Nachhaltigkeit: «Wir prägen die Generationen von morgen»

24.09.2019
3/2019

Wie wird man nachhaltiger? Rektor Jean-Marc Piveteau, Maria Högger, wissenschaftliche Mitarbeiterin, und der Student Nico Frommherz über persönliches und berufliches Engagement und die Herausforderungen, die die ZHAW-Nachhaltigkeitsstrategie mit sich bringt.

Es ist nicht lange her, da löste das Thema Nachhaltigkeit ein müdes Gähnen aus. Woher kommt der derzeitige Hype?

Maria Högger: Die Auswirkungen des Klimawandels sind spürbarer. Auch in der Schweiz erleben wir Dürren und Hitzewellen. Greta Thunberg erregt mit ihrer Botschaft Aufsehen. Wir merken, dass es langfristige Lösungen braucht.

Jean-Marc Piveteau: Das Thema löste nicht wirklich ein müdes Gähnen aus. Die Notwendigkeit, etwas zu tun, war längst bekannt. Neu ist, dass die Bewegung die Jüngeren mobilisiert und den Diskurs prägt.

Maria Högger: Ich denke schon, dass das Thema früher – etwa in der Populärkultur – auch belächelt wurde. Jetzt, da man die Auswirkungen bemerkt und auch viel mehr Forschung in diesem Bereich betrieben wird, nimmt man es ernster.

Jean-Marc Piveteau: Es gab und gibt immer Leute, die es nicht ernst genommen haben. Aber schon der Brundtland-Bericht der Uno von 1987 war deutlich. Ich war damals ungefähr so alt wie Sie beide heute. Noch viel früher, Anfang der 1970er Jahre, erschien der Bericht des US-Ökonomen und Wachstumskritikers Dennis L. Meadows. Den diskutierten wir in der Familie. Ich verstand nicht alles, aber es war ein grosses Thema: Das Wachstum wurde in Frage gestellt.

Högger: Natürlich werden Nachhaltigkeitsfragen schon lange thematisiert und beforscht. Jedoch, obwohl ich in einer Familie aufwuchs, die sehr ökologisch geprägt war, wusste ich sehr wenig über beispielsweise den Einfluss der Ernährung auf die Umwelt. Dieses Wissen wurde nicht in der Schule vermittelt. Mit dem Internet lässt sich das Wissen heute schneller verbreiten, und die Themen der Nachhaltigkeit sind sicher auch deshalb mehr Mainstream geworden.

Nico Frommherz: Ich glaube, die Bewegung wächst noch. Zum Klimastreik kommen immer mehr Organisationen hinzu, welche mit ihren Aktionen den gesellschaftlichen Druck verstärken.

Jean-Marc Piveteau, bei Ihnen wurde Nachhaltigkeit in der Familie thematisiert. Seit wann beschäftigen sich die anderen mit dem Thema?


Frommherz: Ich habe mich vor zehn Jahren entschieden, kein Fleisch mehr zu essen und gesünder zu leben. Das war ein krasser Cut. Ich hatte zuvor zwei- bis dreimal am Tag Fleisch gegessen. In meinem Umfeld musste ich mir blöde Sprüche anhören. Damit ich gute Antworten darauf hatte, informierte ich mich und kam so mit weiteren Nachhaltigkeitsthemen in Berührung.

«Man man kann sich nicht einfach auf andere verlassen, sondern ist mitverantwortlich.»

Jean-Marc Piveteau

Högger: Ich wurde ebenfalls in der Familie damit sozialisiert, entwickelte mich dann aber in Richtung konsumierende Bürgerin. Ich verdiente früh Geld, weil ich eine Lehre machte. Ich wollte die Welt entdecken und erfüllte mir den Traum einer Weltreise. Aber da merkte ich, dass ich ständig konsumieren musste und keine Aufgabe hatte, was mich nicht befriedigte. Ich kam zurück und änderte meinen Lebensstil.

Inwiefern gestalten Sie Ihr Leben nachhaltiger?

Högger: Ich wohne ökologisch in einem Neubau mit Regenwasserspülung und Solaranlage. Ich verzichte seit drei Jahren aufs Fliegen. Ich esse vegetarisch und achte darauf, woher tierische Produkte stammen. Und ich kaufe fast keine Kleider mehr, sondern tausche oder gehe ins Brocki.

Piveteau: Ich esse zwar ab und zu Fleisch, aber weniger. Ich achte darauf, wie Sachen produziert sind, ebenso auf meinen Energie- und Ressourcenverbrauch. Beim Erwerb unseres Reihenhauses gehörten wir zu den ersten, die sich für Solarwärme entschieden. Finanziell zahlte sich das nicht aus. Ideell aber schon – doch man muss immer aufpassen, dass man sich mit solchen Taten nicht vorschnell zufriedengibt. Das tägliche Verhalten muss laufend hinterfragt und angepasst werden.

Inwiefern ist Ihr Alltag an der ZHAW von Nachhaltigkeit geprägt?

Frommherz: Als Klassensprecher meines Jahrgangs musste ich oft Nachhaltigkeitsanliegen weitertragen. Etwa wenn es um die Mensa ging. Abgesehen davon dreht sich mein Studium in Umwelt und Natürliche Ressourcen sowieso um Nachhaltigkeit. Nebenbei arbeite ich in der Umweltbildung. Zudem bin ich Mitglied der Nachhaltigkeitskommission der Studierenden und engagiere mich bei der Nachhaltigkeitswoche.

Högger: Bei mir hat sich das Thema durchs ganze Studium gezogen, der Höhepunkt dabei war die Gründung der Nachhaltigkeitskommission des Studierendenvereins VSZHAW. Ich bin jetzt im Fachausschuss Nachhaltigkeit der ZHAW, und ich versuche das Thema am Departement Soziale Arbeit weiterzubringen.

Piveteau: Als Rektor sehe ich meine Aufgabe im Sicherstellen der Rahmenbedingungen, damit die Hochschule in der Lehre, in der Forschung und im Betrieb ihre Ziele erreicht. Das gilt auch für die Nachhaltigkeit. Im letzten Herbst – also noch vor der medialen Aufmerksamkeit – haben wir beschlossen eine Nachhaltigkeitsstrategie zu erarbeiten. Natürlich haben wir das Thema schon früher diskutiert, etwa im Bereich der Energieversorgung. Nachhaltige Entwicklung ist eine Kultur, die man prägen kann – auch wenn das Wort Nachhaltigkeit nicht in jedem zweiten Satz erscheint.

Gibt es Handlungen, auf die Sie gerne verzichten würden?

Högger: Wir leben in einer komplexen Welt, und auch wenn wir uns gut auskennen, ist es nicht möglich, total nachhaltig zu leben. Ein Beispiel: Biogemüse in Plastiksäckchen vermittelt ein ungutes Gefühl, obwohl es nachhaltiger als konventionelles Gemüse ist.

Frommherz: So lange man nicht als Aussteiger lebt, ist es in der Schweiz unmöglich einen ökologischen Fussabdruck von nur einer Welt zu erreichen. Deshalb finde ich es wichtig, dass man die Strukturen für die Konsumierenden ändert. Damit man sich nicht bei jedem Schritt im Alltag überlegen muss, ob der jetzt gut oder schlecht ist.

Piveteau: Genau das erachte ich als Beitrag zur Entwicklung des Nachhaltigkeitsgedankens: dass man sich bei jedem Kauf und jeder Handlung diese Fragen stellen muss. Man kann sich nicht einfach auf andere verlassen, sondern ist mitverantwortlich. Wir können nicht alles bewirken. Ich lebe in einer Welt, in der ich Kompromisse machen muss. Aber die Auseinandersetzung damit ist wichtig.

Frommherz: Im Supermarkt sollte man aber keine Ware erhalten, die Menschenleben zerstört. Man sollte nicht die ganze Verantwortung an die Konsumentinnen und Konsumenten übergeben, sondern den Konzernen Bedingungen stellen.


So definiert die ZHAW Nachhaltigkeit

Langfristiges Ziel nachhaltiger Entwicklung ist die inter- und intragenerationelle soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit bei Respektierung der ökologischen Grenzen der Nutzung natürlicher Ressourcen. Diese Querschnittsaufgabe erfordert Reflexion, Aushandlung und Kompromissfindung auf allen Entscheidungs- und Handlungsebenen. Partizipation ist daher ein Kernprinzip nachhaltiger Entwicklung an der ZHAW.


Piveteau: Wir leben nicht in der idealen Welt. Wir leben mit Rahmenbedingungen und Ansprüchen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in einen moralisierenden Diskurs geraten, bei dem wir genau zu wissen glauben, was gut und böse ist. Darum verwende ich auch nicht den Ausdruck Klimasünde. Wachstum und Prosperität sind nicht a priori falsch. Etwas dürfen wir aber nicht vergessen: Nicht zuletzt wegen der Ausbeutung von Ressourcen in Entwicklungsländern leben wir komfortabel, sind gut ausgebildet und haben das Glück, rational wissenschaftlich denken zu können und auf dieser Basis Entscheidungen zu fällen. Darum haben wir die Verantwortung, in einer globalen Sicht mit Entwicklungsländern zusammenzuarbeiten.

Und wie bringen Sie die ZHAW-Angehörigen dazu, diese Verantwortung wahrzunehmen?

Piveteau: Es geht nicht darum, den Leuten eine Botschaft aufzudrücken, sondern um die Entwicklung eines Bewusstseins. Es soll eine Diskussion in Gang kommen. In jeder Abteilung, jedem Institut und jedem Departement muss man sich überlegen, wie man sich im Alltag verhält. Und dies nicht nur in der Berufswelt – welche ohnehin immer weniger vom Privatleben getrennt ist.

Denken Sie, dass bezüglich Nachhaltigkeit ein Generationenkonflikt existiert?

Piveteau: Mein Vater ist 92 Jahre alt, ich weiss, was er denkt, und ich denke genau gleich: Für die Zukunft ist er genauso verantwortlich wie ich und wie meine Kinder. Es gibt Leute mit unterschiedlicher Meinung, aber es gibt keinen Generationenkonflikt.

«Ich sehe mich als Macher von heute in der Verantwortung.»

Nico Frommherz

Frommherz: Ich kann das nicht wissenschaftlich belegen, aber ich merke, dass älteren Personen oft das Interesse fehlt. Aber viel grösser ist der globale Konflikt, nämlich dass die Verursachenden von Klimakrisen, also wir Menschen in den westlichen Ländern, eine Verantwortung haben, die wir nicht wahrnehmen, und gleichzeitig die Menschen im globalen Süden von diesen Entscheidungen betroffen sind. Und vor den Auswirkungen der Klimakrise kann sich nur schützen, wer genug Geld hat.

Stehen Junge, als Entscheider von morgen, in einer besonderen Verantwortung?

Frommherz: Ich sehe mich als Macher von heute in der Verantwortung. Ich kann mich jetzt engagieren und etwas tun. Und ich will Entscheidungsträger dazu bringen, sich die Zukunft vielleicht auch aus der Perspektive von anderen Menschen anzuschauen.

«Ich frage mich immer wieder, ob das, was ich tue, sinnvoll ist.»

Maria Högger

Högger: Ich frage mich immer wieder, ob das, was ich tue, sinnvoll ist. Deshalb trage ich gerne Verantwortung und möchte mein Engagement auch im beruflichen und persönlichen Alltag integrieren. In meiner utopischen Vorstellung könnte das jeder andere auch so machen.

Piveteau: Hier stehen wir als Hochschule in besonderer Verantwortung: Die Lehre und der Bildungsauftrag sind fundamental. Was wir da machen, prägt die Generationen von morgen. Dadurch können wir mitgestalten und Einfluss ausüben.

Die ZHAW versucht ihre Verantwortung mit der Nachhaltigkeitsstrategie wahrzunehmen. Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen?

Högger: Die sehe ich in der Heterogenität der Departemente. Es werden jeweils unterschiedliche Ziele priorisiert, und dabei kann es zu Zielkonflikten kommen. Diese Uneinigkeit und die Schwierigkeit, an der ZHAW als Ganzes zusammenzuarbeiten, das ist herausfordernd.

Piveteau: Aber auch eine Chance. Denn die Auseinandersetzung mit anderem Denken ist sehr wichtig.

Frommherz: Ich sehe eine weitere Herausforderung in der Emotionalität. Ich war an der Teilstrategie «Bildung und digitale Transformation» beteiligt und ich war erstaunt, wie wenig emotional die Diskussion war. Es drehte sich vorwiegend um Ressourcen. Ich glaube, Nachhaltigkeit ist ein Thema, das die Menschen auch auf persönlicher Ebene berührt und das eigene Leben und das Leben der gesamten Menschheit betrifft.

Piveteau: Die Emotionalität ist eine Herausforderung, hat aber auch ihre guten Seiten. Für die digitale Transformation gilt das aber genauso. Zwar verlief die Diskussion an der ZHAW eher sachlich, weil wir dabei nur die Chancen ins Auge fassten. Doch sie kann auch Emotionen auslösen, weil sie mit Rollenangst verbunden ist. Das darf man nicht unterschätzen. Und wir haben als Hochschule auch hier eine Verantwortung: Wir müssen in Bildung und Forschung auf die fundamentale Problematik der digitalen Inklusion reagieren.


Nachhaltigkeitsstrategie ZHAW


Im Juli hat die ZHAW ihre Nachhaltigkeitsstrategie verabschiedet. Sie baut auf der Hochschul­strategie sowie den bisherigen Leistungen der ZHAW auf und wurde unter der Federführung von Elena Wilhelm, Leiterin Hochschulentwicklung, und Christian Wassmer, wissenschaftlicher Mitarbeiter Hochschulforschung, sowie dem Fachausschuss Nachhaltige Entwicklung – bestehend aus Mitarbeitenden und Studierenden – erarbeitet. Mit der Strategie übernimmt die ZHAW als Hochschule ihre gesellschaftliche Mitverantwortung für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft und verankert die nachhaltige Entwicklung auf höchster Ebene. Die ZHAW orientiert sich dabei an der Agenda 2030 mit ihren siebzehn «Sustainable Development Goals» (SDGs). Die Strategie bezieht sich auf alle Leis­tungsbereiche und enthält Ziele und Massnahmen für Lehre und Weiterbildung, Forschung, Wissenstransfer, Dienstleistungen, Betrieb sowie Governance. Ein Hochschulleitungsmitglied wird Beauftragte(r) für nachhaltige Entwicklung und leitet mit 
Unterstützung eines Fachausschusses die Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie. Die Hochschulleitung hat auch ein Green Impact Book für den Hochschulbetrieb beschlossen mit 
Zielen und Massnahmen im Bereich ökologische Nachhaltigkeit.

 

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