Eine Frau der Tat

19.03.2019
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Romina Beeli handelt dort, wo andere wegschauen: Sie setzt sich für Obdachlose und Drogenabhängige ein und betreut als Sozialarbeiterin Straftäter bei der Reintegration. Alles eine Frage des Respekts.

Der Stadtpark von Chur, einst zum Flanieren errichtet, ist seit vielen Jahren ein Treffpunkt für Menschen am Rand der Gesellschaft. Die meisten Einheimischen machen einen Bogen um den Garten. Nicht so Romina Beeli. Sie spricht die Parkbewohner – meist obdachlose und drogenabhängige Männer – an, setzt sich hin, hört zu, ist einfach da. «Bei mir muss sich niemand rechtfertigen», sagt sie, «ich erteile auch nicht ungefragt Ratschläge.» Das helfe, Vertrauen zu schaffen.

Biografien Gestrandeter

Schon als Teenager erhielt Romina Beeli Einblick in so viele Schicksale wie andere im ganzen Leben nicht. Heute, mit 27, sagt sie von sich: «Ich habe den Umgang mit dem Tod gelernt.» Vor einigen Jahren wurde sie von einem Drogenabhängigen gebeten, für seine Mutter seine Lebensgeschichte aufzuschreiben für den Fall, dass er vor ihr sterben würde. Der Mann, der später an einer Überdosis starb, hatte mit seiner Anfrage vieles ins Rollen gebracht. Romina Beeli verfasste nicht nur seine Biografie, sondern gleich eine ganze Portraitsammlung, die vom Bündner Somedia-Verlag herausgegeben wird.

Die dunkle Seite der Wohlstandsgesellschaft

In dem 2015 erschienenen Buch «Die Familie vom Stadtpark» beschreibt die Autorin sieben Betroffene und deren Leben im gesellschaftlichen Abseits – Menschen, die ihrer Ansicht nach «aus verschiedenen Gründen vielfach einfach Pech gehabt haben». Häufig fehle es schon in der Kindheit an tragfähigen Beziehungen, sagt Romina Beeli, die wohlbehütet in der heilen Bündner Bergwelt aufgewachsen ist, in Donat mit seinen rund 200 Einwohnern, fern von sozialer Not und Drogenelend. Es war bei einer Besichtigung der «Überlebenshilfe» Graubünden in Chur, die eine Notschlafstelle und eine Gassenküche beherbergt, als sie erstmals direkt mit den dunklen Seiten der Wohlstandsgesellschaft in Berührung kam. Damals war sie 17 und erschüttert von den Schicksalen der Randständigen: «Dort habe ich den Entschluss gefasst, mich beruflich für benachteiligte Menschen einzusetzen.»

Zu jung für Soziale Arbeit?

Anders als die «Klienten» aus der «Überlebenshilfe», deren Lebensläufe voller Brüche sind, hat Romina Beeli ein makelloses Curriculum Vitae. Im Anschluss an die Fachmatur und einen Sprach- und Arbeitsaufenthalt in Südafrika und Mosambik schrieb sie sich fürs Studium der Sozialen Arbeit an der ZHAW ein. «Viele warnten mich, ich sei zu jung dafür», erinnert sie sich, «darum hatte ich wenig Hoffnung, aufgenommen zu werden.» Lebenserfahrung ist für das Studium ein Vorteil, darum wird es auch häufig als Zweitausbildung absolviert. Doch die Bedenken waren unbegründet: Nach einem längeren Abklärungsgespräch konnte sie, damals 22-jährig, die Ausbildung in Angriff nehmen.

«Die Resozialisierung von Straftätern ist eine spannende und herausfordernde Aufgabe.»

Als Frau der Tat schätzte sie den hohen Praxisbezug mit den beiden sechsmonatigen Ausbildungspraktika, die ihr wichtige Erfahrungen und Beziehungen in der Berufswelt verschafften. Ein Praktikum absolvierte sie in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK), eines im Haus Lägern, das zur JVA Pöschwies gehört, der grössten Justizvollzugsanstalt der Schweiz. In der Einrichtung, die 23 Plätze zählt, durchlaufen die Insassen die letzten Monate des Freiheitsentzugs und werden auf ihr Leben ausserhalb der Gefängnismauern vorbereitet.

Haus Lägern: In dem Gebäude mit Zellen, Aufenthaltsraum, Küche und Fitnesskeller arbeitet Romina Beeli seit Sommer 2017 als einzige Frau im Team.

Hier leben die Insassen die letzten Monate des Freiheitsentzugs und werden auf ihr Leben ausserhalb der Gefängnismauern vorbereitet.  Fotos Archiv JVA Pöschwies

In dem gesichtslosen Gebäude mit Zellen, Aufenthaltsraum, Küche und Fitnesskeller arbeitet Romina Beeli seit Sommer 2017 in einem 70-Prozent-Pensum als Sozialarbeiterin. Sie ist die einzige Frau im Team und betreut im Schnitt rund zehn Häftlinge. «Die Resozialisierung von Straftätern ist eine spannende und herausfordernde Aufgabe», sagt sie. Dies zum einen, weil der Auftrag zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft zunehmend in Widerspruch zum Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Verbrechern geraten ist. Zum anderen, weil wichtige biografische Weichenstellungen anstehen: Zusammenführung mit der Familie, Wohnungs- und Jobsuche – es sind alltägliche, aber auch aufreibende Angelegenheiten, die sie für die Insassen und mit ihnen erledigt. Bei der Suche nach einem Arbeitgeber bleibt ihr häufig nichts anderes übrig, als sich «so lange durchzutelefonieren, bis ich auf einen Chef stosse, der ein grosses Herz hat». Dass es praktisch immer kleine Firmen sind, die einem Vorbestraften eine Chance geben, stimmt sie nachdenklich.

Zweite Chance verdient

«Grundsätzlich hat jeder eine zweite Chance verdient», lautet auch das Credo von Romina Beeli. Die Gesellschaft tendiere dazu, Menschen anhand einzelner Problemstellen wie einer Sucht oder eines Delikts abzuqualifizieren anstatt sie als Ganzes zu betrachten. Aus diesen Worten spricht nicht nur ihr soziales Gewissen, sondern auch ihr intaktes Sendungsbewusstsein. Tatsächlich findet Romina Beeli, dass gerade an Bildungsstätten wie der ZHAW das Bewusstsein für die politische Bedeutung der Sozialarbeit viel stärker gefördert werden soll. «Sozialarbeiter sind das Sprachrohr von Menschen, die benachteiligt sind und keine Lobby haben», meint sie, «dies sollten wir nutzen.» Sozialpolitisch macht sie ihren Einfluss seit Frühling 2018 im Vorstand der Berufsvereinigung Avenir Social Sektion Zürich und Schaffhausen geltend, wo sie als stellvertretende Präsidentin für Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist.

«Die Frage, wer sich am Rand unserer Gesellschaft befindet, hängt hauptsächlich von der Perspektive ab.»

Daneben absolviert Romina Beeli seit Frühling 2018 im Teilzeitstudium den konsekutiven Master in Sozialer Arbeit. Mit ihrer Bachelorarbeit sorgte sie bereits weit über die ZHAW hinaus für Aufsehen. Es handelt sich um ein partizipatives Projekt mit Besuchern des Churer Stadtparks: Zusammen mit zwei Betroffenen und einem ehemaligen Sozialpädagogen konzipierte sie eine Stadtführung durch Chur, die sich um die Lebensgeschichten der Besucher dreht und auch von diesen geleitet wird. Der Rundgang führt an Orte, die in herkömmlichen Stadtführungen nicht gezeigt werden. Ziel der Arbeit mit dem Titel «Perspektiven-Wechsel» war es, «Vorurteile abzubauen und Berührungspunkte für verschiedene Schichten zu schaffen», sagt sie. Die Frage, wer sich am Rand unserer Gesellschaft befinde, hänge hauptsächlich von der Perspektive ab.

Ethikpreis für Bachelorarbeit

Das Werk wurde von der Katholischen Kirche des Kantons Zürich mit dem Ethikpreis ausgezeichnet. «Diese herausragende Arbeit verbindet theoretisch-ethische Reflexion mit ganz pragmatischen Vorschlägen, stigmatisierte Menschen einzubeziehen und zu entstigmatisieren», hiess es in der Laudatio. Noch gibt es die Stadtführungen erst auf Papier – Romina Beeli fehlte bislang die Zeit für die Umsetzung. Sie hat sich überlegt, das Konzept für die Realisierung abzugeben, doch dann wurde ihr klar, wie sehr es mit ihrer Person verbunden ist. Denn das Vertrauen der Menschen am Rand der Gesellschaft, das sie sich über all die Jahre erarbeitet hat, lässt sich beim besten Willen nicht teilen.

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