Ob im Pflegeheim oder Zuhause: Einsamkeit macht krank

22.03.2022
1/2022

Unter Menschen im Alter ist Einsamkeit weit verbreitet. Seit der Covid-19-Pandemie noch stärker als zuvor. Die Folgen für die Betroffenen und die gesamte Gesellschaft sind nicht zu unterschätzen. Darum sind Forschung und Sensibilisierung wichtig.

«Wir erleben eine Pandemie in der Pandemie.» André Fringer, Co-Leiter Forschung und Entwicklung am Institut für Pflege der ZHAW Gesundheit, spricht Klartext. Einsamkeit und soziale Isolation seien gerade bei älteren Menschen mit Unterstützungsbedarf oft ein grosses Problem. Das gelte für Menschen, die im eigenen Haushalt lebten ebenso wie für Menschen in Institutionen. «Man kann auch im Pflegezentrum mit 30 Mitbewohnenden leben und trotzdem sozial isoliert sein», sagt der Professor für Pflegewissenschaft. In verschiedenen Forschungsarbeiten hat er sich mit dem Phänomen beschäftigt. Zuletzt im Projekt «Digitale Unterstützung gegen soziale Isolation und Einsamkeit», das er zusammen mit Franzisca Domeisen Benedetti leitet.

Wie wirkte Kontaktbeschränkung?

Das Team um die beiden Pflegewissenschaftler ging der Frage nach, wie sich die Massnahmen gegen die Covid-19-Pandemie auf die älteren pflegebedürftigen Menschen in der Schweiz auswirkten und inwiefern digitale Hilfsmittel zum Einsatz kamen, um die Zeit der Kontaktbeschränkung zu überbrücken. Dazu wurden Pflegefachleute der Spitex befragt. Die Ergebnisse liegen bereits vor, die Publikation befindet sich zurzeit noch im Peer-Review-Prozess.

«Je älter man wird, desto eher läuft man Gefahr, bestehende Kontakte zu verlieren.»

André Fringer, Institut für Pflege

«Das grosse Problem der weit verbreiteten Einsamkeit hat sich mit der Pandemie enorm zugespitzt», so Fringer. Einsamkeit sei schon davor gerade bei Menschen im Alter weit verbreitet gewesen. Die Massnahmen, die 2020 in der Schweiz zur Eindämmung des Coronavirus ergriffen wurden, haben diese Entwicklung beschleunigt. Die Untersuchung zeigte, dass im Frühling 2020 Einsamkeit und Isolation unter älteren Menschen mit Unterstützungsbedarf sehr hoch waren (rund 85 Prozent), im Sommer etwas abnahmen (50 Prozent) und im darauffolgenden Winter noch einmal zunahmen (85 Prozent). 

Einsamkeit tut nachweislich weh

Dass dies die Gesundheit der betroffenen Menschen in vielerlei Hinsicht beeinträchtigt, haben frühere Studien bereits belegt. «Einsamkeit macht krank», fasst Fringer zusammen. Er betont, regelmässig allein zu sein, sei auf keinen Fall schädlich. Im Gegenteil, sich hin und wieder zurückzuziehen und Ruhe zu finden, sei wichtig. «Einsam oder sogar sozial isoliert sein ist aber etwas anderes», so Fringer. Es gehe einher mit einem vagen Bedürfnis nach Gemeinschaft und löse negative Gefühle aus.

Für das Gefühl der Einsamkeit gilt ein hohes Alter als Risikofaktor. «Je älter man wird, desto eher läuft man Gefahr, bestehende Kontakte zu verlieren. Nicht zuletzt, weil gesundheitliche Einschränkungen an sozialen Aktivitäten hindern können. Wer beispielsweise nicht gut sieht oder hört, kann weniger gut mit anderen kommunizieren.» Dazu komme, dass das Knüpfen von neuen Kontakten mit steigendem Alter schwieriger werde. Das Gefühl der Einsamkeit und Isolation tut nachweislich weh. Neurologische Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Menschen, die sich einsam fühlen, dieselben Hirnareale aktiviert sind wie bei Menschen mit chronischem physischem Schmerz. 

Soziale Kontakte und Teilhabe fördern die Lebensqualität

Doch was tun, wenn jemand im Alter allein ist, sich immer mehr zurückzieht, weil Beschwerden ihn oder sie an früheren Aktivtäten hindern? Wenn ein älterer Mensch Freunde verliert, weil sie im Alter sterben, wenn erwachsene Kinder weit weg wohnen und neue Kontakte so schwierig zu knüpfen sind? 

«Man müsste aufbrechen können, was diesen Menschen als Alltag gewachsen ist. Eine neue Normalität etablieren, damit sie wieder am sozialen Leben teilnehmen können. Das ist das Schwierigste», sagt Fringer und bricht eine Lanze für die Soziale Arbeit. «Was in diesem Bereich in den letzten Jahren erreicht wurde mit Quartierarbeit oder der Gestaltung von Räumen, das ist enorm.» Es brauche dringend mehr solche Angebote, findet er.

«Es braucht selbstbestimmte Aktivität und auch selbstbestimmten Rückzug.»

Sylvie Johner-Kobi,

Wie beispielsweise das Projekt des Instituts für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe am Departement Soziale Arbeit der ZHAW, das zurzeit im Gang ist. Es untersucht, wie in Alterssiedlungen die Beteiligung gefördert werden kann. Involviert sind verschiedene Siedlungen in städtischen, ländlichen und in Agglomerationsgebieten. In zwei dieser Siedlungen sind Sozialarbeitende als «Siedlungsassistenzen» angestellt und versuchen, Beteiligungsprozesse anzustossen. 

Nachbarschaftshilfe

Die Co-Projektleiterin Sylvie Johner-Kobi, Professorin am Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe, sagt, durch den Umzug in ein neues Wohnumfeld verlören viele Menschen ihre Kontakte. Um die Lebensqualität zu fördern und die individuelle Autonomie zu stärken, seien neue Kontakte wichtig. «Durch Begegnungen kann auch Nachbarschaftshilfe entstehen», sagt Johner-Kobi. Und betont: «Es braucht selbstbestimmte Aktivität und auch selbstbestimmten Rückzug.» Es geht also nicht darum, Bewohnerinnen und Bewohner einer Alterssiedlung zu Kontakten oder zur Teilnahme an Aktivitäten zu drängen. Sondern darum, auf sie zuzugehen und Angebote zu machen. 

Das beste Mittel: Zeit schenken

Und wie steht es nun um den Einsatz digitaler Hilfsmittel? Kann er Einsamkeit im Alter lindern? Nein, eigentlich nicht, wie die eingangs genannte Studie zeigt. «Natürlich ist – gerade in der besonderen Situation der Covid-19-Pandemie – das Telefonieren wichtig. Auch Videotelefonie wird immer mehr genutzt von älteren Menschen. Aber diese Mittel können nur ergänzend helfen», sagt André Fringer. Der direkte, persönliche Kontakt könne durch nichts ersetzt werden. Das zeige sich auch in der täglichen Arbeit der Pflegefachpersonen der Spitex. «Viele Patientinnen und Patienten würden gerne noch etwas Zeit mit der Pflegefachperson verbringen, bevor diese zum nächsten Einsatz eilt.» Doch die Zeit ist zu knapp bemessen. «Dabei kann man den Menschen nichts Besseres tun, als Zeit zu schenken!», so Fringer. Man vergesse, dass beispielsweise beim Haarekämmen sehr viel mehr passiere als reine Körperpflege.

«Pandemie der Einsamkeit»

Mehr Zeit ist also gefragt. Mehr Möglichkeiten für Menschen im Alter, um mit anderen in Kontakt zu kommen. «Da sind wir als gesamte Gesellschaft gefordert», sagt André Fringer. «Es braucht einen Kulturwandel. Im Umgang mit dem Nachbarn, der allein ist, im Umgang mit Einsamkeit insgesamt. Diese muss als gesellschaftliches Problem ernstgenommen werden und wir müssen dafür sorgen, dass soziale Einsamkeit nicht mehr stigmatisiert wird.» Dazu brauche es Sensibilisierungsarbeit. Diese beginne mit Forschung, mit dem Sammeln von Daten, von denen in der Schweiz bisher zu wenige vorhanden seien.

Vergleich mit einem Gletscher

Fringer vergleicht die «Pandemie der Einsamkeit» mit einem Gletscher, der langsam ins Rutschen kommt. «Da rutscht ein Gletscher zu Tal und keiner kriegt es mit. Keiner weiss etwas über diesen Gletscher: Welches Volumen hat er? Wie schnell rutscht er? Wohin genau bewegt er sich?». All das müsse nun erforscht werden, und gleichzeitig brauche es bereits konkrete Massnahmen. In den Gemeinden und Städten, in der Gesundheits- und Sozialpolitik. «Ein nationales Förderprogramm gegen Einsamkeit wäre jetzt angebracht», findet Fringer.

«Am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit»

Die Einsamkeit kann Menschen im Alter auch treffen, wenn sie in einer Partnerschaft oder Familie leben. Mit steigendem Alter oder mit chronischer Krankheit steigt auch der Unterstützungsbedarf. Wer im Alter beispielsweise den Partner oder die Partnerin betreut, kann sich trotz der Lebensgemeinschaft immer einsamer fühlen. Besonders betroffen sind jene, die einen an Demenz erkrankten Partner pflegen. Gabriela Nemecek hat im Rahmen ihrer Masterthesis am Departement Gesundheit der ZHAW die Bedürfnisse betreuender Angehöriger von Menschen mit Demenz untersucht. Ihre Arbeit trägt den Titel «Am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit».

Die Einsamkeit entwickle sich meist schleichend, sagt Nemecek. Im Verlauf der Demenzerkrankung nimmt die Kommunikation in der Beziehung ab, gemeinsame Unternehmungen werden schwieriger, soziale Kontakte gehen verloren. Das alles führt zu einem Gefühl der Einsamkeit. Angehörige von Menschen mit Demenz verlieren ihr gewohntes Leben. «Für die Betroffenen braucht es unbedingt Unterstützung – und zwar rechtzeitig, bevor die Einsamkeit gross ist», so Nemecek. Gesprächsgruppen für Angehörige oder Entlastungsdienste können zum Beispiel sehr hilfreich sein.

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