Kurzkrimi: Rockerbraut
Das war neu. Nicht, dass ein Mitglied einer berüchtigten Rockergang in der Polizeiwache auftauchte, sondern dass er es freiwillig tat. Vera Brandstetter von der Kripo kannte den Mann, Jackie genannt, Sergeant at Arms, so etwas wie der Kriegsminister. Die beiden hatten ein paar Mal miteinander zu tun gehabt und es gab so etwas wie gegenseitigen Respekt, der manchmal durch eine Andeutung, einen versteckten Hinweis gestärkt wurde. Von beiden Seiten.
«Können wir reden?»
Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner liest hier seinen Kurzkrimi die «Rockerbraut», den er für das ZHAW-Impact geschrieben hat, gleich selbst vor.
«Worum geht's?» Brandstetter wies auf den Stuhl gegenüber dem Schreibtisch.
«Wir werden angegriffen. Regelrecht dezimiert. Einer nach dem anderen.»
«Na und?» Brandstetter gefielen die Geschäfte nicht, in die Mitglieder der Bande verwickelt waren. Revierkämpfe interessierten die Polizei nur dann, wenn sie aus dem Ruder liefen. Solange sich in diesen Branchen Geld verdienen liess, verdiente es jemand. Die Hintermänner zu verhaften, diente nur dazu, das Geschäftsrisiko zu erhöhen. Es durfte nicht zu leicht verdientes Geld sein. Sonst drängten zu viele Anbieter auf den Markt.
«Wir wissen nicht, von wem. Schon vier meiner Brüder wurden attackiert. Es gibt weder hier noch im benachbarten Ausland Leute, die sich ohne triftigen Grund mit uns anlegen würden. Wir haben alle, die infrage kommen, abgecheckt. Die Konkurrenz, aufstrebende Jungs, international agierende Clans. Nichts. Der maskierte Angreifer stellt keine Forderungen. Es ist ein absolutes Rätsel. Wir wissen nicht mehr weiter. Der Kerl ist gefährlich. Wer sich mit uns anlegt, ist eine Gefahr für die Allgemeinheit. Von wegen Gewaltmonopol und so.»
Brandstetter grinste. «Den besorgten Bürger nehme ich dir nicht ab, Jackie. Aber du hast mich neugierig gemacht. Ich höre mich um, dazu brauche ich die Namen der Opfer.»
«Ich habe dich informiert, aber sei um Himmels willen diskret; wenn etwas ist, ruf mich an.» Jackie nannte eine Handynummer. Bestimmt ein Prepaid, das auf einen Asylbewerber oder Junkie registriert war.
Die Aussagen der Männer weckten in Brandstetter den Verdacht, dass die Rocker eine neue Droge entwickelt und selbst getestet hatten: Der Angreifer war entweder ein Roboter oder ein Monster. Auf alle Fälle etwas Übermenschliches. Die Attacken verliefen immer genau gleich. Das Wesen war maskiert und trug einen Militärponcho, es war klein und fast so breit wie hoch. Es gab seltsame Geräusche von sich. Es trat vor das Opfer, hob es mit gewaltiger Kraft hoch und schleuderte es zu Boden. Sprang mit einem Riesensatz auf den Mann drauf, drückte ihm den Hals zu. Mit einer eisernen Klaue, bis knapp vor dem Ersticken. Nur die Augen hinter der Maske, einer simplen Sturmhaube, waren blau und kalt, wirkten beunruhigend menschlich. Wahrscheinlich mussten die Männer sich das im Kopf so zurechtlegen, damit sie die Niederlage eingestehen konnten, dachte Brandstetter.
Wer oder was immer das Monster war, es war nicht zu finden. Niemand ausser den Opfern hatte es gesehen. Es griff nur Mitglieder des Clubs an.
Brandstetter ging alle Anzeigen durch, die gegen die Rocker eingegangen waren. Es gab nur eine Handvoll. Die Männer bemühten sich, in der Öffentlichkeit zivilisiert aufzutreten. Das war wichtig fürs Image des harmlosen Motorradclubs, das sie aufrechterhielten.
Das meiste waren Lappalien, Lärm, Verkehrsdelikte, Beleidigung. Eine Anzeige jedoch stach heraus. Eine Frau war vor einem Pub zusammengeschlagen worden. Brandstetter rief sie an, vielleicht hatte sie einen Freund, der gross und stark war.
«Interessiert sich die Polizei doch noch für den Fall?», fragte Klara Bär bitter.
Sie trafen sich in dem Pub, in dem es passiert war.
«Ich weiss, was macht eine Frau wie ich in so einem Laden?», eröffnete Bär das Gespräch. Der Pub hatte keinen guten Ruf, war als Umschlagplatz für weiche Drogen bekannt. «Ich habe in Australien gearbeitet, es ist eines der wenigen Lokale, das mein Lieblingsbier führen.» Sie deutete auf das halbvolle Pint, das vor ihr stand.
«Ein junger Mann in einer Lederweste wollte mich unbedingt auf ein Bier einladen. Ich lehnte höflich ab, aber er insistierte. Er hatte schon einiges getrunken und wurde dermassen aufdringlich, dass ich das Lokal verliess. Als ich mein Velo aufschloss, stand er hinter mir, in Begleitung eines etwas älteren Bikers, der eine Weste mit dem Clublogo trug. Der Jüngere wollte wissen, ob ich glaubte, etwas Besseres zu sein, und nannte mich eine alte … » Klara Bär schüttelte den Kopf. «Ich will es nicht wiederholen. Sein Begleiter lachte ihn aus, er schaffe es nicht mal, so einen Trostpreis wie mich aufzureissen. Darauf packte der Jüngere meinen rechten Arm. Auf dem Mäuerchen, an das ich mein Velo gelehnt hatte, stand ein halbvoller Bierbecher. Ich schleuderte ihn und traf den Begleiter an der Brust. Dieser ging sofort auf mich los und schlug mir mehrmals hart in den Bauch und in die Nieren. Er schien Routine darin zu haben, Frauen so zu schlagen, dass es wehtut aber keine Spuren hinterlässt. Ich brach zusammen, sie liessen mich einfach liegen. Ich ging sofort zur Polizei, der Junge hat eine Tätowierung im Gesicht, der andere einen auffälligen Bart. Wie schwer ist es, die zu finden?»
«Die Männer haben ein Alibi», erinnerte sich Brandstetter an die Akte. «Sie wollen zur Tatzeit im Clubhaus gewesen sein, dafür gibt es mehrere Zeugen, während sich hier im Pub niemand an die beiden erinnern kann.»
Klara Bär schnaubte. «Und das glauben Sie?»
«Nein, aber solange wir nichts beweisen können …»
«… herrscht das Recht des Stärkeren», unterbrach Bär und trank ihr Bier aus. «Haben Sie sonst noch Fragen?» Sie stand auf, ohne eine Antwort abzuwarten, und verliess das Lokal.
Brandstetter dachte nach. Das erste Opfer des Angreifers war ein Anwärter auf die Clubmitgliedschaft, ein sogenannter Prospect, gewesen, der im Gesicht tätowiert war. Das zweite ein Mann mit einem dreifach gezopften Bart. Sie googelte Klara Bär. Die war 35, hatte einen Doktortitel und war so etwas wie eine Koryphäe, eine der wenigen Frauen ganz oben in ihrem Fachgebiet. Und sie arbeitete an einem interessanten Projekt.
«Jackie, ich brauche dich als Lockvogel, du zeigst dich in der Stadt und vor allem in dem Pub, wo deine Brüder die Frau zusammengeschlagen haben.»
«Wir schlagen keine Frauen.»
«Nein, natürlich nicht.»
Drei Tage später rief Jackie kurz vor halb zehn Uhr abends an. «Die Zielperson hat das Lokal eben verlassen. Ich mache mich auf den Heimweg.»
«Keine Angst, ich passe auf dich auf.»
«Ich habe keine Angst!»
Brandstetter hörte, dass es gelogen war.
Der Angriff erfolgte auf dem Garagenplatz von Jackies biederem Einfamilienhaus im Vorort. Die maskierte Gestalt hob ihn in die Luft. Er war mindestens hundert Kilo schwer.
«Loslassen!», rief Brandstetter.
Der schwere Mann schlug mit lautem Grunzen auf dem Boden auf.
Die Gestalt kam ungelenk auf Brandstetter zu, diese machte einen Ausfallschritt und brachte das Gegenüber mit einem Beinfeger zu Fall. Die Gestalt fiel auf den Rücken und blieb wie ein grosser Käfer liegen. Die Arme und Beine surrten leise, während sie strampelte, um wieder hochzukommen.
«Ich helfe Ihnen auf, wenn Sie versprechen, keinen Quatsch zu machen, Frau Doktor Bär.» Für einen Moment hörte das Surren auf, war es ganz still.
Klara Bär nahm die Sturmhaube vom Kopf.
«Wie sind Sie auf mich gekommen?»
«Ihr Projekt, das Exoskelett. Es war die einzige Erklärung.» Brandstetter half ihr auf die Beine, die von Karbonschienen verstärkt waren, ebenso wie die Arme und die Hände, die in einer Art weissen Rüstung steckten. «Das Ding soll eigentlich Menschen helfen, die schwere Lasten tragen müssen, Sie haben es für Ihren Rachefeldzug aufgepimpt.» Dr. Bärs Kollegen hatten Brandstetter erzählt, dass sie seit ein paar Wochen intensiv an einem der Prototypen arbeite, den aber niemand sehen dürfe. «Mit dem Skelett sind Sie stark, aber nicht besonders beweglich. Es ist ziemlich gefährlich, was Sie da machen.»
«Wenn Sie, die Polizei, mir geholfen hätten, wäre das alles nicht passiert. Sollten diese Kerle etwa ungeschoren davonkommen?»
Brandstetter, die seit ihrem zwölften Lebensjahr Kampfsport betrieb, schwieg.
«Und was passiert jetzt? Verhaften Sie mich?», fragte Klara Bär.
«Bis jetzt liegt keine Anzeige vor.»
«Es wird auch keine geben», brummte Jackie, der sich aufgerappelt hatte. «Von einer Frau verprügelt, wir? Vergiss es. Vergiss die ganze Geschichte. Sie ist nie geschehen.»
«Danke, dass Sie die Sache nicht melden. Es würde mich meinen Job kosten», sagte Frau Doktor Bär, nachdem sie das Exoskelett ins Institut zurückgebracht hatten und in dem Pub sassen.
«Keine Ursache», grinste Brandstetter. «Ich kann Ihre Methoden zwar nicht gutheissen, aber verstehen.»
«Dürfen wir euch zwei Hübschen auf ein Bier einladen?», fragte der bärtige Mann im karierten Hemd, der an ihren Tisch getreten war, hinter ihm stand sein Kumpel.
«Macht euch nicht unglücklich», antwortete Brandstetter. Die beiden Frauen mussten fürchterlich lachen.
Stephan Pörtner
Der 53-Jährige lebt in Zürich, wo seine fünf Krimis mit Köbi Robert, dem Detektiv wider Willen, spielen. Für «Stirb, schöner Engel» erhielt der ZHAW-Absolvent den Zürcher Krimipreis. Die Kurzgeschichten «Schwachkopf» und «Blaue Liebe» wurden 2002 bzw. 2012 für den Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte Kurzkrimi nominiert. 2011 veröffentlichte Stephan Pörtner als Herausgeber das Buch «Hosenlupf - eine freche Kulturgeschichte des Schwingens». Der Schriftsteller und Übersetzer schreibt zudem eine Kolumne für das Strassenmagazin «Surprise» und für die «Wochenzeitung» Geschichten, die aus exakt 100 Wörtern bestehen. Mit Beat Schlatter zusammen hat er die Erfolgskomödie «Polizeiruf 117» verfasst. «Rockerbraut» hat er speziell für ZHAW-Impact geschrieben. Ende September erscheint der sechste Kriminalroman mit Köbi Robert unter dem Titel «Pöschwies».
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