Lärmschutz: Wenn Normen aus dem Lot geraten

23.03.2021
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Eine immer engere Auslegung von Lärmschutzvorschriften bei Baugesuchen will die Bevölkerung schützen. Die restriktive Haltung behindert aber gute, auf den jeweiligen Ort zugeschnittene Lösungen. Ein interdisziplinäres ZHAW-Forschungsprojekt plädiert für sinnvolle neue Normen.

Bauen an lärmbelasteten Strassen ist knifflig. Ein Beispiel dafür ist das Haus «Rosengarten» der Stiftung für Studentisches Wohnen Zürich. Der nach drei Jahren Bauzeit kürzlich bezogene Neubau liegt direkt an der fünfspurigen Westtangente, dort, wo die wohl lärmigste Strasse Zürichs stadtauswärts zum Bucheggplatz hin ansteigt. Jeden Tag befahren im Durchschnitt 57‘000 Autos, Laster und Lieferwagen diese Stelle. Schnell wird klar, warum Architektin Deborah Fehlmann, Leiterin des interdisziplinären ZHAW-Forschungsprojekts «Integrativer Lebensraum trotz Lärm» des Instituts Konstruktives Entwerfen und des Departements Soziale Arbeit, das Haus «Rosengarten» als Anschauungsbeispiel gewählt hat. Ihre Stimme geht im morgendlichen Verkehrsgebrause fast unter. Ungerührt tritt derweil eine junge Frau aus dem Eingang, schlendert durch die nahe Unterführung zum Beck auf der anderen Strassenseite und kehrt kurz darauf vergnügt mit einer Tüte Gipfeli zurück. Hier lässts sich offensichtlich gut leben.

Bewohnte Lärmschutzwand

Das Wohnhaus umfasst Zimmer für 130 Studentinnen und Studenten in 18 Wohngemeinschaften, einen Kindergarten, eine Krippe und verschiedene Gewerbeflächen. Mit einer Klinkerfassade erstreckt sich das Gebäude als 150 Meter langer, schmaler Riegel der Bucheggstrasse entlang. Der Baukörper ist nur wenige Meter vom Trottoir entfernt. «Lärmtechnisch ist das eine gute Strategie», erläutert Deborah Fehlmann. Wegrücken brächte wenig, erst bei grosser Distanz würde der Geräuschpegel spürbar sinken. Die Strassennähe hat Vorteile: Auf der Rückseite bleibt viel Raum für einen schönen Quartierpark, der vom Lärm optimal abgeschirmt ist. Der Baukörper ist geschlossen, ohne Durchgänge oder Einschnitte, durch die der Schall dringen könnte – eine bewohnte Lärmschutzwand sozusagen.

Wer um das Haus geht, staunt. Wirkt die Fassade zur Strasse hin streng und abweisend, so öffnet sich das Gebäude zum Park hin und zeigt seine charmanten, lebensfrohen Seiten. Mehrgeschossige Loggien mit einer Feuerstelle zum gemeinsamen Grillieren verbinden jeweils zwei Wohngemeinschaften. Es ist erstaunlich ruhig. Und deshalb liegen auch die Schlafzimmer zum Park oder lassen sich zumindest zu dieser Seite hin lüften.

Fenster zum Park

Deborah Fehlmann zeigt die Finessen des Grundrisses auf: Weil die Wohnräume von Gesetzes wegen auf der ruhigen Seite liegen, rücken die Treppenhäuser an die Strasse. Ebenso die Wohnzimmer mit offener Küche, die zum Lüften ein Fenster zum Park haben. Diese imposanten Räume sind das Zentrum der jeweiligen Wohngemeinschaft. Dank ihrer Doppelgeschossigkeit reduziert sich die Anzahl Räume zur Strasse. Zugleich entsteht Wohnqualität. Vom Verkehrslärm hört man drinnen praktisch nichts, solange die Kastenfenster – bestehend aus einem Doppelset Lärmschutzfenstern – geschlossen sind. Doch man sieht, was auf der Strasse und dem Trottoir geschieht. Deborah Fehlmann spricht von einer «trotz strenger Gesetze überzeugenden Lösung». 

Bundesgerichtsentscheid

Das Haus «Rosengarten» illustriert das Spannungsfeld, in dem sich das Forschungsprojekt bewegt.  «Nach aktueller Rechtsprechung würde dieses Projekt bei einer Einsprache an den Lärmschutznormen scheitern», sagt die Projektleiterin. Grund ist das Fenster der Wohnzimmer zur Strasse hin. Lange tolerierten etwa die Hälfte der Schweizer Kantone – darunter Zürich – solche Baugesuche, solange ein Fenster zur ruhigen Seite vorhanden war, das den Lärmgrenzwert einhielt. Dann aber stufte das Bundesgericht diese sogenannte «Lüftungsfensterpraxis» als «unzulässige Aushöhlung des Gesundheitsschutzes» ein. Der Lärmgrenzwert müsse am Ort der stärksten Belastung bei offenem Fenster eingehalten werden. Sonst könne das Bauprojekt nicht bewilligt werden. Eine Ausnahmebewilligung, so präzisierte das Bundesgericht 2019, komme nur als «Ultima ratio» in Betracht, um eine Siedlungsverdichtung nach innen zu ermöglichen. Dazu müssten aber nachweislich alle möglichen baulichen und gestalterischen Massnahmen ausgeschöpft sein. Die Kantone schwenken nun auf diese härtere Linie um. Mehrere Bauvorhaben sind seither an der strengeren Bewilligungspraxis gescheitert, darunter auch die Zürcher Grossüberbauung «Brunaupark» der Pensionskasse der Credit Suisse mit 500 Wohnungen. Die Branche ist perplex.

Monoton und teuer

Das ZHAW-Forschungsprojekt untersucht die architektonischen und gesellschaftlichen Konsequenzen der neuen regulatorischen Praxis. Entstehen nun beispielsweise immer mehr tote Fassaden, die eine Strasse vollends zur unwirtlichen Verkehrsachse machen? Und wie verändern die aktuellen Lärmschutzvorgaben die soziale Durchmischung einer Stadt, etwa weil sich einkommensschwache Haushalte die teureren Mieten in sanierten oder neuen Bauten nicht mehr leisten können? Lanciert wurde das Projekt von Professorin Astrid Staufer, Co-Leiterin des Instituts Konstruktives Entwerfen und Architektin mit reger Praxiserfahrung. Als Ziel nannte sie neulich in einem Zeitungsinterview die Erweiterung des «Scheuklappenblicks», der immer wieder gute Ansätze im Lärmschutz verhindere. Mit einer ganzheitlichen Betrachtungsweise will das Projekt Ansätze für ein zukunftsfähiges und sozialverträgliches Regulativ aufzeigen und so den Grundstein für eine neue Normalität legen. Der Zeitpunkt ist günstig. Derzeit bereitet der Bundesrat auf Geheiss des Parlaments eine Revision des Lärmschutzrechts vor, um auch «in lärmbelasteten Gebieten die raumplanerisch geforderte Siedlungsverdichtung nach innen» zu ermöglichen.

Günstige Wohnung in zentraler Lage

Das Projekt hat schon spannende Erkenntnisse zutage gefördert. «Die Leute wägen bei der Wohnungssuche ab, sie gewichten», sagt Deborah Fehlmann. Das zeigten Interviews mit Anwohnerinnen und Anwohnern der Badenerstrasse in Zürich, einer verkehrsbelasteten, aber lebendigen Strasse mit meist älterem Gebäudebestand. Manche nehmen den Lärm in Kauf, weil sie im Gegenzug andere Qualitäten erhalten, eine günstige Wohnung an zentraler Lage zum Beispiel. Viele sagten, das Wohnzimmer sei zwar laut, sie fänden das aber nicht weiter schlimm, weil das Schlafzimmer hinten raus ruhig gelegen sei. Manche sässen trotz des hohen Geräuschpegels gern auf dem Balkon, um dem Treiben auf der Strasse zuzuschauen.

Pflanzen gegen Schall

Das bis im Sommer laufende Projekt untersucht auch architektonische Strategien. Staufer und Fehlmann plädieren für plastische Fassaden mit Vor- und Rücksprüngen, Erkern und Loggien sowie körniger Oberfläche, die für eine vielfältige Akustik im städtischen Raum sorgen. Mehr Grün ist ebenfalls hilfreich. Einerseits, weil Pflanzen Schall anders absorbieren, andererseits aber auch, weil Blätterrauschen oder Vogelgezwitscher beruhigend auf den Menschen wirken. Wie eine veränderte Fassadenform oder eine andere Gliederung des Baukörpers die Akustik beeinflussen, ist aber mangels tauglicher Analyseinstrumente schwer abzuschätzen. Mit Unterstützung der Materialprüfungsanstalt Empa vergleicht das Forschungsprojekt deshalb verschiedene Fassadenentwürfe mit einer Raumakustiksoftware. Ein Projekt zur Entwicklung eines digitalen Akustik-Werkzeugs für Architektinnen und Architekten ist in Planung. Solche bauphysikalischen Aspekte sollen zusammen mit den soziologischen Erkenntnissen und der Analyse der regulatorischen Praxis dem Gesetzgeber Hinweise für die Ausgestaltung neuer Lärmschutznormen geben, mit denen sich ein wirksamer Gesundheitsschutz und architektonische Qualität vereinen lassen.

Was ist eigentlich Lärm? 

In der Lärmwirkungsforschung dominiert eine technisch-naturwissenschaftliche Herangehensweise, die Lärm in Dezibel-Werten definiert und gesundheitsschädigende Auswirkungen misst. Aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive wiederum gilt Lärm als Geräusch, das stört. Ob ein Geräusch als störend empfunden wird, hat aber nur bedingt mit der Lautstärke zu tun. Beide Forschungsperspektiven müssen kombiniert werden. Selbst gross angelegte quantitative Lärmwirkungsstudien wie die schweizerische SiRENE-Studie können keinen linearen Zusammenhang zwischen Lärmbelastung und Gesundheitsbeeinträchtigung feststellen. Offensichtlich gibt es intervenierende Variablen, zu denen auch soziale und kulturelle Faktoren zählen.

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