
Gutes tun mit Businessmodell
Bora Polat hat zusammen mit seiner Lebenspartnerin das Social-Impact-Unternehmen «Valeriana» ins Leben gerufen, das Frauen mit Migrationshintergrund ein Einkommen und eine Gemeinschaft bietet.
Auf den ersten Blick würde man es nicht für ein Büro halten. Die umfunktionierte Altbauwohnung im oberen Stock der Quartierbeiz «Nordbrüggli» in Zürich Wipkingen erinnert eher an ein Wohnzimmer. Bora Polat sitzt am Tisch und tippt eifrig auf seinem MacBook. Im Verlauf des Gesprächs wird sich zeigen, dass dieses Bild die Philosophie des Unternehmens ziemlich gut auf den Punkt bringt: moderne Technologie, kein Schnickschnack, heimelige Atmosphäre. Kaum hat Polat Wasser, kurdischen Kaffee und Olivenblättertee von seinem kürzlichen Zypern-Aufenthalt serviert, sprudeln die Geschichten nur so aus ihm heraus. Eine Anekdote hier, ein Fun Fact da – wo war er gleich nochmal stehen geblieben? Polats rasantes Erzähltempo scheint nicht mit der Geschwindigkeit seiner Gedanken Schritt halten zu können. Die Anglizismen und Fachwörter, die er dabei gerne verwendet, stehen in einem witzigen Kontrast zu seinem breiten Toggenburger Dialekt. Egal, ob er über Venture Philanthropy spricht oder seinen Hund begrüsst – bei allem, was er tut, dringt eine grosse Herzlichkeit durch.

Einkommen und Gemeinschaft
Valeriana ist eine Plattform, die verschiedene Dienstleistungen für den Haushalt anbietet. Sie beschäftigt ausschliesslich Frauen mit Migrationshintergrund. Die Idee dafür hatte Polats Ehefrau Salomé Fässler. Sie wollte Polats Mutter Hatun die Möglichkeit bieten, mit Näharbeiten etwas zu verdienen. Ohne viel zu überlegen, setzte sie eine Website auf und nannte sie «Nadel und Faden». Bereits in der ersten Woche trafen die ersten Aufträge ein. «Wir hatten noch nicht einmal ein Pricing», schmunzelt Polat. Hatun kümmerte sich um die Kleidung, und die Kundschaft freute sich über den Dienst mit persönlicher Note. Polats Mutter erzählte ihren Freundinnen davon, und es zeigte sich schnell, dass sich viele Frauen eine solche Verdienstmöglichkeit wünschten. Auch die Kundinnen und Kunden empfahlen die Plattform eifrig weiter. Bald wurde das Dienstleistungsangebot erweitert, etwa um Reinigung, Wäscheservice und Besorgungen. Heute wird vor allem die Reinigung gebucht.
Valeriana ist aber mehr als eine reine Arbeitsvermittlungsplattform. Die Frauen sind fest angestellt, erhalten einen Stundenlohn von bis zu 30 Franken und sind sozialversichert. Sie profitieren von firmeninternen Deutschkursen, Hilfe bei administrativen Belangen und vor allem: Sie sind Teil einer Gemeinschaft. «Integration ist uns ein wichtiges Anliegen», beteuert Polat. «Viele Frauen mit Migrationshintergrund sind finanziell abhängig – entweder von ihren Männern oder vom Staat – und sozial isoliert. Mangelnde Sprachkenntnisse erschweren die soziale Integration, nicht anerkannte Ausbildungen die wirtschaftliche. Dadurch liegt eine enorme wirtschaftliche Kapazität brach. Von den Auswirkungen der Einsamkeit ganz zu schweigen.» Um die Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Arbeitseinsätzen zu ermöglichen, setzt Valeriana auf ein flexibles Konzept. Die Frauen können in ihrem Profil in der App klar eingrenzen, wann sie Zeit haben und für welchen Arbeitsweg sie bereit sind. Künstliche Intelligenz verteilt die Aufträge gerecht auf die Mitarbeiterinnen und berücksichtigt dabei deren Auslastung sowie die Standorte ihrer anderen Kundinnen und Kunden.
«Es gibt nichts Einfacheres, als mit Geld noch mehr Geld zu machen. Was mich reizt, ist, etwas Sinnvolles zu tun.»
Unternehmertum im Blut
Der Fokus auf die Integration kommt nicht von ungefähr. 1991 flüchtete die kurdische Hatun mit Bora und seinen beiden Geschwistern aufgrund der politischen Lage aus der Türkei in die Schweiz. Am eigenen Leib zu erfahren, wie schwierig es ist, sich in einem fremden Land ein Leben aufzubauen, hat Polat geprägt. Schon als Kind nahm er die Zügel gerne selbst in die Hand. Sein erstes Geld verdiente er mit elf Jahren. «Ich sparte für einen Computer – eines dieser Riesendinger der Neunzigerjahre», erzählt er lachend. «Ich war schon früh technisch interessiert, habe alles auseinandergeschraubt und wieder zusammengesetzt.» Mit siebzehn zog er von zu Hause aus. Während der Lehre zum Polymechaniker arbeitete er zusätzlich in einem Call-Center und bildete sich mit Abendkursen weiter. Vor allem das Programmieren hatte es ihm angetan. Eigentlich wollte er Ingenieur werden, entschied sich dann aber für «Corporate Finance» an der Ostschweizer Fachhochschule. «Mich interessierte schon immer das Praktische, das grosse Ganze, nicht die Details – als wir im Studium Buchhaltung durchnahmen, begriff ich kein Wort», erinnert er sich.
Nach dem Bachelor absolvierte er den Masterstudiengang «Banking and Finance» an der ZHAW. «Aus meinem Austauschsemester in Aix-en-Provence wurde dann ein längerer Frankreich-Aufenthalt, denn ich begann spontan noch ein zweites Masterstudium und fand einen Job in einem Internet-Startup.» Danach gründete er in Marseille sein erstes eigenes Unternehmen im Bereich Digital Advertising, expandierte mit dem Unternehmen in mehrere Länder und lebte dabei als früher digitaler Nomade. Der Wunsch, seiner Familie näher zu sein, brachte ihn zurück in die Schweiz, wo er Montemedia, ein Werbeunternehmen, gründete. «Damit lief ich erst voll gegen die Wand», erzählt Polat. «Ich war überzeugt, dass personalisiertes digitales Marketing die Zukunft ist – hatte es ja in den Jahren zuvor erfolgreich in mehrere Länder gebracht –, aber in der Schweiz fand ich lange keine Kunden. Im Nachhinein weiss ich, dass ich einfach zu früh dran war.» Es war das Jahr 2012 und die Schweiz noch nicht bereit für datenbasierte Technologien.

Skalierbar muss es sein
So musste sich Polat lange seinen Lebensunterhalt mit verschiedenen Projekten verdienen. Auch Valeriana finanzierten er und Fässler lange aus der eigenen Tasche. Dies sei aber kein Problem, denn er sei vielseitig interessiert und gut vernetzt, vor allem in der Startup-Szene. Neue Projekte ergeben sich immer wieder, insbesondere für Beratungsmandate wird er gerne gebucht. «Es gibt nichts Einfacheres, als mit Geld noch mehr Geld zu machen. Was mich reizt, ist, etwas Sinnvolles zu tun. Tu Gutes – aber mit Businessmodell!» Um ein Social-Impact-Unternehmen zu betreiben, sei Skalierbarkeit das Wichtigste. «Valeriana funktioniert heute, weil wir immer in die Prozessoptimierung investiert haben. Mittlerweile ist es praktisch ein Selbstläufer.» Die Vermittlung der Aufträge und sämtliche administrativen Abläufe erfolgen automatisch. Zwei Programmierer stellen die Verfügbarkeit des Systems sicher. «Nur das Menschliche haben wir menschlich gelassen», betont Polat. Etwa 50 Frauen sind derzeit eingestellt. «Die Valerianas identifizieren sich sehr stark mit dem Unternehmen und sind stolz auf das, was sie tun. Einige haben den Sprung in andere Jobs geschafft, bezeichnen uns aber weiterhin als ihre Familie.» Gemeinsame Veranstaltungen wie Kleiderbörsen, ChatGPT-Workshops oder Spaziergänge durch die Heimat via Google Maps sind für die Frauen besondere Highlights.
Mittlerweile sind verschiedene Institutionen auf Valeriana aufmerksam geworden. Die regionalen Arbeitsvermittlungszentren melden Frauen bei ihnen an, eine Stiftung wählte sie unter mehreren europäischen Social-Impact-Unternehmen für eine grosszügige Spende aus und die Stadt Wien hat Interesse an ihrem Konzept gezeigt. «Damit hätten wir nie gerechnet. Wir haben ja nicht einmal ein Marketingbudget», sagt Polat. «Valeriana ist rein durch Weiterempfehlungen gewachsen. Aber ich bin überzeugt: Wenn dein Engagement aufrichtig ist, ist Storytelling das beste Marketing.»
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