Ein flexibles Rentenalter ist kein ­Allheilmittel

18.03.2020
1/2020

Eine ZHAW-Studie untersucht, welche Folgen eine Verlängerung des Arbeits­lebens für die Gesundheit älterer Arbeitnehmender hätte und wie sich das vom Bund geforderte flexible Rentenalter auswirken würde.

In vielen OECD-Ländern wurde in den vergangenen Jahren das Rentenalter erhöht. In der Schweiz wird eine Erhöhung zwar diskutiert, doch gab es in den letzten 15 Jahren keine Anpassungen mehr. Dennoch stieg die Arbeitsmarktbeteiligung der über 65-Jährigen kontinuierlich an. Wie die Arbeitsmarktpartizipation älterer Arbeitnehmender im Zusammenhang mit deren Gesundheit steht, wird in einem vierjährigen Forschungsprojekt mit dem Titel «Gesundheitliche Ungleichheit im Kontext ­einer Verlängerung des Arbeits­lebens» untersucht. In diesem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekt interessieren sich Forschende am ZHAW-Departement Gesundheit insbesondere für Unterschiede zwischen verschiedenen so­zioökonomischen Gruppen wie etwa Berufen. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit Universitäten in der Schweiz, Schweden, den USA und Chile durchgeführt.

In einem ersten Teilprojekt untersuchte die Projektleiterin Isabel Baumann in Zusammenarbeit mit Ignacio Madero-Cabib von der 
Katholischen Universität Chile Rentenübergänge in Ländern mit einem flexiblen Rentensystem. Flexible Rentensysteme kombinieren ein flexibles Rentenalter mit der Möglichkeit von Teilzeitarbeit oder Teilrentenbezug. In der Schweiz wird die Flexibilisierung des Übergangs vom Arbeitsleben ins Rentner­dasein vom Bundesrat in der Reformvorlage AHV 21 momentan als Anreiz zum längeren Verbleib im Arbeitsprozess gehandelt. Doch laut Baumann gibt ihre Studie Hinweise darauf, dass dieser Mechanismus nicht wie vom Bundesrat erwartet spielt. Die Studie «Rentenverläufe in Ländern mit flexibler Rentenpolitik, aber unterschiedlichen Wohlfahrtssystemen» zeigt, dass auch in Ländern mit einem flexiblen Rentensystem die Frühpensionierung das mit Abstand am weitesten verbreitete Übergangsmuster der untersuchten Bevölkerungsgruppen ist.

Weniger Leistungen, 
spätere Rente

Die Studie förderte Unterschiede zwischen den untersuchten Ländern Chile, USA, Dänemark und Schweden zutage – abhängig von der Ausprägung des Vorsorgesystems. In den liberal orientierten Ländern USA und Chile mit verhältnismässig tiefen Rentenleistungen findet der Altersrücktritt tendenziell später statt als in den skandinavischen Staaten mit grosszügigen und umfassenden Leistungen. Länder mit tiefen Leistungen der sozialen 
Sicherheit scheinen also insgesamt stärkere Anreize für eine Verlängerung des Arbeitslebens zu setzen.

Eine Ausnahme bilden Personen mit chronischen Erkrankungen. Diese gehen in den liberalen Staaten häufiger frühzeitig in Rente als gesunde ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dieser Unterschied im Pensionierungsverhalten zwischen Personen mit und solchen ohne gesundheitliche Probleme konnte nur in den USA und in Chile beobachtet werden, nicht aber in Dänemark und Schweden.

Flexibilisierung hat auch Vorteile

Damit scheinen weder eine 
Flexibilisierung des Rentenalters 
allein noch in Kombination mit finan­ziellen Anreizen auszureichen, um Beschäftigte länger im Arbeitsleben zu integrieren. Welche alternativen Ansätze entsprechend wirken könnten, untersucht die Studie nicht. Denkbar sind laut Baumann aber Massnahmen, die die gesundheitlich belastenden Aspekte der Arbeit reduzieren und den Verbleib in der Arbeitswelt für ältere Arbeitnehmende attraktiver machen.

Baumann gibt zu bedenken, dass die vom Bundesrat vorgeschlagene Flexibilisierung zwar eventuell nicht der richtige Weg für die finanzielle Stabilisierung der AHV sei, aber dafür andere Vorteile biete. «Sie gibt den Menschen mehr Handlungsspielraum.» Und das sei ein Vorteil, da die Situation der älteren Arbeitnehmenden sehr heterogen sei, zum Beispiel in Bezug auf ihre Gesundheit oder die Pflege und Betreuung von Eltern oder Grosskindern. «Diesen Bedürfnissen und Möglichkeiten würde eine Flexibilisierung gerechter werden.» In einem NZZ-Artikel erörtern Baumann und die Rechtswissenschaftlerin Sabine Steiger-Sackmann von der ZHAW School of Management and Law konkrete mögliche Massnahmen, wie die Gesundheit älterer Arbeitnehmender im Arbeitsprozess besser erhalten und gefördert werden könnte. Dazu gehören laut den Forschenden die Einhaltung der Vorschriften zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Wie heute bereits in vielen Unternehmen und Organisationen – wie zum Beispiel der ZHAW – implementiert, könnten die Ferien- und Ruhezeiten mit zunehmendem Alter kontinuierlich steigen. Zudem wären laut Baumann und Steiger-Sackmann die in der Schweiz im internationalen Vergleich hohen Wochen­arbeitszeiten grundsätzlich zu überdenken. Auch ein Anspruch aller Arbeit­nehmenden auf Teilzeitarbeit – sofern betrieblich machbar –, wie ihn zum Beispiel Deutschland oder die Niederlande kennen, könnte ein Beitrag zu einem besseren Erhalt der Gesundheit sein.

Zusammenarbeit mit Seniorenorganisation

In ihrer Forschung gehen die ZHAW-Wissenschaftlerinnen neue Wege, indem sie mit Innovage zusammenarbeiten, einem Netzwerk von freiwillig tätigen Seniorinnen und Senioren. Diese sind nicht lediglich Forschungsobjekt, sondern forschen zum Teil selbst mit. Diese Art des Vorgehens nennt sich «partizipative Forschung» (siehe Kas­ten). In der Zusammenarbeit mit Innovage wurde beispielsweise deutlich, dass aus Sicht der Seniorinnen und Senioren der Übergang vom Berufsleben in die Rente frühzeitig geplant werden sollte – inklusive Einsatz von geeigneten Weiterbildungen und Umschulungen. «Die befragten Personen sehen eine Chance darin, dass ältere Arbeitnehmende gegen Ende des Arbeitslebens eine neue Rolle im Betrieb übernehmen könnten, etwa als Coach, Mentorin oder strategischer Berater», erklärt Baumann.   

Partizipative Forschung – Wenn Beforschte mitforschen

Um sich mit ihrer Forschung stärker an den Erfahrungen und Bedürfnissen von Personen zu orientieren, die den Übergang vom Berufsleben in die Rente erlebt haben, entschieden sich die ZHAW-Forschenden für eine partizipative Forschung in Zusammenarbeit mit Innovage, einem Netzwerk von freiwillig tätigen Seniorinnen und Senioren. Partizipativ zu forschen bedeutet, Personengruppen, die einen Bezug zum Forschungsthema haben, in den Forschungsprozess miteinzubeziehen. Dabei stützt sich das Projektteam auf den Leitfaden des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich. Dieser wurde 2017 erarbeitet und ist frei verfügbar.

«Bis zu einem gewissen Grad forschen die Mitglieder von Innovage selbst», erklärt Projektleiterin Isabel Baumann. Einmal im Jahr treffen sich die ZHAW-Forschenden mit einer grösseren Gruppe aus dem Innovage-Netzwerk. «In der Phase der Präzisierung der Forschungsfragen haben die Seniorinnen und Senioren uns beratend unterstützt. Sie haben uns Ideen geliefert, welche Aspekte wir noch untersuchen könnten», sagt Baumann. So hätten sie etwa die Berücksichtigung verschiedener Berufsgruppen in der Forschung angeregt, was so auch aufgenommen wurde. In einem zweiten Schritt werden die Forschenden die ersten Resultate, die noch nicht publiziert sind, mit der Innovage-Gruppe anschauen. Die Idee sei, dass die Resultate diskutiert würden und dass die Seniorinnen und Senioren die Forschenden in der Interpretation und Einordnung unterstützten. Dabei machen die Seniorinnen und Senioren selber keine Berechnungen und Datenanalysen. Das ist Aufgabe der Forschenden.

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