E-Trottis haben das Potenzial zum normalen Verkehrsmittel
Gut zwei Jahre nach ihrer Lancierung sind die E-Trottinette der Sharing-Plattformen aus dem Stadtverkehr kaum mehr wegzudenken. Noch sind sie eher ein Spielzeug für die urbane Hipster-Guerilla. Doch es steckt mehr in ihnen.
Liebe auf den ersten Blick war es nicht. «Es ist schon verrückt, womit unsere Stadt derzeit vollgestellt wird», schimpfte der «Tages-Anzeiger», als im April 2018 die ersten E-Trottinette im «Free Floating»-System in Zürich auftauchten. Es half nichts. Seither haben Verleiher wie Bird, Circ, Lime, Tier oder Voi Stadt um Stadt erobert. Selbst ländliche Orte wie Frauenfeld zeigen Interesse. Zürich hat mittlerweile 4000 solche Gefährte bewilligt. Mit Auflagen versuchen die Behörden, wildes Parkieren auf Trottoirs und andere Auswüchse einzudämmen. Bern zum Beispiel verfügte für die Altstadt ein Tempolimit von 5 km/h, die Drosselung erfolgt dank Geolokalisierung mittels GPS automatisch.
Robin-Hood-Gefühl
Schnittig und emotional, so charakterisiert Professor Thomas Sauter-Servaes die E-Trottis. «Sie beschleunigen rasant, sind einfach zugänglich und mit dem Elektroantrieb schön bequem», sagt der Mobilitätsforscher und Leiter des ZHAW-Studiengangs Verkehrssysteme. Die «manchmal nicht ganz regelkonforme Verwendung», wie er die teils halsbrecherische Fahrweise entgegen allen Regeln umschreibt, verweist auf eine Art Robin-Hood-Gefühl, das die E-Trottis vermitteln: Autoritäten entwischen, Grenzen ausloten, Risiko suchen. Oder, angelehnt an einen Auto-Werbeslogan: Freude am Fahren auf zwei Rädern.
Steckt ausser Spass mehr in den E-Trottis? Sind sie die Antwort auf heutige Probleme im Strassenverkehr: die Staus, den Lärm, den steigenden CO2-Ausstoss? Einiges spricht dafür. Leise sind sie, produzieren keine Abgase, fahren von Tür zu Tür und werden dank effizientem Teilen per Smartphone-App von mehreren Personen gefahren. Eher Steh- als Fahrzeug sind dagegen herkömmliche Besitzautos, die 95 Prozent der Zeit ungenutzt parkiert sind, egal, ob mit Verbrennungs- oder Elektromotor.
Die Stärke des E-Trottis ist seine Angemessenheit. «Es bewegt nicht 1,5 Tonnen mit 180 PS zwei bis drei Kilometer durch die Stadt, wie es bei einem Grossteil der Autofahrten geschieht», sagt der Mobilitätsforscher. Ein E-Trotti hat 0,7 PS und wiegt 0,015 Tonnen – der ideale Protagonist der Smart City der Zukunft. Das Gemecker über den Platz, den E-Trottis verstellen, zeuge von einer komplett verschobenen Wahrnehmung, sagt Sauter-Servaes: «Die am Fahrbahnrand parkierten Blechlawinen werden derweil als normal wahrgenommen.»
GA und E-Trottis verbinden
Bloss: Wie schafft man es, neben der Hipster-Guerilla breitere Schichten zu überzeugen? Die Nutzung müsse bequem sein, sagt der Professor. Er empfiehlt dem öffentlichen Verkehr, die Mikromobilität zu «umarmen». Zum Beispiel indem ein GA oder ein Verbundbillett auch die nahtlose Nutzung von E-Trottis oder anderen Sharing-Angeboten ermöglicht und so eine neue Normalität schafft: «Ohne Einbindung ins Gesamtsystem bleiben die E-Trottis ein technisches Spielzeug für eine beschränkte Nutzergruppe.» Zugleich müssten verkehrspolitische Weichenstellungen den nötigen Platz schaffen, ähnlich wie in Paris, wo die Stadtregierung 70'000 der 140'000 Strassenparkplätze abbauen will. Dann, sagt Sauter-Servaes, hätten die E-Trottis als echtes Verkehrsmittel eine Chance.
E-Trottinette trotz Corona nicht ausgebremst
Der europäische Markt für E-Trottinett-Sharing ist auch im Krisenjahr 2020 gewachsen – allerdings nicht mehr so stark wie im Jahr zuvor. Damals hatte sich die Anzahl der E-Trottinette innerhalb eines Jahres insgesamt mehr als verzehnfacht. Dies zeigt eine Vergleichsstudie, die jährlich von der ZHAW School of Engineering im Studiengang Verkehrssysteme durchgeführt wird. Im Jahr 2019 wurden vor allem Berlin, Kopenhagen und Zürich mit E-Trottinetten geflutet. Dieser Boom hat im Jahr 2020 nun auch Barcelona und Paris erreicht. Während sich die Flottengrössen in Berlin und Kopenhagen seit 2019 kaum verändert haben, erkennt man in Zürich ein weiteres Wachstum im Vergleich zum Vorjahr. Mit inzwischen fast 4000 E-Trottinetten und somit über 8 Fahrzeugen pro 1000 Einwohner ist das Sharing-Angebot hier viermal dichter als in den anderen untersuchten Städten. Der Bikesharing-Markt hingegen wurde im vergangenen Jahr etwas kleiner. In Zürich und Wien gibt es inzwischen fast dreimal so viele E-Trottinette wie Velos zum Ausleihen. In allen anderen Städten haben aber die Bikes noch die Oberhand.
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