Hochschulen müssen nicht agiler, sondern kreativer sein
Wie agil können Hochschulen sein? Werden Sie sich am Ende zu offenen Plattformen entwickeln, die es Gruppen erleichtern, sich zu versammeln? In ihrem Meinungsbeitrag fordert Elena Wilhelm, Leiterin Hochschulentwicklung der ZHAW, nicht mehr Agilität, sondern mehr Kreation und Innovation.
Es gibt eine Zukunftsutopie der Hochschule, in der die Kompetenzorientierung auf die Spitze getrieben wird. Die Bewegung zielt mit der Gesinnung «Lernen ohne Lehren» auf ein selbstbestimmtes, selbstgesteuertes und intrinsisches Lernen. Die Hochschuldozentin und der Hochschuldozent spielen an der neuen Hochschule nur noch eine Nebenrolle als Lerncoach, als Moderatorin des Lernprozesses, als Bildungsentertainer, als Entwicklungshelferin oder als Lernumgebungsgestalterin (Burow & Gallenkamp, 2017). Der deutsche Soziologe Dirk Baecker versteht unter der offenen, agilen Hochschule ein Konzept, in welchem die vertikalen auf horizontale Strukturen umgestellt werden (2017). Die Hierarchie wird ersetzt durch eine agile Auseinandersetzung mit Komplexität in Form von Projekten.
Die Hochschule wird zum Treibhaus
Am Ende ist die Hochschule eine Plattform und eine technische Infrastruktur. Ein «empty diagram», «stage», «interface», wie Baecker sie beschreibt. Zugleich: Programm, Protokoll und Register (vgl. ebd., 2017, S. 26). Ein ähnliches Konzept schlug Patrick Masson, Direktor des Open Education Consortiums und Special Advisor der University of Massachusetts 2012 vor. Auch bei ihm ist die agile Hochschule am Ende nur noch eine Plattform, die es interessierten Menschen erleichtert, sich zu versammeln.
Die Hochschule wird zur Agora oder zu einem «Treibhaus», wie es Barton Kunstler beschrieben hat (2005). Sie bietet ein Umfeld, in dem kreative und innovative Aktivitäten gedeihen. Ihre Grenzen sind durchlässig und der Ein- und Ausstieg der «Teilnehmenden» ist simpel, denn die agile Hochschule als Plattform hat keine formalen Zulassungsprozesse. Die Aktivitäten, die innerhalb der Plattform stattfinden, sind ungeplant und werden durch die Interaktionen zwischen den «Bewohnerinnen und Bewohnern» der Plattform stets neu bestimmt. Die Plattform ist instabil (Masson nennt es «proteisch») und veränderbar. Aktivitätscluster werden geboren, leben, gedeihen und sterben. Eine solchermassen agile Hochschule besteht also aus freiwilligen Vereinigungen von Dozierenden und Studierenden. Die Curricula sind selbstorganisiert und fliessend – basierend auf den Interessen der Fakultäten, Departemente und Institute sowie auf den Bedürfnissen der Studierenden.
Keine Diplome, nur Zertifikate
Die agile Hochschule vergibt auch keine Diplome mehr, aber ihre Departemente vergeben individuelle Zertifikate. Die agile Hochschule fördert Spiel, Misserfolg und Experiment und macht alles in ihr geschaffene Wissen für jeden frei zugänglich. Es gibt keine Semester und das Lehren und Lernen ist eine fortlaufende Tätigkeit. Die agile Hochschule ist nicht ganz frei von Führung. Sie wird aber nicht durch Planung geführt, sondern durch Koordination. Die Rektorin oder die Präsidentin ist Gastgeberin und «Choice Architect». Sie führt über «Kultivierung und Fürsorge» und nicht über «Führung und Kontrolle». Und vor allem liebt sie Überraschungen.
Eine solche Hochschulutopie ist übrigens in vielen Zügen gar nicht neu. Bereits in den 1960er Jahren hat beispielsweise Clark Kerr, damals Rektor der University of California, die «Multiversity» entworfen: Eine multiple, offene, flexible, permanent grenzüberschreitende, unternehmerische Hochschule (Kerr, 2001; zitiert in: Von Wissel, 2007, S. 277) .
Selbstbestimmt und selbstorganisiert
Prototypen einer Hochschule mit offenen Curricula sind die CODE University of Applied Sciences in Berlin (CODE) und die Ecole 42 in Paris und im Silicon Valley. Die Studierenden lernen vollkommen selbstbestimmt und selbstorganisiert (siehe Box weiter unten).
Meines Erachtens vermögen die Konzeptionen für eine agile Hochschule nicht restlos zu überzeugen. Bildung ist immer auch mit einem Ethos der Anstrengung und des Übens verbunden. Studentin oder Student zu sein, heisst nicht primär, nach persönlichem Gusto aus einem Angebot das zu wählen, was einem gefällt, sondern auch zuzuhören, sich etwas zeigen und vermitteln zu lassen, auch etwas tun zu müssen, was nicht frei gewählt wurde. Bildung besteht in der subjektiven Aneignung objektivierter Kultur, die vor uns da war und nach uns sein wird. Bildung befähigt, an der kulturellen Welt zu partizipieren (vgl. Reichenbach, 2016, S. 3). Studierende sind keine Individualkunden, die sich ihre «eigene Welt» bilden. Bildung geschieht in Wechselwirkung mit der Welt. Das bedeutet, dass Vergesellschaftung notwendig und unausweichlich die andere Seite der Bildung darstellt (vgl. Tenorth, 2020, S. 59). Bildung ist immer gleichzeitig Individuierung und Vergesellschaftung.
Sechs Antithesen zu «Lernen ohne Lehren»
Die folgenden sechs Thesen halte ich der Bewegung «Lernen ohne Lehren» entgegen:
1. Agile Organisationen werden an einem Übermass an interner Unsicherheit scheitern. Die Verpflichtung zur Agilität schafft Unsicherheit und neue Machtfelder. Hierarchie und klare Kompetenzaufteilung stehen als Regulierungsmechanismen nicht mehr zur Verfügung. Es braucht permanente Aushandlungsprozesse, die zu einer Dauerpolitisierung der internen Entscheidungen führen (Kühl 2015a, S. 23). Vermeintliche Vereinfachungsstrategien führen zu einer wachsenden Komplexität, die als solche jedoch nicht wahrgenommen werden kann (Kühl 2015a, S. 9). Beim Agilitätskonzept handelt es sich um die Neuverpackung von postbürokratischen Organisationsprinzipien, die seit langer, langer Zeit bekannt sind. Von teilautonomen Arbeitsgruppen wurde schon vor Jahrzehnten gesprochen (Fotilas 1980, Antoni 1996). Die Forderung nach einer Enthierarchisierung von Organisationen findet sich bereits bei der Managementvordenkerin Mary Parker Follett, die in den 1940er Jahren forderte, dass die vertikale Autorität in Organisationen durch eine horizontale Autorität ersetzt werden müsse (1941, S. 158; zitiert in: Kühl 2015a, S. 10).
2. Es gibt keine grosse Organisation und keine Hochschule, die ohne Hierarchie auskommt. Organisationen und Hochschulen basieren nach wie vor in erheblichem Ausmass auf dem Hierarchieprinzip und werden dies auch in Zukunft immer tun. Das ist allerdings keine Verteidigung von zu steilen hierarchischen Gefällen an Hochschulen und des akademischen Prekariats, sondern viel mehr ein Plädoyer für eine mit relevanter Kompetenz ausgestattete, starke Hochschulleitung, die sich für die Gesamtbelange einer Hochschule einsetzt und einsetzen kann.
3. Organisationen, die Entscheidungskompetenzen dezentralisieren, sehen sich mit grundlegenden Koordinationsproblemen konfrontiert (Kühl 2015b, S. 10). Je mehr die Einheiten einer Organisation sich verselbständigen, desto dringender und gleichzeitig komplizierter wird die Integration dieser Einheiten in die Gesamtorganisation. Die Aufteilung in autonome, kleine Einheiten führt in der Tendenz zu einer kleinschrittigen Innovationspolitik und beinhaltet die Gefahr, dass an verschiedenen Stellen in einer Organisation die gleichen Kompetenzen aufgebaut werden.
4. Agilität löst das Hauptproblem des Kreations- und Innovationsmangels nicht. Agilität, wie sie mehrheitlich gefasst wird, ist im Grunde eine Form der Passivität gegenüber der Umwelt. Es geht aber nicht nur um Anpassung, sondern auch um aktive Transformation (vgl. Silberzahn, 2017).
5. Wir brauchen demnach nicht mehr Agilität, sondern vor allem mehr Kreation und Innovation. Wir müssen diejenigen Bereiche der Hochschule eruieren, die Transformation erfordern. Das sind meines Erachtens insbesondere die Bereiche Bildung und Infrastrukturen. Wir müssen die Inhalte und Formate unserer Bildungsangebote individualisieren und flexibilisieren. Im Bereich Infrastrukturen werden Zusammenschlüsse zwischen verschiedenen Hochschulen und der Industrie an Bedeutung gewinnen. Aufbau und Pflege von interorganisationalen Beziehungen werden zu einer der wichtigsten Aufgabe einer Hochschulleitung. Konkurrieren bedeutet heute, die eigene Hochschule in einem Netzwerk klug zu positionieren. Eine funktionale Arbeitsteilung unter den Hochschulen und die Schwerpunktsetzung von Hochschulen werden relevanter.
6. Für die Dynamisierung und Flexibilisierung der Hochschulprofile ist ihr regionaler Bezug massgebend. Das Profil einer Hochschule oder eines Hochschulverbundes lebt von der Symbiose mit den regionalen, sozialen und wirtschaftlichen Realitäten. Regionale Innovationssysteme werden an Bedeutung zunehmen. Anwendungsorientierte Forschung wird zunehmend zur industriegetriebenen Anwendungsentwicklung, die Hochschule wird Fabrikationsort. Sie wird zur Fabrik, zum Atelier. Wir müssen aber als Hochschule – auch als Fachhochschule – gleichzeitig die Grundlagenforschung und auch den Elfenbeinturm als Metapher für einen geschützten Rückzugsort der Wissenschaft dringend verteidigen.
Vier für Hochschulen zentrale Aspekte von Agilität
Auch wenn ich nicht an die Utopie der «Hochschule als offene Plattform» glaube, so bietet sie dennoch sehr anregende und weiterzuverfolgende Ideen. Vor allem die folgenden vier Aspekte von Agilität erachte ich für Hochschulen als zentral:
Erstens die Notwendigkeit der Delegation ausgewählter Entscheidungskompetenzen nach unten und damit die Vereinfachung und Beschleunigung gewisser Abläufe. Die Entwicklung von Bildungsangeboten wird künftig flinker und spontaner sein müssen.
Zweitens ein Verständnis von Strategie als Bewegung und nicht als Programmatik. Sie muss eine explorative und experimentelle Heran- und Vorgehensweise unterstützen und begünstigen sowie langfristig und evolutiv angelegt sein.
Drittens das punktuelle Experimentieren mit Massons Utopie der «Hochschule als offene Plattform». Sie ist aber nicht als Ersatz, sondern integrativ zu denken. Wir müssen mehr selbstverwaltete, kreative und offene Orte und Räume schaffen. Es gibt hierfür Vorbilder, wie die Code University, die Ēcole 42 oder das Media Lab des MIT.
Viertens bedarf es einer stark ausgebildeten antizipativen Fähigkeit. Ein strategisches Observatorium ist für jede Hochschule oder jeden Hochschulraum unabdingbar.
Eine so verstandene Agilität ist eine Form, die Umwelt zu gestalten, anstatt sich ihr nur anzupassen. Und dazu sollten Hochschulen einen wichtigen Beitrag leisten durch mehr Kreation und Innovation.
Lesen Sie auch die ausführlicheren Beiträge von Elena Wilhelm zum Thema: Die Hochschule als offene Plattform? Eine Kritik der Agilität.
Agilität
Der Begriff Agilität ist ein Begriff aus der Softwareentwicklung. Die Ziele agiler Organisationen sind die Auflösung der Grenzen von innen und aussen, die Auflösung funktionaler Differenzierung, Dezentralisierung, Enthierarchisierung und Entformalisierung der Kommunikation.
CODE und Ecole 42
Die CODE erhielt die Anerkennung des Deutschen Wissenschaftsrats als Fachhochschule und damit auch für das pädagogische Konzept. Das Lehr- und Lernprinzip basiert nicht auf Vorlesungen, sondern auf Projektarbeiten in Gruppen, wobei das praktische Handeln ohne grosse theoretische Bildung im Vordergrund steht. Die Professoren unterstützen die Studierenden in ihren Projekten als Mentoren anhand gemeinsam definierter Lernziele. Ist ein Projekt beendet, steigen die Studierenden in einem Kompetenzraster auf. Die Studierenden müssen in den Semestern also keine zeitlich festgelegten Module belegen oder sich zur Erlangung des Wissens an einem bestimmten Literaturkorpus orientieren. Auch klassische hochschulische Notennachweise existieren nicht. Die erlernten Kompetenzen versetzen die Studierenden in die Lage, drei Herausforderungen zu bewältigen: Kreatives und kooperatives Problemlösen, Einarbeiten in immer wieder neue Themen und das Entwickeln von unternehmerischen Fähigkeiten.
Die Ecole 42 wurde vom Telecom-Unternehmer Xavier Niel mit 70 Millionen Euro gegründet. Das Ziel von Niel besteht darin, «die Bill Gates von morgen auszubilden». An der Ecole 42 gibt es weder Professorinnen bzw. Dozierende, noch Vorlesungen oder Noten. Die Studierenden lösen selbstgesteuert Aufgaben, die durch die Schule bereitgestellt werden.
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