehrenden im In- und Ausland. 

«Eine Polarisierung zwischen Online-Lehre und Präsenzlehre scheint nicht zielführend. Der Begriff Präsenzlehre ist unseres Erachtens überdies nicht zukunftsfähig, weil man auch online zeitlich und virtuell-räumlich präsent sein kann.» 

Elena Wilhelm

Die Umstellung auf Online-Formate hat vielen Digitalisierungsstrategien von Hochschulen schlagartig einen Ruck verliehen, bereits geplante digitale Vorhaben für Studierende und Mitarbeitende beschleunigt und unmittelbar erfahrbar gemacht. Vieles wurde improvisiert und erkundet, verworfen oder implementiert. 

Auch virtuell räumlich kann man präsent sein

Eine polemisierende und evidenzbefreite Polarisierung zwischen Online-Lehre und Präsenzlehre scheint uns daher nicht zielführend. Der Begriff Präsenzlehre ist unseres Erachtens überdies nicht zukunftsfähig, weil man auch online zeitlich und virtuell-räumlich präsent sein kann. Soziale Ordnung entsteht in digitalen Netzwerken weitgehend kollektiv, selbstorganisiert, kooperativ und emergent. Diese Formen des Miteinanders und Nebeneinanders sind zentral für alle modernen Lehr- und Lernsettings – ob online oder physisch vor Ort. Sie haben zum Beispiel auch in den «offenen Curricula», die besonders von den Online-Erfahrungen profitieren können, einen bedeutenden Stellenwert. In einem offenen Curriculum werden die Studieninhalte in Interaktion zwischen Studierenden, Lehrenden und Akteurinnen und Akteuren aus der Praxis fliessend und kooperativ festgelegt. Die Studienprogramme sind in hohem Masse selbstorganisiert. Die Didaktik basiert auf Lehr- und Lernmethoden, die vor allem durch Peer-to-Peer-Lernen, projektbasiertes Lernen und Hilfe zur Selbsthilfe gekennzeichnet sind. 

Pluralisierung der Lehr- und Lernformate

Die Digitalisierung evoziert somit insgesamt eine Pluralisierung von Lehr- und Lernformen, die teils besser online und teils besser vor Ort stattfinden. Charisma, Lesbarkeit des Gegenübers, informelle Abstimmung über Seitengespräche sind in unterschiedlichen Lehr- und Lernsettings möglich, funktionieren aber jeweils anders. Die Heterogenität muss als Chance für den Bildungsprozess und insbesondere für die Individualisierung und Flexibilisierung von Bildungswegen und -inhalten betrachtet werden.

Praxisorientierung vor Ort 

Der Stellenwert der physischen Co-Präsenz vor Ort wird aus unserer Sicht durch vermehrte Online-Veranstaltungen sogar erhöht. Es wurde deutlich, dass Lernen ein sozialer Prozess ist und der physische Raum ein zentraler sozialer Bindungsfaktor. Insbesondere für Erstsemestrige und für Austauschstudierende, aber auch generell für viele Studierende sind Interaktionsformate im physischen Raum in bestimmten Situationen wichtig. Gerade Fachhochschulen müssen ihrem praxisorientierten Profil durch ihre vielfältigen anwendungsbezogenen Lehr- und Lernangebote vor Ort Sorge tragen.

Lernräume sollten offen und anpassungsfähig sein 

Hochschulen sind Umgebungen mit einer spezifischen Lern- und Arbeitsatmosphäre, in der gesellschaftliche Anforderungen abgebildet werden. Hochschulen werden künftig noch stärker immer wieder hinterfragen müssen, welche Anforderungen bestehen und wie sie diese sowohl in der digitalen als auch in der physischen Infrastruktur abbilden und integrieren können. Lernräume sollten daher anpassungsfähig, modularisierbar und auch offen für gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure sein. In Anlehnung an die Akteur-Netzwerk-Theorie des Soziologen Bruno Latour und der Architekturtheoretikerin Albena Yaneva sollten wir den Raum als aktiven Akteur begreifen. Verschiedene Formen von Räumen ermöglichen und erzwingen nachgerade die Entwicklung von innovativen Lehr- und Lernformen.

«Die Wirkung und Wirksamkeit digitaler Medien liegt nicht in der Technik selbst, sondern im sozialen Umgang mit der Technik in Form von didaktischen Konzepten.» 

Christian Wassmer

Die Gestaltung von physischen und virtuellen Lern- und Arbeitsräumen ist ein strategischer Kernbereich der Hochschulen. Die digitale Transformation führt dazu, dass Hochschulen langfristig bei gleichbleibender Studierendenzahl quantitativ wohl über weniger Räume verfügen müssen. Die Räume sollen aber qualitativ imstande sein, verschiedene Bedürfnisse und Bedarfe modular zu befriedigen. Die Lernräume der Zukunft sind offen und anpassungsfähig und ermöglichen die barrierefreie, vernetzte und kollaborative Wissensaneignung und -herstellung.

Blended University: Online- und Vorort-Settings als Einheit verstehen

Wir plädieren deshalb für eine sinnvolle und resiliente Kombination von Lernen vor Ort und Online-Lernen. Nur durch die gelungene Kombination werden sowohl wichtige Kompetenzen gefördert als auch im Idealfall infrastrukturelle Ressourcen frei, die wiederum in didaktische Settings reinvestiert werden können. Hierbei müssen Hochschulen reflektieren, welche Kombinationen und welche Konzepte sich in der Phase des Erprobens in der Pandemie bewährt haben, auf welchen Erfahrungen individuell und institutionell aufgebaut werden kann, welche neuen Optionen sich ergeben haben und welche Herausforderungen künftig zu bewältigen sind. Die Wirkung und Wirksamkeit digitaler Medien liegt dabei nicht in der Technik selbst, sondern im sozialen Umgang mit der Technik in Form von didaktischen Konzepten. Ergebnis dieses Prozesses ist die Schaffung der «Blended University», die Online- und Vorort-Settings nicht gegeneinander ausspielt, sondern sie als Einheit begreift.

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