Industrie 4.0: Die Fabrik der Zukunft
Die fortschreitende Digitalisierung und Künstliche Intelligenz werden die Wirtschaft grundlegend verändern. Viele sprechen von der vierten industriellen Revolution.
Kaum jemand weiss besser Bescheid über den globalen Getreidemarkt als das Unternehmen Bühler aus Uzwil. 66 Prozent der weltweiten Getreidemenge werden durch Bühler-Mühlen zu Mehl. Mega-Mühlen in Nigeria und Indonesien produzieren bis zu 10'000 Tonnen Mehl pro Tag. Die Maschinen reinigen 30 Prozent der weltweiten Reisernte, schälen und schleifen jedes einzelne Reiskorn. Spezialkameras scannen mehrere tausend Körner pro Sekunde.
Daten für teures Geld verkaufen
Das Unternehmen erfasst die Qualität und das Gewicht, verfolgt Angebot und Nachfrage. Supercomputer führen die Daten aus den weltweit verteilten Getreidemühlen zusammen. Aus ihren Analysen lassen sich genaue Prognosen erstellen über die Entwicklung des internationalen Marktes. Droht Unterversorgung, steigen die Preise, oder besteht ein Überschuss? Die Firma Bühler weiss es und könnte aus ihren Daten ein neues Geschäftsfeld entwickeln. Sie könnte selber im Getreidehandel spekulieren oder ihre Daten für teures Geld verkaufen, doch das Unternehmen hat sich aus ethischen Gründen dagegen entschieden.
Von Einkaufsprofilen auf Diabetes schliessen
Die Firma Bühler ist kein Einzelfall. Die fortschreitende Digitalisierung eröffnet für viele Firmen neue Tätigkeitsbereiche. Grossverteiler könnten anhand von Einkaufsprofilen voraussagen, welche Kunden möglicherweise an Diabetes erkranken. Autohersteller könnten erkennen, wenn das Fahrvermögen eines Lenkers abnimmt. Hersteller von Flugzeugturbinen könnten sehen, ob gewisse Piloten besonders viel Treibstoff verbrauchen, und wissen vor der Landung einer defekten Maschine bereits, was genau nicht mehr funktioniert.
«Bei diesem Thema wird mit sehr viel heissem Wasser gekocht. Es stimmt, dass es in gewissen Bereichen zu einer Revolution führen wird. Aber bei weitem nicht in allen.»
«Es gibt eine Reihe von Unternehmen, die mit ihren Daten auf äusserst wertvollen Informationen sitzen», sagt Peter Qvist-Sørensen. Er leitet an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften das Center for International Industrial Solutions (CIIS). Neue Computer, Künstliche Intelligenz und Machine Learning ermöglichen es in völlig neuer Weise, Computer und Daten miteinander zu vernetzen. Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte kommunizieren und kooperieren in der Industrie 4.0 direkt miteinander. Viele sprechen bereits von der vierten industriellen Revolution – nach der Entdeckung der Dampfkraft, der Elektrifizierung und der Verbreitung des Computers. Peter Qvist-Sørensen ist etwas vorsichtiger. «Bei diesem Thema wird mit sehr viel heissem Wasser gekocht. Es stimmt, dass es in gewissen Bereichen zu einer Revolution führen wird. Aber bei weitem nicht in allen.»
Neue Geschäftsfelder
Das grösste Potenzial sieht der Ökonom Qvist-Sørensen für jene Firmen, die grosse Datenmengen generieren. Durch neue Möglichkeiten der Datenauswertung erschliessen sich neue Geschäftsfelder. Diese können Unternehmen in einem nächsten Schritt selber ausschöpfen oder die Daten weiter verkaufen, sofern die Kunden damit einverstanden sind. «What business am I in?» Diese Frage, sagt Qvist-Sørensen, müssen sich in Zukunft immer mehr Unternehmen stellen. Seine Forschungsgruppe an der ZHAW berät zurzeit selber ein grösseres Unternehmen, das darüber nachdenkt, Kundendaten für neue Geschäftsfelder zu nutzen.
«Industrial Internet of Things»
Doch auch in anderen Bereichen wird das sogenannte «Industrial Internet of Things» die Industrie grundlegend verändern. In der Vergangenheit haben Maschinen mehrheitlich repetitive Arbeiten übernommen. In Zukunft werden sie dank maschinellem Lernen und Künstlicher Intelligenz immer komplexere Arbeiten übernehmen. In der Fabrik der Zukunft überwachen miteinander vernetzte Roboter selbstständig Produktionsprozesse. Sie kontrollieren, optimieren und führen aus. Bestehende Arbeitsplätze geraten unter Druck. Waren in der Vergangenheit insbesondere Stellen in der Fertigung betroffen, triff es nun jene im Bürobereich. Überall dort, wo viel repetitive Arbeit anfällt, könnten Maschinen die Mitarbeiter ersetzen. Etwa in der Buchhaltung, der Logistik oder Kundenbetreuung. «Es gibt diesen etwas zynischen Witz», sagt Qvist-Sørensen. «Wie viele Mitarbeiter braucht es in der Fabrik der Zukunft? Zwei, einen Mann und einen Hund. Der Mann füttert den Hund und der Hund schaut, dass der Mann die Anlage nicht berührt.»
«Es braucht in den Unternehmen zudem mehr Übersetzer. Mitarbeiter, welche die Sprache der Softwareentwickler sprechen und gleichzeitig eine Brücke schlagen können zum Marketing und zu den Kunden.»
Firmen müssen ihre Mitarbeiter weiterbilden und neue Stellen schaffen. Diese werden insbesondere im Bereich von IT und Entwicklung entstehen. «Es braucht in den Unternehmen zudem mehr Übersetzer», sagt Qvist-Sørensen. «Mitarbeiter, welche die Sprache der Softwareentwickler sprechen und gleichzeitig eine Brücke schlagen können zum Marketing und zu den Kunden.»
In die Wertschöpfungskette ihrer Kunden integriert
Gewissen Branchen steht eine Revolution bevor, andere müssen sich weiterentwickeln. Insbesondere für die Hersteller von Maschinen ändern sich mit der fortschreitenden Digitalisierung die Voraussetzungen grundlegend. «Dank neuen Sensoren, Machine Learning und Künstlicher Intelligenz können Ingenieure heute ziemlich genau voraussagen, wann eine Maschine repariert werden muss. Noch bevor sie ausfällt.» Die Konsequenz: «Die Hersteller haben zunehmend die Möglichkeit, noch tiefer in der Wertschöpfungskette ihrer Kunden integriert zu werden.» Fluggesellschaften, zum Beispiel, kümmerten sich früher mehrheitlich selber um die Wartung der Triebwerke. Inzwischen übernehmen immer öfter die Hersteller die Unterhaltsarbeiten. «Und das ist erst der Anfang. Bereits heute verzichten viele Unternehmen auf den Kauf von grossen Maschinen und Produktionsanlagen. Stattdessen schliessen sie mit den Herstellern einen Pay-per-Use-Vertrag ab.» Die Maschinen bleiben im Besitz der Hersteller, für diese verändert sich somit ihr Geschäftsfeld fundamental.
Kann die Schweiz mithalten?
Neue Technologien bringen immer eine Umwälzung der Gesellschaft mit sich. Zwei Fragen seien entscheidend, sagt Qvist-Sørensen: Mit welcher Geschwindigkeit geschieht die Umwälzung? Und können wir uns rechtzeitig anpassen? Mit der Industrie 4.0 wächst der Druck auf die Industrie. Unternehmen, denen es nicht gelingt, Schritt zu halten, droht das Verschwinden. In der Vernetzung der Anlagen ist die Schweiz international sehr gut aufgestellt, sagt Qvist-Sørensen. «Im Bereich der Künstlichen Intelligenz hinkt die Schweiz, wie das gesamte Europa, den Chinesen und Amerikanern jedoch weit hinterher.» Wenn in den kommenden Jahren nicht grosse Fortschritte passieren, drohe die Schweiz den Anschluss zu verpassen. An der ZHAW arbeitet Qvist-Sørensen daran, dass die Firmen den Handlungsbedarf erkennen. Und wissen, wie sie die neuen Möglichkeiten zu ihrem Vorteil nutzen können.
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