Online solidarisiert – offline engagiert
In Krisen rücken Menschen zusammen – und wenn sich viele Menschen zusammenschliessen, können sie einiges bewegen. Forscherin Aleksandra Gnach untersucht, wie sich Communitys online bilden, solidarisieren und sich auch ausserhalb des Internets engagieren.
Warum ist Social Distancing wichtig? Welche Berufe sind systemrelevant? Was umfasst Familienarbeit? Und wieso bleibt sie vorwiegend an Frauen hängen, selbst wenn sich beide Elternteile im Homeoffice befinden? Zahlreiche Diskussionen rund um diese Themen wurden während der Corona-Pandemie auf Social-Media-Plattformen wie Facebook, Instagram oder Twitter geführt.
Das Besondere an diesen Diskussionsprozessen ist: Einerseits beteiligten sich Personen, welche sich im alltäglichen Leben kaum – und während der Pandemie sowieso nicht – begegnen. Die Social-Media-Plattformen wurden so zu virtuellen Begegnungsorten, welche den physischen Austausch ersetzten und ihn von Raum und Zeit entkoppelten. «Ausserdem schwappten diese Diskurse aus dem Internet in die Öffentlichkeit über und wurden auf medialer und politischer Ebene weitergeführt», sagt Aleksandra Gnach.
Über virtuelle «Likes» hinaus
Gnach ist Professorin für Medienlinguistik mit Schwerpunkt Social Media am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft und erforscht seit vielen Jahren Mechanismen der Social-Media-Kommunikation und deren Einfluss auf öffentliche Diskurse. Der Fokus liegt auf Netzwerken und Communitys. «Die Menschen haben sich auf den Social-Media-Plattformen ausgetauscht und dabei ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Es ist nicht nur bei «Likes» geblieben – Personen, die nah beieinander wohnten, taten sich zusammen und organisierten untereinander Einkäufe, Kinderbetreuung oder Fahrten zur Arztpraxis.»
«Die Menschen haben sich auf den Social-Media-Plattformen ausgetauscht und dabei ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt.»
Solche Gruppen – oder Communitys –, die durch Interaktionen auf Social-Media-Plattformen entstehen, sind ganz unterschiedlicher Natur. In den einen versammeln sich wenige Hunderte lokal um ein Hashtag oder ein Thema. Andere bestehen aus mehreren Zehntausenden, welche sich über grosse Distanzen hinweg vernetzen.
Von der Pandemie zum Krieg in der Ukraine
Zu den von Gnach beobachteten Communitys zählen unter anderem die Facebook-Seite «Gärn gschee – Basel hilft» oder die Website «hilf-jetzt.ch». Auf Letzterer haben sich während der Pandemie bis zu 200`000 Freiwillige in über 1200 Gruppen zusammengetan, um selbst organisierte Nachbarschaftshilfe zu initiieren, zu koordinieren und zu unterstützen und so wesentlich zur Krisenbewältigung beizutragen. Nun, da Corona wieder in den Hintergrund gerückt ist, haben die Betreiberinnen und Betreiber der Website das Projekt nicht aufgelöst, sondern es an das Schweizerische Rote Kreuz zur längerfristigen Betreuung übergeben, damit es auch bei zukünftigen Krisensituationen für die zivile Ad-hoc-Hilfe eingesetzt werden kann.
«Von den Mechanismen von Social-Media-Plattformen könnten Unternehmen sehr viel lernen.»
Die Facebook-Seite «Gärn gschee – Basel hilft» hat sich in einem fliessenden Übergang von einer Corona-Hilfe-Community zu einer Gruppe mit Vernetzung, Hilfestellung und Know-how-Austausch zum Thema Ukraine gewandelt. «Die Mitglieder sammeln Dinge, die benötigt werden, tauschen sich zum Thema Unterricht aus oder bieten Hilfestellung und Informationen im Umgang mit ukrainischen Gastfamilien an», so Gnach.
Dabei überwindet die Gruppe die im Namen suggerierte Ortsgrenze Basel bei Weitem: «Das gemeinsame Thema verbindet Gleichgesinnte aus der ganzen Welt. Jede und Jeder kann sich einbringen. Auch Personen aus der Ukraine sind Teil der Community.» Zahlreiche andere Gruppen und Projekte wurden nicht aufgelöst, sondern haben weiterhin einen realen Einfluss.
Lehrreiche Mechanismen für die Praxis
Für die Professorin ist klar: Communitys können sehr viel in der Gesellschaft bewirken und sollten keinesfalls unterschätzt werden. Auch die von vielen verpönten oder belächelten Social-Media-Plattformen wurden durch die Solidaritätsaktionen während der Pandemie teilweise wieder als nützlicher wahrgenommen – viele Userinnen und User mieden sensationslüsterne und politische Inhalte und konzentrierten sich stattdessen auf den Aufbau von Hilfsnetzwerken. «Von den dahinterliegenden Mechanismen könnten Unternehmen sehr viel lernen», sagt Gnach, die im CAS Community Communication zu diesem Thema lehrt.
Während die klassische Social-Media-Kommunikation im Unternehmenskontext vor allem darauf abziele, durch Inhalte Reichweite zu erzielen, gehe es bei Community Communication um den Aufbau und die Pflege langfristiger Beziehungen zu unterschiedlichen Stakeholdern. «Communitys ermöglichen es Unternehmen, mit ihren Zielgruppen auf einer emotionaleren und persönlicheren Ebene zu interagieren. So können sie ein tieferes Verständnis für die Bedürfnisse und Vorlieben der Zielgruppen erlangen und langfristige Beziehungen aufbauen, die sich positiv auf das Sozialkapital auswirken.» Auch für Journalistinnen und Journalisten ist der Wert von Communitys nicht zu unterschätzen: «Ihnen eröffnen sich neue Perspektiven auf Themen und Kontakte über geografische und soziale Grenzen hinaus.»
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