«Führungskräfte von morgen sollten sich in den Staat einbringen»
Die Krise als Brennglas: Resilienz, Nachhaltigkeit und Digitalisierung werden für die Wirtschaft in Zukunft sehr viel mehr Bedeutung haben, ist Martin Hirzel überzeugt. Der neue Präsident des Industrieverbandes Swissmem und Vorsitzende des Beirates der SML erklärt, was zukünftige Führungskräfte können sollten.
Anfang Jahr haben Sie das Amt als neuer Präsident des Industrieverbandes Swissmem angetreten – mitten in der anhaltenden Corona-Krise. Wie war die Stimmung in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie?
Martin Hirzel: Sehr unterschiedlich. Es gibt Branchen, wie etwa die Haushaltsgüter oder Pharmazulieferung, die ein sehr gutes Jahr 2020 erlebt haben, und auch die Lieferanten der Automobilindustrie haben im zweiten Halbjahr eine starke Erholung gespürt. Dagegen lief es in der Werkzeugmaschinenbranche schlecht und ganz katastrophal in der Flugzeugindustrie. Bezüglich des Jahres 2021 sind wir aber optimistisch. Im zweiten Halbjahr könnte ein schöner Aufschwung kommen – wenn die Impfungen in der Schweiz und in unseren Absatzmärkten wie Deutschland oder Asien auch breit umgesetzt werden.
Aber gerade bei den Impfungen hat sich, nach einer Euphorie Ende 2020, eine gewisse Ernüchterung breitgemacht. Sie geht nicht so schnell voran wie erhofft …
Diese Pandemie ist etwas in unserer Generation noch nie Dagewesenes. Dass es da zu gewissen Problemen und Herausforderungen kommen kann, überrascht mich nicht. Wir in der Industrie wissen, wie anspruchsvoll es ist, neue Produktionskapazitäten in kurzer Zeit aufzustellen. Doch es ist nun Aufgabe des Staates, die Impfkampagne zum Erfolg zu bringen.
«Interessant ist aber auch das gestärkte Bewusstsein für Nachhaltigkeit. Man hätte auch denken können, dass sich die Prioritäten in der Krise verändern.»
Vor einem Jahr, bei Beginn der Pandemie, kam der Begriff der «neuen Normalität» auf, als Beschreibung des Lebens in der Krise der Pandemie. Gibt es sie, die neue Normalität in der Wirtschaft?
Die erste Erkenntnis ist: Wenn wir zum Tunnel rausfahren, wird die Landschaft eine andere sein als bei der Einfahrt. Krisen sind immer Wendepunkte einer Geschichte. Die Krise hat aber auch gute Nachrichten gebracht: Die soziale Marktwirtschaft – oder das Wort, das man nicht mehr so gerne braucht, der Kapitalismus – hat funktioniert. Innovationen und Investitionen der Privatwirtschaft haben in kürzester Zeit einen Impfstoff hervorgebracht und werden uns jetzt aus dieser Krise helfen.
Aber die Wirtschaft wurde in vielen Bereichen stark unterstützt vom Staat und die Impfstoffentwicklung von den Staaten mitfinanziert …
Und trotzdem ist ein Learning, dass die Marktwirtschaft funktioniert. Und ja, eine weitere Lehre ist, was Sie sagen: Das Schweizer Modell einer liberalen Wirtschaftsordnung mit sozialen Auffangnetzen hat sich bewährt. Namentlich Kurzarbeit, schnelle und unbürokratische Hilfe mit Covid-Krediten und Härtefallregelungen. Wir dürfen auf ein effizientes Zusammenspiel setzen. Die Gesamtwirtschaft in der Schweiz kommt so besser durch die Pandemie als in anderen Ländern.
Wie wird denn die Landschaft am Ende des Tunnels aussehen?
Was die neue Normalität, oder sagen wir die Krise, auch bewirkt, ist eine Beschleunigung von Trends. Resilienz wird relevanter sein, und die Digitalisierung hat einen Schub erlebt. Wir haben jetzt gelernt, mit digitalen Werkzeugen umzugehen, zum Beispiel im Homeoffice. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf haben wir in extremis praktiziert und geübt. Interessant ist aber auch das gestärkte Bewusstsein für Nachhaltigkeit. Das war nicht selbstverständlich. Man hätte auch denken können, dass sich die Prioritäten in der Krise verändern.
«Es darf nicht sein, dass es für eine wichtige Komponente nur einen Lieferanten gibt und dieser vielleicht noch weit entfernt produziert.»
Wie müssen Unternehmen resilienter werden?
Bezüglich der Lieferketten: Es darf nicht sein, dass es für eine wichtige Komponente nur einen Lieferanten gibt und dieser vielleicht noch weit entfernt produziert. Redundanzen sind sehr wichtig. Auch das Ausreizen der tiefen Lagerbestände, das Just-in-Time-Konzept, wird wohl mancher hinterfragen müssen. Unternehmen sollten zudem auch ihre Geschäftsmodelle durchdenken, ob diese den Anforderungen der «neuen Normalität» noch standhalten.
Bei vielen Produkten, auch im Medizinalbereich, hat man eine starke Abhängigkeit von Herstellern aus Asien festgestellt und auch kritisiert. Soll man wieder mehr Produktion in die Schweiz zurücknehmen, um unabhängiger zu sein?
Ich glaube nicht, dass es zu einer Deglobalisierung und der Rückverlagerung der Produktion kommen wird. Wir hatten im letzten Jahr immer genug Waren. Die sehr komplexen Lieferketten mit den verschiedensten Produktionsstandorten funktionierten auch in der Krise. Doch es gab Engpässe in der Logistik, bei der See- und Landfracht wie bei den Flugkapazitäten. Die Transportkosten verteuerten sich stark. Hier lag die Herausforderung.
Sie haben für Aufsehen gesorgt mit Ihrer Kritik an der bundesrätlichen Homeoffice-Pflicht. Ist die Frage des Homeoffice denn relevant für den Geschäftsgang der Schweizer Unternehmen?
Da, wo es sich umsetzen liess, war das Homeoffice ja gar keine Diskussion. Zudem haben wir an den Arbeitsplätzen bereits sehr gute Schutzkonzepte. Doch in der Industrie können Schnittstellenprobleme entstehen. In der Produktionsplanung oder im Engineering zum Beispiel muss man eng abgestimmt zwischen Büro und der Produktion zusammenarbeiten. Virtuell zu kommunizieren, kann zu Ineffizienz führen. Es leidet aber auch die Innovationskraft – einer der Pfeiler der MEM-Industrie. Innovation lebt vom Austausch heterogener Teams, und das funktioniert höchst erschwert über Videokonferenzen. Das ist sicher ein Risiko der Homeoffice-Pflicht. Hier werden wir noch sehen, wie wir aus der Krise kommen.
«Zur Nachhaltigkeit gehört auch, dass Führungskräfte von morgen gute Beziehungen aufbauen, Diversität fördern und Sinn vermitteln müssen – und sie müssen sich auch vermehrt wieder in den Staat einbringen.»
Sie sind auch Vorsitzender des Beirats der School of Management and Law: Welche Kompetenzen brauchen die Wirtschaftsakteure von morgen?
Unverändert wichtig ist ein fundiertes Fachwissen in Betriebswirtschaft. Eine Führungskraft soll auch dazu bereit sein, dass sie konstant neues Wissen erwerben muss. Ebenso ist Selbstkompetenz entscheidend. Wichtig auch: Wie führt man in der digitalen Welt? Und in Zeiten dieser neuen Normalität ist das Thema Nachhaltigkeit stärker in den Vordergrund gerückt. Kennzahlen zu bestimmen, zu messen und Aktionen auszulösen, das darf nicht nur für Finanzzahlen im Geschäftsbericht gelten, sondern auch für Ziele bezüglich Umwelt, des Sozialen und guter Unternehmensführung im Nachhaltigkeitsbericht. Eine Hochschulabgängerin oder ein Hochschulabgänger muss beides beherrschen. Dieses Wissen ist sicher etwas, was man noch ausbauen sollte. Zur Nachhaltigkeit gehört auch, dass Führungskräfte von morgen gute Beziehungen aufbauen, Diversität fördern und Sinn vermitteln müssen – und sie müssen sich auch vermehrt wieder in den Staat einbringen.
«Dieser unsägliche Shareholder-Value-Ansatz der neunziger Jahre hat gerade in entwickelten Ländern bei vielen Menschen ein Gefühl des Verlierens provoziert, was politisch in den Populismus geführt hat.»
Führungskräfte sollen politisch aktiv sein?
Der Staat, eine mündige Zivilgesellschaft und eine gelebte Demokratie sind wichtig für das Funktionieren der Marktwirtschaft. Denn so gut die Marktwirtschaft funktioniert hat, so hat sie doch zwei Schwachstellen offenbart: Die eine ist der Schutz von Klima und Umwelt. Die andere ist gesellschaftlicher Art: Dieser unsägliche Shareholder-Value-Ansatz der neunziger Jahre hat gerade in entwickelten Ländern bei vielen Menschen in der Gesellschaft ein Gefühl des Verlierens provoziert, was politisch in den Populismus geführt hat. Genau deshalb dürfen wir nicht das System in Frage stellen, sondern müssen gemeinsam Lösungen für diese Probleme finden. Ohne persönliches Engagement von Leadern geht das nicht. Deshalb sollten sich Führungskräfte vermehrt gesellschaftlich engagieren und zu politischen Vorlagen Stellung nehmen. Und das zu vermitteln, ist auch Aufgabe der Hochschule.
Sie unterrichten auch im Master of Business Administration der SML: Wie haben Sie als Dozent das Corona-Jahr 2020 erlebt?
Auch so, wie wir jetzt miteinander sprechen: per Video. Fürchterlich. Online zu unterrichten, ist sehr anspruchsvoll. Die Kameras der Teilnehmenden sind oft aus Kapazitätsgründen abgeschaltet. Also rede ich mit mir selber und mit einer Powerpoint-Präsentation. Ich nehme normalerweise aus dem Klassenraum auch sehr viel für mich mit. Diese persönliche Interaktion und das Spontane fehlen in einer Video-Vorlesung. Was erstaunlich ist: Die SML hat in der Weiterbildung im letzten Jahr ein Wachstum verzeichnen können – sogar unter diesen Bedingungen.
Die Corona-Krise war sicher auch ein Thema in den Lektionen des MBA …
Ja, tatsächlich. Deglobalisierung und Produktionsrückverlagerung waren klar die grossen Themen. Werden in grossem Stil Fabriken in Asien abgebaut, weil man durch Digitalisierung und Automatisierung eher in der Schweiz produzieren kann? Solche Fragen hat mir früher nie jemand gestellt.
Und was würden Sie jungen Bachelorstudierenden mit auf den Weg geben?
Was ich raten würde? Vernetzen Sie sich. Bleiben Sie offen für alle Optionen. Lernen Sie ein Handwerk von der Pike auf – wir brauchen Menschen, die das Gesamtbild haben und alle Prozesse kennen. Die Wissenschaft alleine kann die Lösungen für die Probleme in Gesellschaft und Wirtschaft nicht schaffen. Es braucht ein Zusammenspiel. Und ich würde jedem und jeder Absolvierenden empfehlen, eine Firma zu wählen, die verschiedenste Funktionen und auch Arbeiten im Ausland ermöglicht.
Zur Person
Martin Hirzel ist seit Anfang Jahr Präsident von Swissmem, dem Schweizer Verband der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie. Der 51-Jährige kann auf eine lange Karriere in der Industrie bis hin zum CEO eines Milliardenkonzerns zurückblicken: Nach der KV-Lehre und dem Studium der Betriebswirtschaft an der Höheren Wirtschafts- und Verwaltungsschule HWV – der Vorgängerin der School of Management and Law – startete er 1997 als leitender Controller beim Winterthurer Industriekonzern Rieter. «Es war ein Bildungsweg, der mir Perspektiven ermöglicht hat, die ich sonst nie erlangt hätte», sagt Hirzel, der ein leidenschaftlicher Verfechter des dualen Bildungssystems ist. Bei Rieter baute er das China-Geschäft auf, zuerst für die Textilmaschinendivision, danach für die Automobilsparte. Nach der Aufspaltung des Rieter-Konzerns wurde er 2011 CEO der neuen börsenkotierten Autoneum, die er bis Ende 2019 führte. Hirzel ist Anfang 2021 in seiner Funktion als Swissmem-Präsident auch Vizepräsident des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse geworden, weiter ist er Mitglied der Verwaltungsräte von Bucher Industries und Dätwyler Holding sowie im regionalen Wirtschaftsbeirat der Schweizerischen Nationalbank.
Seit gut sieben Jahren engagiert sich Hirzel zudem im internationalen Beirat der School of Management and Law, seit drei Jahren ist er dessen Vorsitzender. Er sieht seine Rolle darin, der Hochschule einen Zugang zu einem Netzwerk von Führungspersönlichkeiten zu verschaffen und «ehrliche Impulse und Feedbacks zu geben», was die Wirtschaft an Kompetenzen bei den Absolvierenden braucht. Überrascht hätten ihn das enorme Wachstum der Hochschule, die Breite des Angebotes, die zunehmende Forschung sowie das gestiegene Image – die SML wurde vor kurzem von der «Financial Times» in ihr Ranking der besten Business Schools Europas aufgenommen. Er legt allerdings Wert auf die Differenzierung zwischen einer Fachhochschule und einer klassischen Universität: «Die USP, die Unique Selling Proposition, ist der Praxisbezug – wir müssen keine zweite HSG werden», sagt Hirzel.
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