Gesund, leistungsfähig – und Ü50

22.03.2022
1/2022

Fachkräftemangel und die Sicherung des Vorsorgesystems: Beide Aspekte münden in der Forderung nach einem längeren Verbleib im Arbeitsleben. Doch nur wer gesund ist und sich gesund fühlt, kann auch über das Rentenalter hinaus leistungsfähig bleiben. Das fordert Führungskräfte und Personalverantwortliche.

Ein Haus mit vier Stockwerken – so hat der finnische Wissenschaftler Juhani Ilmarinen die Arbeitsfähigkeit im Unternehmen visualisiert. Sein «Haus der Arbeitsfähigkeit» hat er als Beratungsmodell seit 2004 entwickelt, und es wird auch heute von Personalverantwortlichen angewandt.

Es will Antworten auf die Fragen geben, welche Einflussfaktoren hinter einem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben liegen beziehungsweise was dazu führen kann, damit Menschen länger im Erwerbsleben bleiben. Im ersten Stockwerk seines Hauses ist die Gesundheit angesiedelt. Im zweiten Stockwerk befinden sich Berufskenntnisse und -kompetenzen, im dritten Werte, Einstellungen und Motivation, und das oberste Stockwerk ist für die Arbeitsumgebung und die Führung reserviert. Das Dach ist dann das Ergebnis: die Arbeitsfähigkeit.

«Das Modell zeigt sehr gut auf, warum Arbeitgeber ein grosses Interesse an Gesundheitsthemen haben sollten», sagt Isabel Baumann. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Public Health am Departement Gesundheit und hat in einem vierjährigen Projekt den Einfluss eines längeren Arbeitslebens auf die Gesundheit untersucht.

Denn bei der Diskussion der Erhöhung und Flexibilisierung des Rentenalters in der Schweiz werde ein Aspekt meist vernachlässigt: die Gesundheit der älteren Arbeitnehmenden, ist Baumann überzeugt. «Ein flexibles Rentensystem führt nicht automatisch dazu, dass mehr ältere Menschen länger arbeiten», sagt sie. Für ältere Arbeitnehmende kann eine Verlängerung des Arbeitslebens eine Herausforderung sein.

Frühpensionierungen wegen gesundheitlicher Probleme

Auch wenn heute bereits gut 20 Prozent der Beschäftigten über das Pensionsalter hinaus arbeiten, so ist der Anteil der Frühpensionierungen doch doppelt so hoch: Gemäss Bundesamt für Statistik (BfS) haben sich im Zeitraum 2016 bis 2020 gut 39 Prozent der Arbeitnehmenden frühzeitig pensionieren lassen. Und als Grund für die frühzeitige Pensionierung werden meist gesundheitliche Probleme angegeben, wie Untersuchungen gezeigt haben.

Mit steigendem Druck in der Arbeitswelt zählen dazu immer mehr auch Stresssymptome, Erkrankungen des Bewegungsapparates, Erschöpfungszustände und psychische Beschwerden. Es gilt also, gesundheitlich belastende Aspekte der Arbeit zu reduzieren und den Verbleib in der Arbeitswelt generell attraktiver zu machen.

«Der zunehmende Arbeitsdruck durch die Digitalisierung hat ein grosses Potenzial für Abnützungserscheinungen»

Isabel Baumann, Institut Public Health

«Was braucht ihr, um bis zur Rente bei uns zu arbeiten?», wurden die Arbeitnehmenden von Liebherr-Haushaltsgeräte im Jahr 2013 gefragt. Die deutsche Gesellschaft der Schweizer Firmengruppe Liebherr International hatte das Modell von Ilmarinen am deutschen Standort Ochsenhausen als Pilotprojekt mit dem Ziel gestartet, die Arbeitsfähigkeit und das Wohlbefinden der älteren Beschäftigten zu stärken und bis zur Rente zu erhalten.

Seither wurden diverse Massnahmen umgesetzt, wie im jüngsten Corporate-Responsibility-Bericht von 2019 beschrieben wird: Beispielsweise wurden die Akkordzeiten an den Produktionsinseln limitiert, um die unterschiedlichen Arbeitsweisen älterer und jüngerer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Einklang zu bringen, die Pausenzeiten angepasst und noch stärker auf ergonomische Aspekte geachtet. Der Produktionsprozess wurde ruhiger und kontinuierlicher ausgelegt, und es wurde weniger Fokus auf die Stückzahl gelegt. Die Aktivitäten wurden auf den administrativen und kaufmännischen Bereich ausgeweitet und auch bereits in einem weiteren Produktionsstandort umgesetzt.

«Aus Sicht der Gesundheitsförderung und -prävention sind selektive Interventionen sinnvoller.»

Isabel Baumann, wissenschaftliche Mitarbeiterin Institut für Public Health

Zielgruppengerechte Gesundheitsmassnahmen

Das ist eher die Ausnahme: Obwohl heute in der Schweiz zwar schon viele gesundheitsförderliche Massnahmen am Arbeitsplatz umgesetzt werden, werde dabei aber nur selten auf die spezifischen Bedürfnisse älterer Beschäftigter eingegangen, sagt Baumann und bezieht sich hier auf Ergebnisse einer Bachelorstudie von Jasmine Suter zur betrieblichen Gesundheitsförderung bei über 50-jährigen Mitarbeitenden. Die Begründung laute oft, dass dies als diskriminierend empfunden werden könnte. Isabel Baumann hält dagegen: «Aus Sicht der Gesundheitsförderung und -prävention sind selektive Interventionen sinnvoller.»

Denn die Gesundheitsbedürfnisse ändern sich im Verlauf des Arbeitslebens: Tägliche Routinearbeit wirkt sich mit zunehmendem Alter in Abnützungserscheinungen aus. Nicht nur bei körperlicher Arbeit: «Der zunehmende Arbeitsdruck durch die Digitalisierung hat ein grosses Potenzial für Abnützungserscheinungen», sagt Baumann.

Mit den älteren Beschäftigten reden

Altersgerechte Massnahmen können das Recht auf Teilzeitarbeit, Stellenwechsel innerhalb des Betriebs, Job-Rotation und vermehrte Erholungsmöglichkeiten sein, lauten die Empfehlungen in der Studie von Jasmine Suter. Ihr Rat an Führungskräfte und Personalverantwortliche: eine zielgruppengerechte Prävention in Kombination mit einer nicht-diskriminierenden Kommunikation. Zum Beispiel, indem ältere Beschäftigte die Massnahmen mitgestalten können. «Das Wichtigste ist, mit den Menschen zu reden», so Baumann. Denn Gesundheit ist ein subjektives Empfinden, das Gesundheitsgefühl relativ – und jeder hat andere Ressourcen, auf die er zurückgreifen kann.

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