«Eine Erbschaft kann alte Konflikte aufwärmen»

20.06.2023
2/2023

Erbschaften sind in der Schweiz ein volkswirtschaftlich bedeutsamer Faktor, trotzdem ist die Datenlage dazu eher dünn. Eine Studie der ZHAW und der Zürcher Kantonalbank zeigt nun, wie die Schweizer Bevölkerung ans Erben und Vererben herangeht – und was das Thema mit Ängsten und Prokrastination zu tun hat.

«Redet ihr in eurer Familie noch miteinander oder habt ihr schon geerbt?» Bei einer Erbschaft, so die Redensart, kommt es häufig zu Streit. Es ist ein Thema, dem der Volksmund nicht von ungefähr grosses Konfliktpotenzial zuschreibt – das zeigt die kürzlich veröffentlichte Studie «Wer (ver)erbt wie? Schweizer Erbschaftsstudie 2023»: So hoffen 91 Prozent der potenziellen Erbenden, die für diese befragt wurden, dass die Erbschaft nicht zu einem Konflikt führt. Und auch die potenziellen Erblassenden machen sich diesbezüglich Gedanken: 80 Prozent möchten einen Konflikt unter den Erbenden vermeiden – sechs Prozent befürchten, dass es trotzdem zu einem solchen kommen wird.

Katalysator für bestehende familiäre Spannungen

«Der Streit ums Erbe ist selten der erste in der Familie», sagt Co-Studienautor Roland Hofmann von der ZHAW School of Management and Law (SML). «Eine Erbschaft kann alte Konflikte aufwärmen – davor haben wohl viele Angst.» Insbesondere wenn der Nachlass nicht sauber geregelt sei, könne die Erbschaft Katalysator für bestehende familiäre Spannungen sein. «Erbstreitigkeiten lassen sich in der Regel vermeiden, wenn man das Thema frühzeitig angeht», ergänzt Judith Albrecht, Leiterin Private Banking Marktgebiet Zürichsee bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB) und Initiantin der Studie.

Riesiges Erbschaftsvolumen

Kern der Studie bildete eine quantitative Befragung von rund 1000 künftigen Erblassenden und potenziellen Erbenden in der Deutschschweiz. «Im Gegensatz zu früheren Studien haben wir nur solche Personen befragt, die vom Thema auch direkt betroffen sind, also vererben oder erben werden», sagt Michaela Tanner, Co-Studienautorin. Laut der wissenschaftlichen Mitarbeiterin der ZHAW-Fachstelle für Personal Finance & Wealth Management seien die Ergebnisse deshalb nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung – dafür aber umso aussagekräftiger.

«Erbstreitigkeiten lassen sich in der Regel vermeiden, wenn man das Thema frühzeitig angeht.»

Judith Albrecht, Leiterin Private Banking Marktgebiet Zürichsee bei der ZKB

Die ZKB hat die Studie anlässlich der Erbrechtsrevision in Auftrag gegeben. «In der Schweiz war die Datenlage bislang eher dünn», sagt Stefan Reinhard, Leiter Erbschaften und Stiftungen bei der ZKB. «Wir wollten für unsere Beratungen ein besseres wissenschaftliches Fundament und das Thema Erbschaft einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen.» Es ist ein Thema, das in der Schweiz eine grosse wirtschaftliche Bedeutung hat: 2022 betrug das Erbschaftsvolumen Schätzungen zufolge rund 90 Milliarden Franken – zweimal so viel, wie von der AHV jedes Jahr ausgezahlt wird. 

Mehr Freiheit beim Vererben

Die Anfang 2023 in Kraft getretene Erbrechtsrevision vergrössert den Gestaltungsspielraum bei der Verteilung des Nachlasses. So wurden die Pflichtteile für die Nachkommen reduziert und für die Eltern abgeschafft. Neu kann jede Person über mindestens die Hälfte ihres Nachlasses frei verfügen. Die Revision wurde insbesondere mit Blick auf veränderte Familienkonstellationen und Lebensformen vorgenommen. 

Ausgeprägte Aufschieberitis 

Zu dem ökonomisch bedeutsamen Thema liefert die Untersuchung neue, teilweise überraschende Erkenntnisse. Das Projektteam hat vor allem das Ausmass der Prokrastination erstaunt, die viele der Befragten bei der Nachlassplanung an den Tag legen. «Die Aufschieberitis ist weit verbreitet», sagt Roland Hofmann, Experte für Finanzplanung, Vorsorge- und Nachfolge-Themen an der Fachstelle für Personal Finance & Wealth Management. 88 Prozent finden es wichtig, den Nachlass zu regeln; 48 Prozent haben diesen Schritt aber noch nicht getan. «Die Mehrheit hat sich zwar schon Gedanken zum Thema gemacht. Bis zur konkreten Regelung vergehen aber oftmals viele Jahre.»

«Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod trägt wohl dazu bei, dass das Thema auf die lange Bank geschoben wird.»

Michaela Tanner, Fachstelle für Personal Finance & Wealth Management

Selbst Personen, die sich beraten lassen und eine pfannenfertige Lösung haben, warten mit der Umsetzung häufig zu. «Die meisten gehen davon aus, dass sie noch genügend Zeit haben», sagt Michaela Tanner. Bloss: Niemand wisse, wie viel Zeit ihm oder ihr für die Nachlassregelung bleibe. «Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod trägt wohl dazu bei, dass das Thema auf die lange Bank geschoben wird», vermutet sie. Häufig bewege die bevorstehende Pensionierung oder ein Todesfall im nahen Umfeld die Menschen zum Handeln.  

Gesetz entspricht den Wünschen

Jene Befragungsteilnehmenden, die ihren Nachlass bereits geregelt haben, bleiben dabei nahe am Gesetz – auch dann, wenn sie frei über die Verteilung des Erbes entscheiden können. «Viele begnügen sich mehr oder weniger mit der gesetzlichen Standardlösung», sagt Roland Hofmann. Insbesondere bei Verheirateten scheint das Erbrecht, das mittels Pflichtteilen primär Ehepartnerinnen und -partner und Kinder begünstigt, den persönlichen Wünschen zu entsprechen: In der Befragung gaben Verheiratete deutlich seltener an, ein Testament verfasst zu haben, als nicht verheiratete Menschen. 

«Die Motive der Erblassenden decken sich weitestgehend mit den Vorstellungen der Erbenden.»

Roland Hofmann, Fachstelle für Personal Finance & Wealth Management

Unabhängig vom Zivilstand soll das Erbe für die Mehrheit der Befragten in der Familie bleiben. Die Ehepartnerin oder der Ehepartner steht bei der Verteilung grundsätzlich an erster Stelle, gefolgt von den Kindern. Allerdings gewichten Frauen und Männer diesbezüglich unterschiedlich: Männer begünstigen ihre Ehe- oder Lebenspartnerin stärker als umgekehrt, Frauen vererben den grössten Anteil ihres Vermögens an ihre Kinder.

«Frauen sind bei der Heirat oft jünger und haben eine höhere Lebenserwartung, weshalb sie die Männer in vielen Fällen überleben», nennt Michaela Tanner einen möglichen Grund für diesen Unterschied. Bei Personen ohne Nachkommen oder pflichtteilgeschützte Erben sind es Lebensgefährtinnen und -gefährten, Geschwister sowie Neffen und Nichten, die begünstigt werden. «Bei dieser Personengruppe ist das Motiv, mit dem Nachlass in Erinnerung zu bleiben, stark ausgeprägt», sagt Michaela Tanner. 

Milliarden werden vorbezogen

Daneben leiten vor allem altruistische Motive die Nachlassregelung. Grosse Zustimmung erhielten in der Befragung etwa Aussagen, dass die Lebenspartnerinnen und -partner finanziell möglichst gut abgesichert sein sollen, dass das Erbe bei mehreren Kindern gerecht aufgeteilt wird oder dass die Erben das Geld nach eigenen Vorstellungen nutzen können. «Die Motive der Erblassenden decken sich weitestgehend mit den Vorstellungen der Erbenden», so Hofmann. Eine Ausnahme bilde einzig, dass es für die Mehrheit der Nachkommen wichtig sei, das Erbe im Sinne des Erblassenden weiterzuverwenden. «Diesen ist das in den meisten Fällen jedoch völlig egal.» 

Als häufigsten Verwendungszweck des Nachlasses gaben die zukünftigen Erbenden den Vermögensaufbau respektive die Altersvorsorge an. Allerdings wollen sich diesbezüglich nur fünf Prozent auf das Erbe verlassen – rund 90 Prozent sehen sich selbst dafür verantwortlich, für den Lebensabend ein finanzielles Polster anzulegen. Neben der Altersvorsorge gaben die Erbenden an, den Nachlass für die Erfüllung von Wünschen und Träumen, die Unterstützung von Angehörigen und Bekannten oder für den Kauf eines Hauses zu verwenden.

Zur Finanzierung eines Eigenheims

Die Finanzierung eines Eigenheims ist mit Abstand der häufigste Grund für einen Erbvorbezug oder eine Schenkung. Und sie ist etwas, wofür mehr als die Hälfte der Befragungsteilnehmenden bereit ist, einen Teil des Vermögens noch zu Lebzeiten weiterzugeben. Insgesamt haben Vorbezüge und Schenkungen in der Schweiz einen hohen Stellenwert: Sie machen rund ein Viertel des Erbschaftsvolumens aus und entsprachen 2022 etwa 23 Milliarden Franken.

Übrigens: Die Angst, dass die Erbschaft zu Streitigkeiten führt, ist grösser als die tatsächliche Konfliktrate. So haben gemäss einer früheren Umfrage in der Schweiz nur 13 Prozent der Erbenden einen Streit wirklich erlebt. 

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